Verwaltungsrecht

Rechtmäßige Ausweisung nach Straftat – Trunkenheit im Verkehr, Nötigung, Bedrohung

Aktenzeichen  M 10 K 16.4655

Datum:
6.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 121306
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53, § 54, § 55

 

Leitsatz

1. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. § 53 Abs. 3 AufenthG billigt nur denjenigen Ausländern einen gesicherten Status zu, der das entsprechende Daueraufenthaltsrecht von der Bundesrepublik Deutschland erhalten hat. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der Bescheid vom 12. September 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die unter Ziffer 1 des Bescheids vom 12. September 2016 ausgesprochene Ausweisung ist rechtmäßig.
Nach § 53 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (dazu unter a.), ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (dazu unter b.).
a. Vom Kläger geht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die freiheitliche demokratische Grundordnung aus, § 53 Abs. 1 AufenthG. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C-21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U. v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben geht das Gericht davon aus, dass vom Kläger eine entsprechende Wiederholungsgefahr ausgeht und sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht. Der Kläger hat erhebliche Straftaten begangen, die sich auch gegen das besonders schützenswerte Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit gerichtet haben. Die vom Kläger begangene Trunkenheitsfahrt legt eine Gleichgültigkeit nicht nur gegenüber der Rechtsordnung, sondern auch gegenüber der Unversehrtheit anderer Verkehrsteilnehmer nahe. Mit großer Brutalität ging er gegenüber seiner ehemaligen Lebensgefährtin vor und verletzte diese am Kopf. Von der Öffentlichkeit und der Anwesenheit anderer Personen und damit von der sicheren Anzeige und Verfolgung durch die Behörden ließ er sich nicht abschrecken. Eine solche Eskalation des Klägers legt die von der Beklagten gezogene Schlussfolgerung nahe, der Kläger habe sich nicht unter Kontrolle, wenn er wütend ist. Eine solche Situation kann auch unabhängig von der Trennung des Tatopfers erneut erfolgen, da andere emotional belastende Situationen denkbar sind, in denen der Kläger die Rechtsordnung nicht mehr akzeptiert. Der erhebliche Grad der Alkoholisierung bei den Straftaten und die vom Klägerbevollmächtigten vorgetragene Abstinenz des Klägers seit den Taten vermag daran nichts zu ändern. Der Kläger ist mit der Abkehr vom Alkohol einen großen Schritt in die richtige Richtung gegangen. Es kann jedoch noch nicht von einem dauerhaften Erfolg gesprochen werden. Insbesondere hat der Kläger keine therapeutische Unterstützung oder Einbindung. Eine Rückfallwahrscheinlichkeit bleibt bestehen. Zudem sieht das Gericht es nicht als erwiesen an, dass die Straftaten allein auf der Alkoholisierung beruhten. Es ist auch zu berücksichtigen, dass eine der Taten etwa eine Woche nach den anderen begangen wurde und somit unabhängig von der nachgewiesenen Trunkenheit.
b. Die Beklagte hat das Ausweisungsinteresse mit dem Bleibeinteresse des Klägers rechtmäßig gegeneinander abgewogen.
aa. Die besonderen Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 AufenthG müssen nicht vorliegen, obwohl der Kläger über eine italienische Daueraufenthaltskarte EU verfügt. Denn die Norm billigt nur denjenigen Ausländern einen gesicherten Status zu, der das entsprechende Daueraufenthaltsrecht von der Bundesrepublik Deutschland erhalten hat (vgl. VG Darmstadt, B.v. 14.11.2013 – 5 L 604/13.DA).
bb. Es liegt das normierte Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, welches nach der gesetzlichen Einordnung schwer wiegt. Der Kläger hat nicht nur eine vereinzelte Straftat begangen, welche zudem als teilweise vorsätzliche Delikte und in ihrer konkreten Tatausführung nicht geringfügig waren.
Der Kläger hat kein in § 55 AufenthG genanntes Bleibeinteresse. Die Beklagte hat zu Recht und entgegen dem Vorbringen des Klägerbevollmächtigten die Arbeitsstelle des Klägers berücksichtigt. Dem Kläger ist durch die Arbeitsstelle und seine Wohnung eine gewisse Integration gelungen, familiäre und soziale Anbindung, sprachliche Fertigkeiten und längere Aufenthaltsdauer fehlen ihm jedoch.
Die Beklagte hat die Abwägung rechtmäßig vorgenommen. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das geringere Bleibeinteresse des Klägers, welches sich vor allem im wirtschaftlichen Interesse an einer Arbeitsstelle in Deutschland erschöpft.
2. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ziffern 2 und 3 des angefochtenen Bescheids rechtmäßig.
Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG in Ziff. 2 des Bescheids auf drei Jahre ist verhältnismäßig.
Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Ziff. 3 des Bescheids) sind ebenfalls rechtmäßig im Sinne des § 59 AufenthG. Der Kläger ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig; durch die Ausweisung ist sein Aufenthaltstitel erloschen (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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