Verwaltungsrecht

Rechtmäßigkeit der Ausweisung wegen sexuellem Missbrauch von Kindern – Erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung

Aktenzeichen  10 ZB 16.1407

Datum:
17.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 53465
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54, § 55
EMRK Art. 8
GG Art. 6

 

Leitsatz

1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bestehen nur dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Der bloße Hinweis auf ein beim Kläger angeblich fehlendes besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse genügt diesen Anforderungen nicht.  (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein behaupteter Verfahrensmangel muss zum einen bereits in erster Instanz gerügt worden sein, zum anderen muss dargelegt werden, warum die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf dem behaupteten Verfahrensmangel beruht. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

12 K 16.649 2016-04-21 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,– Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 14. Januar 2016 mit der darin u. a. verfügten Ausweisung sowie auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis weiterverfolgt, ist jedenfalls unbegründet.
Dahinstehen kann, ob der Kläger mit dem innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist eingegangenen Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 29. August 2016, der zur Begründung des Antrags auf die „Ausführungen und Beweisangebote“ im parallelen Beschwerdeverfahren des Klägers (10 CS 16.1406; dort Schriftsatz vom 28.7.2016) verweist, seiner Darlegungspflicht gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügt (1.). Denn aus seinem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allenfalls unterliegenden Vorbringen ergeben sich weder die (wohl) sinngemäß geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch ein Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (2.).
1. Nicht entschieden werden muss, ob – wie die Beklagte in ihrer Antragserwiderung geltend macht – die bloße Bezugnahme auf den zur Begründung des vom Kläger parallel geführten Beschwerdeverfahrens (vorläufiges Rechtsschutzverfahren; 10 CS 16.1406) eingereichten Schriftsatz vom 28. Juli 2016 schon nicht den Darlegungsanforderungen im Zulassungsverfahren gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügt (vgl. dazu OVG Berlin-Bbg, B. v. 9.3.2009 – OVG 12 N 5.09 – juris). Dahinstehen kann weiter, ob – eine in diesem Sinne zulässige Bezugnahme unterstellt – die Ausführungen in der Beschwerdebegründung vom 28. Juli 2016, die wiederum im Wesentlichen in einer bloßen Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens bestehen, selbst die Mindestanforderungen an die Darlegung der Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), erfüllen (vgl. dazu Roth in Beck‘scher Online-Kommentar VwGO, Posser/Wolff, Stand: 1.7.2016, § 124a Rn. 64 ff. und 69 m. w. N.; BVerfG, B. v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris).
2. Denn selbst unter Berücksichtigung der Ausführungen der (Beschwerde-)Begründung vom 28. Juli 2016 ergeben sich nicht die (wohl) sinngemäß geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B. v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B. v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B. v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
2.1. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die angefochtene Ausweisungsentscheidung der Beklagten nach § 53 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit §§ 54, 55 AufenthG und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtmäßig ist, weil im Fall des Klägers das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse auch mit Blick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK überwiege. Vom Kläger, der mit Urteil des Amtsgerichts M. vom 18. September 2015 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt worden sei, gehe zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch die Begehung weiterer Sexualdelikte an Kindern aus. Der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch sei eine wichtige Aufgabe und ein Grundinteresse der Gesellschaft. Bei den betroffenen Schutzgütern der sexuellen Selbstbestimmung, der Würde des Opfers und seiner körperlichen und seelischen Integrität handle es sich um Rechtsgüter von sehr hohem Rang. Unter Berücksichtigung der vom Kläger bei seinen Taten gezeigten kriminellen Energie und des durch sexuellen Missbrauch verursachten großen Schadens sei die erforderliche Wiederholungsgefahr beim Kläger anzunehmen. Auch das Amtsgericht sei in seinem Urteil von schädlichen Neigungen des Klägers ausgegangen. Der Kläger, der als Kind selbst Missbrauchsopfer geworden sei, stehe zwar zu seinen Taten und sei bereit, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Er versuche, die Taten nunmehr in der Haft aufzuarbeiten und arbeite engagiert im Rahmen des sozialtherapeutischen Behandlungsprogramms mit. Auch werde er als vorbildlicher Gefangener in der Haft beschrieben. Die noch mindestens bis August 2017 dauernden Therapien seien jedoch noch nicht abgeschlossen. Trotz aktuell guter Prognose sei ein erfolgreicher Abschluss der Therapien beim Kläger derzeit nicht absehbar. Der Kläger könne nach vorliegenden Therapieberichten seine Taten noch nicht einmal ganz begreifen und benötige Hilfe. Von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr könne daher derzeit noch nicht die Rede sein. Daran ändere auch nichts, dass sich der Kläger erstmals in Haft befinde und seine Taten selbst bei der Polizei angezeigt habe, wobei jedoch die Selbstanzeige nur auf Druck der Mutter der Geschädigten erfolgt sei.
Dazu macht der Kläger unter Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens und ausführlicher Darstellung seiner bisherigen positiven Integrationsleistungen geltend, er habe seine Straftaten selbst zur Anzeige gebracht und sich einsichtig gezeigt, seine Sozialprognose sei äußerst positiv und er unterziehe sich in der Justizvollzugsanstalt weiterer Therapiemaßnahmen, mit deren erfolgreichen Abschluss zu rechnen sei, weshalb von ihm keine Gefahr einer Wiederholung dieser Straftaten ausgehe. Damit hat er aber keine Umstände aufgezeigt, die ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils begründen könnten. Denn das Verwaltungsgericht hat diese Umstände bei seiner Gefahrenprognose gesehen und angemessen gewürdigt. Es ist gleichwohl auf der Grundlage des hier anwendbaren differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs (st. Rspr., vgl. z. B. BVerwG, U. v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 16; BayVGH, U. v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – juris Rn. 30) unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Umstände der Begehung der Straftaten durch den Kläger („vielfache sexuelle Übergriffe“ bei „niedriger Hemmschwelle und erheblicher krimineller Energie“), des hohen Rangs der bei Sexualdelikten an Kindern betroffenen Schutzgüter („Grundinteresse der Gesellschaft“) sowie der Persönlichkeit des Klägers und seiner Entwicklung bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt, zu Recht zu der Prognose gelangt, dass trotz der positiven Entwicklung während seiner Inhaftierung und des bisherigen Verlaufs seiner Therapiebemühungen noch eine konkrete Rückfallgefahr bestehe, weil von einer dringend erforderlichen therapeutischen Aufarbeitung der Straftaten und einem erfolgreichen Abschluss der Therapie (derzeit) nicht die Rede sein könne. Auch die Tatsache, dass der Kläger erstmals eine längere Haftstrafe verbüßt, spricht nach alledem nicht gegen das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr. Der Kläger geht im Übrigen in seiner Beschwerdebegründung – offensichtlich unter Verkennung des maßgeblichen Zeitpunkts – selbst davon aus, dass (erst) „nach Abschluss der Therapie nach verbüßter Haftstrafe“ von ihm „keine weitergehenden Straftaten zu erwarten“ seien. Demzufolge gehen auch seine diesbezüglichen Beweisangebote – Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens und Einvernahme des Sozialpädagogen M.M. zur Sozialprognose und Wiederholungsgefahr – ins Leere.
2.2. Bei der bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vorzunehmenden Interessenabwägung ist das Verwaltungsgericht weiter davon ausgegangen, dass einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kein (besonders) schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG entgegenstehe. Nach der gleichwohl durchzuführenden Gesamtabwägung der gegenläufigen Interessen überwiege das Interesse an der Ausweisung des Klägers; nichts anderes ergebe sich unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Trotz der guten Integrationsleistungen des Klägers in der Vergangenheit komme ihm nicht der Status eines faktischen Inländers zu, weil er nicht in Deutschland geboren sei und einen Großteil seiner Kindheit und etwa die Hälfte seines Lebens in Myanmar verbracht habe. Dort sei er zuletzt 2014 im Rahmen eines Urlaubs mit seiner Mutter gewesen. Es sei davon auszugehen, dass sich der Kläger von seinem Heimatstaat noch nicht völlig entfremdet habe und dorthin – wenn auch lose – Bindungen aufrechterhalte. Es sei dem Kläger möglich und zuzumuten, seine – wie er selbst vortrage – unzureichenden Sprachkenntnisse aufzufrischen. Der junge, gesunde sowie lernfähige Kläger werde sich in seinem Heimatland gegebenenfalls auch ohne Kontaktpersonen in seiner Verwandtschaft oder Bekanntschaft zurechtfinden und dort eine neue Existenz aufbauen können. Der Kläger sei volljährig und auch nicht mehr auf den Beistand seiner im Bundesgebiet lebenden Mutter angewiesen. Zum Zeitpunkt der regulären Haftentlassung werde er bereits 24 Jahre alt sein. Unter Berücksichtigung dieser Umstände und der Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten sowie der erheblichen Wiederholungsgefahr falle die erforderliche Gesamtabwägung zu seinen Lasten aus.
Demgegenüber verweist der Kläger unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vortrags lediglich erneut auf seine „Verwurzelung“ und bisherige erfolgreiche Integration im Bundesgebiet, seinen für die Zeit nach der Haftentlassung bestehenden familiären Empfangsraum (Mutter), seinen fehlenden Bezug zur Heimat (Myanmar) und die nur noch rudimentär vorhandenen Sprachkenntnisse sowie die Probleme, dort seinen Lebensunterhalt angemessen zu sichern. Eine hinreichend konkrete Auseinandersetzung mit der sämtliche dieser Umstände berücksichtigenden Interessenabwägung des Erstgerichts findet jedoch nicht statt. Der bloße Hinweis auf ein beim Kläger angeblich fehlendes besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse genügt nicht ansatzweise, die eingehende, umfassende und auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK rechtlich nicht zu beanstandende erstinstanzliche Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ernstlich infrage zu stellen.
2.3. Einen etwaigen Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO hat der Kläger nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt.
Soweit er in der Sache (wohl) beanstandet, das Erstgericht hätte den Sozialpädagogen M.M. zu Sozialprognose des Klägers als Zeugen vernehmen und ein Sachverständigengutachten zur Wiederholungsgefahr einholen müssen, ist eine Verletzung der Aufklärungspflicht aus § 86 Abs. 1 VwGO nicht dargetan. Insoweit hätte der Kläger die diesen Mangel vermeintlich begründenden Tatsachen und seine rechtliche Würdigung substantiiert und schlüssig darlegen und ferner aufzeigen müssen, dass der behauptete Verfahrensmangel bereits in erster Instanz gerügt worden ist (st. Rspr., vgl. z. B. BayVGH, B. v. 22.8.2016 – 10 ZB 16.804 – juris Rn. 5 m. w. N.). Schon daran fehlt es hier. Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht haben der Kläger und sein Bevollmächtigter im Übrigen entsprechende Beweisanträge nicht gestellt. Überdies fehlt jegliche Darlegung, warum die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf diesen Aufklärungsmangel beruhen könne.
2.4. Einwände gegen die Abweisung seiner Klage im Übrigen – das ist bezüglich der begehrten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, Befristungsentscheidung und der Abschiebungsandrohung – werden vom Kläger nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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