Verwaltungsrecht

PKH-Entscheidung über eine Verlustfeststellung bei einem Serienstraftäter

Aktenzeichen  10 C 20.1132

Datum:
9.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40183
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 5 Abs. 4 S. 1, § 6 Abs. 1, Abs. 2
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
VwGO § 166 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Für den Ablauf der Fünfjahresfrist nach § 5 Abs. 4 S. 1 FreizügG/EU kommt es auf den Zeitpunkt des Erlasses des Feststellungsbescheids an. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Maßgeblich für die Beurteilung Beurteilung der Erfolgsaussichten im PKH-Verfahren ist der Zeitpunkt der sog. Bewilligungsreife. Eine spätere Änderung der Sach- und Rechtslage fließt, wenn das Verwaltungsgericht sie bei seiner Entscheidung über die Klage zu berücksichtigen hat, nur zu Gunsten des Klägers in die Beurteilung der Erfolgsaussichten ein. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 K 17.4051 2020-03-20 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Mit der Beschwerde verfolgt der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, ihm für seine beim Bayerischen Verwaltungsgericht München anhängige Klage (M 9 K 17.4051) Prozesskostenhilfe zu gewähren und ihm seinen Rechtsanwalt beizuordnen. Die Klage richtet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 3. August 2017, mit dem festgestellt wurde, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verloren habe; seine Wiedereinreise und sein Aufenthalt in Deutschland wurden für die Dauer von fünf Jahren untersagt und ihm unter Bestimmung einer Ausreisefrist die Abschiebung angedroht.
Die Beschwerde ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt, weil die Voraussetzungen dafür nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht vorliegen.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V. mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, der gegeben ist, sobald die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und die Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme angehört worden ist. Im vorliegenden Fall ist der maßgebliche Zeitpunkt der 14. September 2017, als die Stellungnahme der Beklagten und die Behördenakten bei Gericht eingingen; die notwendigen Unterlagen des Klägers lagen bereits vor.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, weil die Verlustfeststellung der Beklagten gegenüber dem Kläger gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU wie auch gemäß § 6 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU aller Voraussicht nach rechtmäßig ist.
Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreiügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Freizügigkeit nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn dessen Voraussetzungen innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind; für den Ablauf der Fünfjahresfrist kommt es dabei auf den Zeitpunkt des Erlasses des Feststellungsbescheids (hier: 3. August 2017) an (BayVGH, B.v. 4.12.2019 – 10 ZB 19.2131 – juris Rn. 7 m.w.N.). Dem Verwaltungsgericht ist darin zuzustimmen, dass es keine belastbaren Anhaltspunkte dafür gibt – weder aus dem Inhalt der Behördenakten noch aus den Angaben des Klägers -, dass die Voraussetzungen für die unionsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung des Klägers nach § 2 Abs. 1, Abs. 2 FreizügG/EU noch vorliegen. Es hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Angaben zu seiner Beschäftigung in einer Metzgerei oder sonstige Tätigkeiten, die ihn als Arbeitnehmer (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU) kennzeichnen würden, in keiner Weise belegt sind und im Wesentlichen auf den Angaben zu seiner Person in den Ermittlungs- und Strafverfahren beruhen. Der Kläger habe seit mindestens Anfang 2015 regelmäßig Straftaten begangen, sich seit Mai 2017 mit einer kurzen Unterbrechung in Haft befunden, sei ohne Beschäftigung und Krankenversicherungsschutz sowie erwerbs- und mittellos. Mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel lägen auch die Voraussetzungen für nicht erwerbstätige Freizügigkeitsberechtigte (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU) nicht vor. Diese Feststellungen hat der Kläger weder bis zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Antrags auf Prozesskostenhilfe noch im weiteren Verlauf des Klageverfahrens oder mit der gegenständlichen Beschwerde in Frage gestellt; es fehlen jegliche Belege oder auch nur substantiierte Darlegungen, die die Voraussetzungen einer Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 1, Abs. 2 FreizügG/EU auch nur hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen, um insoweit hinreichende Erfolgsaussichten des Klageverfahrens anzunehmen. Die Verlustfeststellung ist im Übrigen auch – wie das Verwaltungsgericht ausführlich dargelegt hat – ermessensfehlerfrei und verhältnismäßig.
Bestehen somit keine hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage in Bezug auf die Verlustfeststellung gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU, kommt es an sich nicht mehr darauf an, ob die Verlustfeststellung auch nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU voraussichtlich rechtmäßig ist. Ungeachtet dessen ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage auch in dieser Hinsicht keine hinreichenden Erfolgsaussichten hat.
Zwar waren zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Antrags auf Prozesskostenhilfe am 14. September 2017 die Verurteilungen des Klägers durch das Amtsgericht München vom 11. Oktober 2017 und des Landgerichts München I vom 6. Dezember 2019 noch nicht ergangen. Doch bereits die den bis dahin ergangenen Verurteilungen zugrunde liegenden Umstände lassen ein persönliches Verhalten erkennen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt; es liegt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass der Kläger seit seiner Einreise 2015 in einer Vielzahl von Fällen mit enorm hoher Rückfallgeschwindigkeit und mit erheblicher krimineller Energie straffällig geworden ist und im Rahmen der Delikte sowohl seine Missachtung fremden Eigentums wie auch der körperlichen Unversehrtheit anderer zum Ausdruck gebracht hat. Von vorangegangenen Verurteilungen und auch einer Strafaussetzung zur Bewährung (Urteil vom 20. April 2016) habe er sich völlig unbeeindruckt gezeigt. Die Gewalttätigkeit des Klägers gegenüber Dritten und die fortgesetzten Diebstähle (teilweise mit Waffen), um – jedenfalls teilweise – seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, berühren auch ein Grundinteresse der Gesellschaft. Ein Fehler in der Ermessensausübung ist nicht erkennbar; insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Belange wurden ordnungsgemäß abgewogen.
Seit der Entscheidungsreife eingetretene tatsächliche oder rechtliche Entwicklungen, die das Verwaltungsgericht bei der Entscheidung über die Klage zu berücksichtigen haben wird, ergeben keine nunmehr anzunehmenden hinreichenden Erfolgsaussichten. Im Gegenteil wurde die von der Beklagten in dem streitgegenständlichen Bescheid und vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gefahrenprognose, dass eine Neigung des Klägers besteht, sein Verhalten in Zukunft beizubehalten, und somit die konkrete Gefahr einer weiteren Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch die Begehung von Straftaten fortdauert, eindrucksvoll bestätigt; der Kläger wurde noch weitere zwei Male (Urteile vom 11. Oktober 2017 und vom 6. Dezember 2019) wegen Diebstahls- und Gewaltdelikten sowie weiteren Straftaten zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung verurteilt.
Soweit der Kläger zur Begründung der Beschwerde rügt, das Verwaltungsgericht habe über den Antrag auf Prozesskostenhilfe erst nach zweieinhalb Jahren entschieden, verändert dieser Umstand die Beurteilung der Erfolgsaussichten nicht; maßgeblich für diese Beurteilung ist, wie dargelegt, der Zeitpunkt der sog. Bewilligungsreife. Eine spätere Änderung der Sach- und Rechtslage fließt, wenn das Verwaltungsgericht sie bei seiner Entscheidung über die Klage zu berücksichtigen hat, nur zu Gunsten des Klägers in die Beurteilung der Erfolgsaussichten ein. Wenn der Kläger vorträgt, er habe vor Entscheidung über die Prozesskostenhilfe durch die „vorenthaltene“ anwaltliche Vertretung nicht zu den Erfolgsaussichten der Klage vortragen können, verkennt er die Anforderungen an die Gewährung von Prozesskostenhilfe. Prozesskostenhilfe kann nämlich nur gewährt werden, wenn aufgrund einer vorläufigen Beurteilung hinreichende Erfolgsaussichten angenommen werden können (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, dass hinreichende Erfolgsaussichten (erst) erkennbar würden, wenn er – nach der Gewährung der Prozesskostenhilfe – diesbezüglich vortragen würde. Im Übrigen ist auch in der Beschwerdebegründung nichts vorgetragen, was nunmehr einen Erfolg der Klage als hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen würde.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Gebühr anfällt.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben