Verwaltungsrecht

Prozesskostenhilfe, hinreichende Erfolgsaussicht, Beschäftigungserlaubnis, Ermessensfehler

Aktenzeichen  10 C 21.2799

Datum:
4.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 3113
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO i.V.m. § 166 Abs. 1
ZPO § 114 ff.
AsylG § 61 Abs. 1 S. 2 Halbsatz 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

Au 6 K 21.366 2021-10-19 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Dem Kläger wird unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 19. Oktober 2021 für seine Klage (Au 6 K 21.366) Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T. O., U., beigeordnet.

Gründe

Der Kläger verfolgt mit seiner Beschwerde seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Klage weiter. Mit dieser Klage begehrt er die Verpflichtung des Beklagten, ihm eine ausländerrechtliche Beschäftigungserlaubnis zu erteilen.
Der Antragsteller, ein 1994 geborener afghanischer Staatsangehöriger, reiste im April 2016 in das Bundesgebiet ein. Sein Asylantrag wurde mit Bescheid vom 27. April 2017 abgelehnt. Dagegen beschritt der Kläger erfolglos den Rechtsweg; seit dem 5. Februar 2020 war er vollziehbar ausreisepflichtig. Am 9. Oktober 2017, 26. Juni 2018 und 14. Oktober 2019 erteilte der Beklagte dem Kläger Beschäftigungserlaubnisse für Tätigkeiten bei jeweils verschiedenen Arbeitgebern.
Am 24. April 2020 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag, der mit Bescheid vom 29. Juni 2020 als unzulässig abgelehnt wurde. Auch der Antrag auf Abänderung der Entscheidung im Erstbescheid zu Abschiebungsverboten wurde dabei abgelehnt, die Abschiebung wurde erneut angedroht. Mit Beschluss vom 24. Juli 2020 (Au 8 S 20.31043) ordnete das Verwaltungsgericht Augsburg die aufschiebende Wirkung der hiergegen erhobenen Klage an. Über die Klage selbst wurde – soweit ersichtlich – bislang nicht entschieden.
Am 9. Dezember 2020 beantragte der Kläger die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis für eine Beschäftigung als Produktionshelfer bei einer Zeitarbeitsfirma.
Mit Bescheid vom 14. Januar 2021 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis stehe im Ermessen der Ausländerbehörde. Bei der Ermessensentscheidung wirke sich negativ aus, dass die Identität des Klägers noch nicht geklärt sei, weil der Kläger über keinen Pass verfüge. Auch sei nicht absehbar, dass dem Kläger ein Schutzstatus zustehe. Eine Abschiebung sei grundsätzlich möglich. Auch habe der Kläger keine nennenswerten Integrationsleistungen erbracht.
Hiergegen ließ der Kläger Klage erheben. Zugleich wurde die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt.
Mit Beschluss vom 19. Oktober 2021 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Der Kläger habe lediglich einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AsylG. Nichts Anderes folge aus dem Umstand, dass das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung im Asylfolgeverfahren angeordnet habe, da eine Hauptsacheentscheidung hier noch ausstehe. Die Ermessensentscheidung des Beklagten sei nicht zu beanstanden. Eine Ermessensreduktion auf Null komme auch vor dem Hintergrund, dass das Bundesministerium des Innern, Bau und Heimat Abschiebungen nach Afghanistan derzeit ausgesetzt habe, nicht in Betracht. Wie lange die Aussetzung der Abschiebungen andauern werde, sei derzeit nicht absehbar. Eine Entlastung der Sozialsysteme durch die Erteilung der Beschäftigungserlaubnis sei kein so gewichtiger Aspekt, dass nur die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis rechtsfehlerfrei sei. Gegen den im Klageverfahren vom Beklagten ergänzend angeführten Grund, der Kläger sei gesundheitlich eingeschränkt und könne durch die angestrebte Tätigkeit seinen Lebensunterhalt nicht nachhaltig sichern, sei rechtlich ebenfalls nichts zu erinnern.
Hiergegen richtet sich der Kläger mit seiner Beschwerde.
Für den Beklagten hat die Landesanwaltschaft Bayern Stellung genommen. Sie verteidigt den erstinstanzlichen Beschluss und ergänzt, im Klageverfahren komme es weniger auf die Bleibeperspektive des Klägers, sondern vielmehr – vor dem Hintergrund seines im Asylfolgeverfahren geltend gemachten schlechten Gesundheitszustands – auf seine Fähigkeit, die angestrebte Beschäftigung auch auszuüben, an.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten.
II.
Die Beschwerde ist zulässig (§ 146 Abs. 1 VwGO) und begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger Prozesskostenhilfe zu Unrecht versagt.
1. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, der gegeben ist, sobald die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und die Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme angehört worden ist. Tritt nach einem Antrag auf Prozesskostenhilfe eine Änderung der Sach- und Rechtslage zu Gunsten des Antragstellers ein, so ist hinsichtlich der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung nicht – wie sonst – der Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags maßgebend. Vielmehr ist die Änderung der Sach- und Rechtslage zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen, denn für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage und damit auch für den Beurteilungszeitpunkt bleibt einzig und allein das materielle Recht bestimmend (vgl. BayVGH, B.v. 30.10.2018 – 10 C 18.1782 – juris Rn. 5; B.v. 16.10.2017 – 19 C 16.1719 – juris Rn. 8; B.v. 14.5.2013 – 10 C 10.3007 – juris Rn. 6 m.w.N.). Da der Kläger die Verpflichtung des Beklagten erstrebt, ihm eine Beschäftigungserlaubnis zu erteilen, ist daher hier die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Senatsentscheidung maßgeblich.
2. Gemessen daran bietet die Klage hinreichende Erfolgsaussichten.
Dabei kann dahinstehen, ob – wie der Kläger meint – ein Anspruch auf die Erteilung eine Beschäftigungserlaubnis nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AsylG gegebenenfalls auch bestehen kann, wenn der Ausländer nur deswegen nicht im Besitz einer Aufenthaltsgestattung ist, weil das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf seinen Asylfolgeantrag hin zu Unrecht die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt hat. Denn jedenfalls besteht eine hinreichende Erfolgsaussicht insofern, als die Ermessenerwägungen des Beklagten im Bescheid vom 14. Januar 2021 auch unter Berücksichtigung im Klage- und Beschwerdeverfahren nachgeschobener Ermessenserwägungen rechtlich nicht (mehr) haltbar sind (§ 114 Sätze 1 und 2 VwGO).
Bei der Ermessensentscheidung im Rahmen des § 61 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 AsylG müssen Ermessenserwägungen ihre Rechtfertigung im Zweck des Gesetzes und der vom Gesetzgeber gewollten Ordnung der Materie finden, sie müssen asyl- und aufenthaltsrechtlich erheblichen Zwecken dienen. Neben den aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken müssen auch die privaten Belange der Betroffenen und das öffentliche Interesse unter Berücksichtigung einwanderungspolitischer Ziele geprüft, berücksichtigt und abgewogen werden (BVerwG, B.v. 28.12.1990 – 1 B 14/90 – juris Rn. 7 m.w.N. allgemein zu Nebenbestimmungen zu Duldungen).
Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist die Ermessensentscheidung des Beklagten nicht (mehr) ermessensfehlerfrei.
Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass sich die Bleibeperspektive des Klägers mit dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung und der Machtübernahme der Taliban maßgeblich verbessert hat. Inzwischen sprechen zwei Bundesministerien afghanischen Asylbewerbern eine gute Bleibeperspektive zu und treiben deshalb deren Integration voran (vgl. Pressemitteilung des BMI und des BMAS vom 6. Januar 2022, Afghanische Asylbewerber erhalten schnelleren Zugang zu Integrationskursen, abrufbar z.B. unter https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2022/01/ schneller-zugang-zu-integrationskursen.html). Gleichzeitig dürfte es wohl ausgeschlossen sein, dem Kläger nunmehr noch seine Passlosigkeit entgegenzuhalten, da es keine afghanischen Behörden mehr gibt, die dem Kläger einen Pass ausstellen könnten. Dass die nicht abschließend geklärte Identität des Klägers der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nicht zwingend entgegensteht, hat der Beklagte zudem bereits dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er dem Kläger in der Vergangenheit trotz mangelnder Identitätsklärung dreimal Beschäftigungserlaubnisse erteilt hat.
Wenn der Beklagte erstmals im Klageverfahren und insbesondere im Beschwerdeverfahren (Schriftsatz vom 1. Februar 2021) vorträgt, es komme weniger auf die Bleibeperspektive des Klägers an, vielmehr müsse der Gesundheitszustand und damit die grundsätzliche Erwerbsfähigkeit des Klägers bewertet werden, kann der Senat nicht erkennen, welche öffentlichen Interessen er mit dieser Ermessenserwägung verfolgt. Die Prognose über die Möglichkeit eines störungsfreien Austauschs von Leistung und Gegenleistung ist in allererster Linie eine Sache der Arbeitsvertragsparteien. Dass die jeweilige Tätigkeit vom Arbeitnehmer möglicherweise nur kurz und/oder teilweise wahrgenommen werden kann und damit nur zu einer vergleichsweise geringen Entlastung der Sozialsysteme führen könnte, rechtfertigt für sich genommen nicht die Versagung der Beschäftigungserlaubnis, da auch bereits eine geringfügige Entlastung der Sozialsystems grundsätzlich im öffentlichen Interesse liegt. Dass – wie der Beklagte geltend macht – der Kläger im Asylfolgeverfahren angegeben hat, seinen Lebensunterhalt in Afghanistan krankheitsbedingt nicht sichern zu können, ändert hieran zunächst nichts, denn Arbeitsmarkt und Arbeitsbedingungen in Afghanistan lassen sich ganz offensichtlich nicht mit denen in Deutschland vergleichen.
Sind damit derzeit keine durchgreifenden Gründe bzw. Ermessenerwägungen erkennbar, die gegen die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis sprechen, bestehen für die Klage hinreichende Erfolgsaussichten.
3. Die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe liegen beim Kläger, der lediglich Leistungen nach dem AsylbLG bezieht, vor.
4. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Eine Gebühr nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) fällt nicht an, da die Beschwerde in vollem Umfang Erfolg hat. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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