Verwaltungsrecht

Prozesskostenhilfebeschwerde, Wiederaufgreifen von bestandskräftigen und rechtskräftig bestätigten ausländerrechtlichen Überwachungsmaßnahmen

Aktenzeichen  10 C 21.1966

Datum:
16.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 30868
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO i.V.m. § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 56 Abs. 1
BayVwVfG Art. 51 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 i.V.m. Art. 48, 49

 

Leitsatz

Verfahrensgang

Au 1 K 21.970 2021-07-01 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Kläger verfolgt mit seiner Beschwerde seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Klage weiter. Mit dieser Klage begehrt er die Verpflichtung des Beklagten, erneut über die Abänderung einer bestandskräftigen ausländerrechtlichen Meldeauflage und einer Aufenthaltsbeschränkung zu entscheiden.
Der Kläger wurde mit Bescheid des Beklagten vom 28. Oktober 2010 aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Gleichzeitig beschränkte die damals zuständige Ausländerbehörde auf der Grundlage von § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Aufenthalt des Klägers ab Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung auf das Gebiet der Ausländerbehörde (Nr. 6 des Bescheids) und ordnete an, dass sich der Kläger ab Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung täglich bei einer Polizeidienststelle zu melden habe (Nr. 7 des Bescheids). Die sofortige Vollziehung wurde nicht angeordnet. Die hiergegen erhobene Klage wurde mit Berufungsurteil des Senats vom 8. Januar 2020 (10 B 18.2485) abgewiesen, eine Nichtzulassungsbeschwerde (1 B 17.20) beim Bundesverwaltungsgericht blieb erfolglos.
Mit E-Mail vom 20. Juli 2020 beantragte der Kläger die Aufhebung der Meldeverpflichtung sowie der Aufenthaltsbeschränkung, was der Beklagte mit Bescheid vom 5. August 2020 ablehnte. Zur Begründung führte der Beklagte aus, es sei kein Grund erkennbar, von der täglichen Meldepflicht oder von der Aufenthaltsbeschränkung abzuweichen. Die angeordneten Maßnahmen seien weiterhin in vollem Umfang zwingend erforderlich. Der Kläger sei noch immer gefährlich und habe insbesondere noch immer nicht glaubhaft von der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung Abstand genommen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage und beantragte die Gewährung von Prozesskostenhilfe. Mit Beschluss vom 27. November 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Nachdem der Senat der Beschwerde des Klägers mit Beschluss vom 12. Februar 2021 (10 C 20.3061) stattgegeben hatte, nahm der Beklagte den Bescheid vom 5. August 2020 zurück und lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 30. März 2021 erneut ab. Ein Anspruch im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG auf die begehrte Abänderung von Meldeauflage und Aufenthaltsbeschränkung bestehe nicht, da sich seit der Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung keine wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage ergeben habe. Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Art. 51 Abs. 5 i.V.m. Art. 48, 49 BayVwVfG werde im Ermessenswege abgelehnt.
Hiergegen erhob der Kläger Verpflichtungsklage zum Verwaltungsgericht Augsburg und beantragte (sinngemäß),
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 30. März 2021 zu verpflichten, über den Antrag auf Aufhebung der Überwachungsauflagen einschließlich der entsprechenden Zwangsgeldandrohungen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Zugleich wurde für diese Klage die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt.
Mit Beschluss vom 1. Juli 2021 lehnte das Verwaltungsgericht den Prozesskostenhilfeantrag ab. Die Klage habe keinen hinreichenden Erfolgsaussichten. Ein Anspruch im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG auf die begehrte Abänderung von Meldeauflage und Aufenthaltsbeschränkung bestehe nicht, da sich seit der Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung keine wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage ergeben habe. Auch die Ermessenerwägungen des Beklagten, mit denen dieser eine Wideraufgreifen nach Art. 51 Abs. 5 i.V.m. mit Art. 49 VwVfG abgelehnt habe, seien nicht zu beanstanden.
Hiergegen richtet sich der Kläger mit seiner Beschwerde.
Für den Beklagten hat die Landesanwaltschaft Bayern Stellung genommen. Sie verteidigt den erstinstanzlichen Beschluss.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten.
II.
Die zulässige (§ 146 Abs. 1 VwGO) Beschwerde ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger Prozesskostenhilfe zu Recht versagt.
1. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, der gegeben ist, sobald die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und die Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme angehört worden ist, hier also der 21. Juni 2021, an dem die Klageerwiderung des Beklagten beim Verwaltungsgericht einging.
2. Gemessen daran bietet die Klage keine hinreichenden Erfolgsaussichten.
Das Verwaltungsgericht hat zutreffend erkannt, dass der Antrag des Klägers vom 20. Juli 2020 als Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahren nach Art. 51 Abs. 1 BayVwVfG (Wiederaufgreifen im engeren Sinn) und Art. 51 Abs. 5 i.V.m. Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG (Wiederaufgreifen im weiteren Sinn) im Hinblick auf die in Nr. 6, Nr. 7 und Nr. 8 des Bescheids vom 28. Oktober 2010 enthaltenen bestandskräftigen Regelungen zu behandeln war. Der Senat teilt (nach wie vor, vgl. B.v. 12.2.2021 – 10 C 20.3061 – Rn. 13) auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass sich seit dem insoweit maßgeblichen Berufungsurteil des Senats vom 8. Januar 2020 (10 B 18.2485) eine maßgebliche Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten des Klägers im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG nicht ergeben hat. Die Beschwerde verhält sich hierzu auch nicht.
Darüber hinaus ist auch die Ermessenentscheidung des Beklagten nach Art. 51 Abs. 5 i.V.m. Art. 49 VwVfG – entgegen der Auffassung des Klägers – nicht zu beanstanden.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Behörde – auch wenn die in Art. 51 Abs. 1 bis 3 BayVwVfG normierten Voraussetzungen nicht vorliegen – ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen zugunsten des Betroffenen wiederaufgreifen und eine neue – der gerichtlichen Überprüfung zugängliche – Sachentscheidung treffen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne; vgl. hierzu und zum Folgenden BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15/08 – BVerwGE 135, 121 – juris Rn. 24). Diese Möglichkeit des Wiederaufgreifens findet ihre Rechtsgrundlage in Art. 51 Abs. 5 i.V.m. Art. 48 und 49 BayVwVfG. Diese Regelungen ermächtigen die Behörden, ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren im Ermessenswege wiederaufzugreifen. Dabei handelt die Behörde selbst bei einem nachträglich als rechtswidrig erkannten Verwaltungsakt grundsätzlich ermessensfehlerfrei, wenn sie ein Wiederaufgreifen im Hinblick auf die rechtskräftige Bestätigung ihrer Entscheidung in dem früheren Verwaltungsverfahren ablehnt. In diesen Fällen bedarf es regelmäßig keiner weiteren ins Einzelne gehenden Ermessenserwägungen der Behörde. Umstände, die ausnahmsweise eine erneute Sachentscheidung und damit ein Wiederaufgreifen gebieten, müssen in ihrer Bedeutung und ihrem Gewicht mit einem der in § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG geregelten zwingenden Wiederaufgreifensgründe vergleichbar sein. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit verdichtet sich das Ermessen der Behörde zugunsten des Betroffenen, wenn das Festhalten an dem rechtskräftig bestätigten Verwaltungsakt schlechthin unerträglich wäre (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2011 – 5 C 9/11 – juris Rn. 29 m.w.N.). Umgekehrt ist das Festhalten an einem rechtskräftig bestätigten Verwaltungsakt regelmäßig nicht zu beanstanden, wenn – wie hier – nichts dafür ersichtlich ist, dass der Veraltungsakt trotz seiner rechtskräftigen Bestätigung durch ein Gericht rechtswidrig wäre.
Gemessen daran erweist sich die Entscheidung des Beklagten, das Verfahren hinsichtlich der als rechtmäßig bestätigten Überwachungsmaßnahmen einschließlich Zwangsgeldandrohung in Nr. 6, Nr. 7 und Nr. 8 des Bescheids vom 28. Oktober 2010 nicht als ermessenfehlerhaft. Die Auffassung des Klägers, es liege wegen der Zeitspanne, in der der Beklagte die Anordnungen nicht für sofort vollziehbar erklärt hatte, ein Fall vor, der mit einer Verantwortlichkeit der Behörde am Eintritt der Bestandskraft vergleichbar sei, kann der Senat schon im Ansatz nicht nachvollziehen. Dass der Beklagte im Hinblick auf das schwebende Gerichtsverfahren zu Gunsten des Klägers nicht von der denkbaren, aber gleichwohl besonders zu begründenden Möglichkeit einer früheren Vollstreckung der Überwachungsmaßnahmen durch die Anordnung des Sofortvollzugs Gebrauch gemacht hat, ist kein Umstand, dem bei der Ermessenentscheidung über ein Wiederaufgreifen entscheidungserhebliches Gewicht zukäme.
Soweit der Kläger – insbesondere auch mit dem nachgereichten Schriftsatz vom 30. August 2021 – sinngemäß geltend macht, von ihm gehe keine oder nur eine ganz geringfügige Gefahr (mehr) aus, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Kontakte des Klägers zur salafistischen Szene bis in das Jahr 2019 hinein waren Gegenstand des Verfahrens über die Ausweisung (Behördenzeugnis vom 20.9.2019) und wurden vom Senat im Urteil vom 8. Januar 2020 bereits berücksichtigt (vgl. Rn. 42 des UA). Dass vom Kläger eine entsprechende Gefahr im Sinne von § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ausgeht, hat der Senat für den Zeitpunkt des Urteils rechtskräftig entschieden, sodass der Beklagte seiner Ermessensentscheidung diese Einschätzung ohne Weiteres zu Grunde legen durfte. Ob und in welcher Form zusätzlich noch die nunmehr vom Beklagten geschilderten Kontakte zur salafistischen Szene im Jahr 2015 stattgefunden haben, ist vor diesem Hintergrund nicht entscheidungserheblich. Insofern wird es – entgegen der Auffassung des Klägers – auch keiner weiteren Beweiserhebung mit offenem Ausgang im Klageverfahren bedürfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung für die Beschwerde im Prozesskostenhilfeverfahren bedarf es nicht, weil die nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) anfallende Gebühr streitwertunabhängig ist.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben