Verwaltungsrecht

Räumliche Beschränkung des Aufenthalts eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers

Aktenzeichen  M 24 K 20.1853

Datum:
20.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29639
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 48 Abs. 3 S. 1, § 50 Abs. 1, § 59 Abs. 2 S. 2, § 61 Abs. 2c S. 2
AsylG § 71 Abs. 5, § 75 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Die dem Ausländer obliegende gesetzliche Pflicht zur Mitwirkung bei der Passbeschaffung nach § 48 Abs. 3 AufenthG wird nicht dadurch erfüllt, dass er Aufklärungsversuche der Ausländerbehörde nicht behindert u. gewissermaßen „über sich ergehen lässt“. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Einer Verwirklichung des Anordnungstatbestands nach § 61 Abs. 1c S. 2 AufenthG steht nicht entgegen, dass ein Ausländer nicht nur wegen fehlender Dokumente, sondern auch aus anderen Gründen nicht abgeschoben werden kann. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. Oktober 2020 entschieden werden, obwohl für die Beklagtenpartei niemand erschienen ist. Das Landratsamt wurde Form- und fristgerecht geladen und in der Ladung darauf hingewiesen, dass auch bei Ausbleiben eines Beteiligten ohne diesen verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Der Bescheid des Landratsamts vom 30. März 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Nach § 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG soll eine räumliche Beschränkung des Aufenthalts eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers auf den Bezirk der Ausländerbehörde u.a. dann angeordnet werden, wenn der Ausländer zumutbare Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen nicht erfüllt (§ 61 Abs. 1c Satz 2 Alt. 2 AufenthG). Mit dieser Bestimmung sollen Ausländer, die über ihre Identität täuschen oder die bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten nicht ausreichend mitwirken, enger an den Bezirk der Ausländerbehörde gebunden werden, um ggf. sicherzustellen, dass sie für etwaige erforderliche Mitwirkungshandlungen – wie Vorführungen zur Botschaft des Herkunftslandes – leichter erreichbar sind und um ein mögliches Untertauchen zu erschweren (BT-Drs. 18/11546, S. 22).
a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine räumliche Beschränkung des Aufenthalts des Klägers liegen vor.
Der Kläger ist aufgrund des bestandskräftigen Bescheids des Bundesamts vom 2. April 2019 seit der Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das Verwaltungsgericht vollziehbar ausreisepflichtig (§ 59 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 50 Abs. 1 AufenthG). Da die anhängige Klage gegen die Ablehnung des Folgeantrags keine aufschiebende Wirkung entfaltet, besteht die vollziehbare Ausreisepflicht fort (§§ 71 Abs. 5, 75 Abs. 1 AsylG).
Auch hat der Kläger die an ihn gestellten Anforderungen zur Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen, vorliegend des fehlenden Passes oder Passersatzpapiers, nicht erfüllt. Da er keinen Pass oder Passersatz besitzt, ist er nach § 48 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 AufenthG verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken. Diese Mitwirkungspflicht besteht ohne spezielle Aufforderung durch die Behörden. Deshalb hat ein ausreisepflichtiger Ausländer alle zur Erfüllung seiner Ausreisepflicht erforderlichen Maßnahmen, und damit auch die zur Klärung seiner Identität und zur Beschaffung eines gültigen Passes oder Passersatzpapiers, grundsätzlich ohne besondere Aufforderung durch die Ausländerbehörde unverzüglich einzuleiten (vgl. BeckOK AuslR/Hörich, 21. Ed. 1.11.2017, AufenthG § 48 Rn. 36 mit Verweis auf OVG Saarl BeckRS 2010, 48090; zur Reichweite dieser Verpflichtung VG Aachen BeckRS 2013, 57294). Der Ausländer soll aber gem. § 82 Abs. 3 AufenthG auf seine Pflichten nach § 48 Abs. 3 Satz 1 hingewiesen werden. Die dem Ausländer obliegende gesetzliche Pflicht zur Mitwirkung bei der Passbeschaffung nach § 48 Abs. 3 AufenthG wird nicht dadurch erfüllt, dass er Aufklärungsversuche der Ausländerbehörde nicht behindert u. gewissermaßen „über sich ergehen lässt“. Aus der Vorschrift ergibt sich i.V.m § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dass der Ausländer vielmehr für den Vollzug des Ausländerrechts notwendige Unterlagen „beizubringen“ hat. Bei der Mitwirkung an der Beschaffung eines Rückreisedokuments handelt es sich nicht um separierbare Einzelpflichten, sondern um ein durch §§ 82 Abs. 4, 48 Abs. 3 u. 49 Abs. 2 AufenthG vorgegebenes Pflichtenbündel zur Erlangung von Rückreisedokumenten für einen ausreisepflichtigen Ausländer. Dabei kann der Ausländer sich nicht allein auf die Erfüllung derjenigen Pflichten, die ihm konkret von der Ausländerbehörde vorgegeben werden, beschränken, sondern ist vielmehr angehalten, eigenständig die Initiative zu ergreifen u. die erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten, um das bestehende Ausreisehindernis nach seinen Möglichkeiten zu beseitigen (vgl. Bergmann/Dienelt/Winkelmann, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 48 Rn. 6).
Dies zugrunde gelegt hat der Kläger die ihm zumutbaren Anforderungen zur Erlangung eines Identitätspapiers nicht erfüllt. Weder der vorgelegten Behördenakte noch den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung lässt sich entnehmen, dass sich der Kläger um die Ausstellung eines Nationalpasses oder sonstigen Heimreisepapiers oder um die Beschaffung der hierfür erforderlichen Dokumente, wie beispielsweise des seinen Angaben zufolge noch in Nigeria befindlichen Originals der Geburtsurkunde, bemüht hätte, um das bestehende Ausreisehindernis der Passlosigkeit zu beseitigen. Der Kläger war vom Landratsamt mehrfach auf seine bestehenden Pflichten und die von ihm zu veranlassenden Schritte hingewiesen worden.
Die Beschaffung eines Passes oder Passersatzpapiers bzw. der hierfür erforderlichen Urkunden zur Identitätsklärung war und ist dem Kläger auch zumutbar. Zum einen ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, weswegen der Kläger, der 24 Jahre seines Lebens in Nigeria verbracht hat, nicht über Verwandte, Bekannte oder über sonstige Dritte wie einen Anwalt an Identitätsdokumente gelangen können sollte. Zum anderen wurde nichts dafür vorgetragen, dass der Kläger im Zeitraum zwischen der 1. Aufforderung zur Passbeschaffung im August 2019 und der Schließung der nigerianischen Botschaft im März 2020 einen Versuch zur Passbeantragung unternommen hätte oder weshalb ihm dies nicht möglich war. Dieses Versäumnis über mehrere Monate hinweg muss derzeit weiterhin als kausal für die derzeitige Passlosigkeit angesehen werden, weil es noch fortwirkt und weil der Klägerwie bereits ausgeführt-auch bis zur Entscheidung des Gerichts keine anderweitigen Mitwirkungsmaßnahmen zur Klärung seiner Identität wie die Beschaffung von Urkunden über Dritte nachgewiesen hat. Mit der Tatsache, dass es seit August 2020 zwar grundsätzlich nunmehr wieder möglich ist, einen Termin zur Passbeantragung bei der Botschaft zu vereinbaren, diese Termine wegen des Corona bedingten Rückstaus jedoch derzeit sehr schwer zu bekommen sind, hat sich ein Risiko verwirklicht, dass zumindest teilweise durch die Untätigkeit des Klägers in der Vergangenheit mit verursacht wurde.
b) Der Verwirklichung des Anordnungstatbestands steht weiter nicht entgegen, dass der Kläger derzeit nicht nur wegen fehlender Dokumente, sondern auch aus einem anderen Grund nicht abgeschoben werden kann, nämlich, weil das Asylerstverfahren seiner Kinder noch nicht abgeschlossen ist. Die zweite Alternative des § 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG stellt nach ihrem Wortlaut auf „zumutbare Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen“ ab. Damit hat sie von vornherein nur Ausreisehindernisse im Blick, deren Beseitigung einer Mitwirkung zugänglich ist, nicht aber solche, die unabhängig vom Verhalten des Betroffenen bestehen. Zudem verdeutlicht die Verwendung des Plurals „Ausreisehindernisse“, dass – anders etwa als bei § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG (vgl. hierzu etwa OVG Nieders., B.v. 15.5.2018 – 8 ME 23/18 – juris) – keine Kausalität der mangelnden Mitwirkung für alle etwa bestehenden Ausreisehindernisse gefordert wird. Vielmehr bleibt der Betroffene im Fall mehrfacher Hindernisse gehalten, solche, die er durch seine Mitwirkung beseitigen kann, auch zu beseitigen (VG Stuttgart, U.v. 20.8.2019 – 2 K 8316/18 – juris Rn. 34). Auch ist im Rahmen des § 61 Absatz 1c Satz 2 2. Alt. AufenthG – anders als bei § 61 Abs. 1c Satz 1 Nr. 3 AufenthG – nicht erforderlich, dass bereits konkrete Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung bevorstehen.
2. Gerichtlich überprüfbare Ermessensfehler bei der Anordnung der räumlichen Beschränkung lassen sich nicht erkennen (§ 114 Satz 1 VwGO, § 40 BayVwVfG). Nach dem Wortlaut der Vorschrift soll eine räumliche Beschränkung des Aufenthalts auf den Bezirk der Ausländerbehörde angeordnet werden. Die gesetzliche Formulierung als Sollvorschrift macht deutlich, dass die Ausländerbehörde im Regelfall zum Erlass einer räumlichen Beschränkung verpflichtet ist, sofern nicht ein besonderer Grund oder besondere atypische Umstände ein Abweichen vom Regelermessen erfordern. Ein atypischer Fall liegt vor, wenn die Besonderheiten des Einzelfalls und/oder höherrangiges Recht ein Abweichen nahelegen.
Solche atypischen Umstände oder ein besonderer Grund liegen nicht vor. Der Umstand, dass sich die Frau und die Kinder des Klägers noch im Asylverfahren befinden, stellt keinen besonderen Grund dar, der es erfordert, von der Anordnung einer räumlichen Beschränkung Abstand zu nehmen. Die Frau und die Kinder des Klägers verfügen gerade nicht über ein gesichertes Bleiberecht, sondern der Ausgang ihrer Asylverfahren ist offen und der Kläger ist vollziehbar ausreisepflichtig. Das Landratsamt muss daher seinen Entscheidungen über zu treffende Maßnahmen derzeit die konkrete und realistische Möglichkeit zugrunde legen, dass eine Ausreise oder Abschiebung nach Abschluss der Asylverfahren der Familienangehörigen stattfinden wird. Da die Beseitigung von Ausreisehindernissen erfahrungsgemäß geraume Zeit in Anspruch nehmen kann, ist es bereits jetzt gerechtfertigt, aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Klägers eine räumliche Beschränkung anzuordnen.
Auch die therapiebedürftige psychische Erkrankung der Ehefrau des Klägers erfordert bzw. rechtfertigt es nicht, von der räumlichen Beschränkung Abstand zu nehmen. Dem Erfordernis, die Ehefrau gemeinsam mit den Kindern zu den Therapiesitzungen zu begleiten, kann durch die Erteilung von Verlassenserlaubnissen gemäß § 12 Abs. 5 Satz 1 AufenthG Rechnung getragen werden. Es ist davon auszugehen, dass für die genannten Behandlungstermine ein Anspruch gemäß § 12 Abs. 5 S. 2 AufenthG besteht.
Diese Verlassenserlaubnisse können für sämtliche bereits bekannte Termine unter Vorlage der Terminbestätigungen gebündelt beantragt werden. Dass die Termine derart kurzfristig anberaumt werden bzw. kurzfristige Behandlungstermine erforderlich werden, so dass eine vorherige Beantragung der erforderlichen Verlassenserlaubnisse zeitlich nicht möglich wäre, ist nicht dargetan.
Der Beklagte hat daher zu Recht vom Regelermessen Gebrauch gemacht und eine räumliche Beschränkung angeordnet.
3. schließlich führt das Unterbleiben der nach Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG erforderlichen Anhörung vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids im vorliegenden Fall gemäß Art. 46 BayVwVfG nicht zu dessen Aufhebung.
Entgegen der Ansicht des Landratsamts war die vorherige Anhörung nicht nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayVwVfG entbehrlich, da die Annahme des Landratsamts, eine sofortige Entscheidung sei vorliegend im öffentlichen Interesse notwendig gewesen, offensichtlich nicht zutrifft. Eine Heilung nach Art. 45 Abs. 1 Nummer 3, Abs. 2 BayVwVfG ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ebenfalls nicht erfolgt. Nicht ausreichend hierfür sind bloße Stellungnahmen von Beteiligten im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens (BVerwG, U.v. 24.6.2010 – 3 C 14/09, NVwZ 2011, 115). Das Landratsamt hat an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen, so das nicht ersichtlich ist, dass während des gerichtlichen Verfahrens eine Kommunikation zwischen den Beteiligten stattgefunden oder das Landratsamt die Entscheidung aufgrund einer Äußerung des Klägers nochmals überdacht hätte.
Vorliegend kann aber mit der erforderlichen Offensichtlichkeit festgestellt werden, dass das Unterbleiben der vorherigen Anhörung die Entscheidung des Landratsamts in der Sache nicht beeinflusst hat (Art. 46 BayVwVfG). Wie bereits ausgeführt handelt es sich bei der Entscheidung nach § 61 Abs. 1c Satz 2 AufenthG um einen Fall des intendierten Ermessens, so das nur besondere Gründe ein Absehen von der räumlichen Beschränkung rechtfertigen. Der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemachte Umstand, dass sich die Frau und die Kinder des Klägers noch im Asylverfahren befinden, sowie die psychische Erkrankung der Ehefrau und der damit einhergehende Betreuungsbedarf der Kinder waren dem Landratsamt ausweislich der Akten bei der Entscheidung bekannt (zu ersterem vgl. das Schreiben des Landratsamts an das Gericht vom 16.6.2020; zu letzterem vgl. insbesondere die in der Behördenakte befindliche E-Mail des Jugendamts vom 18. März 2020, der eine Bestätigung der …- … Klinik über den stationären Aufenthalt der Ehefrau beigefügt war). Die Notwendigkeit der Begleitung der Ehefrau zu den Therapiesitzungen ergab sich erst nach Erlass des Bescheids, so dass eine Berücksichtigung bei der Entscheidung von vornherein nicht möglich war.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff ZPO.


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