Verwaltungsrecht

Rückkehrprognose eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union international schutzberechtigten Familienmitglieds

Aktenzeichen  Au 4 K 20.31273

Datum:
23.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 21984
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwVfG § 51 Abs. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 71 Abs. 1 S. 1
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Zur Rückkehrprognose eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union international schutzberechtigten Familienmitglieds, zu dem die übrigen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union international schutzberechtigten Familienmitglieder keinen Bezug haben, wenn der Familienverband erst in der Bundesrepublik Deutschland begründet wurde. (Rn. 26)
1. Wurde der Familienverband erst in Deutschland begründet, ist für die Prognose, ob dem einen Elternteil bei einer Rückkehr nach Italien eine gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht, trotz einer im Bundesgebiet gelebten Kernfamilie nicht die Situation einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen, sondern es ist von einer alleinigen Rückkehr dieses Elternteils nach Italien ohne Familienmitglieder auszugehen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aufgrund der Anerkennung als Schutzberechtigter in Italien scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Deutschland aus, § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Weder die Eheschließung in Deutschland und noch die Geburt gemeinsamer Kinder führen zu einer Änderung der Sach- und Rechtslage. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheids vom 20. August 2020 noch auf Feststellung von Abschiebungsverboten hinsichtlich Italien. Der dies ablehnende Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens liegen nicht vor. Zur Begründung wird Bezug genommen auf die Ausführungen des Bundesamts im streitgegenständlichen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist im Fall der Stellung eines erneuten Asylantrags nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags (Folgeantrag) ein weiteres Asylverfahren nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Diese Vorschrift verlangt, dass sich die der Erstentscheidung zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Asylbewerbers geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Der Asylfolgeantrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf geltend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Der Antrag muss binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat (§ 51 Abs. 3 VwVfG).
Bereits in dem Folgeantrag hat der Ausländer gemäß § 71 Abs. 3 Satz 1 AsylG seine Anschrift sowie die Tatsachen und Beweismittel substantiiert anzugeben, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergibt. Den Asylfolgeantragsteller trifft insoweit die Darlegungspflicht.
2. Vorliegend führt die Klägerin als Änderung des tatsächlichen Sachverhalts die standesamtliche Heirat mit einem in der Bundesrepublik Deutschland als subsidiär schutzberechtigt anerkannten syrischen Staatsangehörigen sowie die Geburt zweier Kinder, ebenfalls syrischer Staatsangehörigkeit und subsidiär schutzberechtigt, an. Dies verhilft der Klage allerdings nicht zum Erfolg.
Zunächst ist die Beklagte entgegen der Darstellung der Klägerbevollmächtigten im angegriffenen Bescheid insofern nicht von einem falschen Sachverhalt ausgegangen, weil sie die Heirat und die Geburt des (ersten) gemeinsamen Kindes bei ihrer Entscheidung berücksichtigt hat. Sie hat weiter ebenfalls eingestellt, dass die Klägerin seinerzeit (erneut) schwanger war (s. Seite 4 des Bescheids: „… die schwangere Antragstellerin … mit ihrem Ehemann und dem gemeinsamen einjährigen Sohn nun vorfinden würde…“).
Des Weiteren sind Heirat wie auch die Geburten nach Abschluss des Erstverfahrens erfolgt. Allerdings handelt es sich insoweit um keine Tatsachen, die den entscheidungserheblichen und der Entscheidung im Erstverfahren zugrundeliegenden Sachverhalt zugunsten der Klägerin ändern.
Im Erstverfahren wurde der Asylantrag der Klägerin als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt, da ihr bereits in Italien internationaler Schutz gewährt worden ist. Die Rechtmäßigkeit einer solchen Unzulässigkeitsentscheidung gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG setzt aber in unionskonformer Einschränkung dieser Vorschrift voraus, dass die Klägerin in dem Mitgliedstaat, der ihr Schutz gewährt hat, keine Lebensumstände erwartet, die einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK gleichkommen (BVerwG, U.v. 21.4.2020 – 1 C 4.19 – juris Rn. 36; EuGH, U.v. 19.3.2019 – 2 C 297/17 u.a. – juris Rn. 101). Sprechen jedoch erhebliche Gründe dafür, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Italien Lebensumstände erwartet, die einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK gleichkommen, ist die Ablehnung eines Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht möglich.
Eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK liegt vor, wenn die systemischen oder allgemeinen oder bestimmte Personengruppen betreffenden Schwachstellen des jeweiligen Landes eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Diese Schwelle wäre erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 27.4.2021 – 23 ZB 18.33102 – juris Rn. 30).
Insofern ist zu berücksichtigen, dass im hier zu entscheidenden Fall nach Auffassung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) für die Prognose, ob der Klägerin bei einer Rückkehr nach Italien eine gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht, trotz einer im Bundesgebiet gelebten Kernfamilie nicht die Situation einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen ist, sondern es ist von einer alleinigen Rückkehr der Klägerin nach Italien ohne ihre Familienmitglieder auszugehen. Denn anders als in der Konstellation, die dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019 (U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 16 ff.) betreffend die Rückkehrprognose in den Herkunftsstaat zugrunde lag, ist im hier vorliegenden Fall bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation in einen Drittstaat nicht im Regelfall davon auszugehen, dass die Klägerin im Familienverband nach Italien zurückkehrt. Der Familienverband wurde erst in Deutschland begründet. Weder der Ehemann noch die gemeinsamen Kinder haben irgendeinen Bezug zu Italien, denn sie sind syrische Staatsangehörige und haben ausschließlich für die Bundesrepublik Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis. Der Ehemann der Klägerin ist auch nicht über Italien nach Deutschland gelangt (vgl. SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 384/18.A – juris Ls 2., Rn. 35; U.v. 15.6.2020 – 5 A 382/18 – juris Ls 2., Rn. 33). Dies unterscheidet die vorliegende Situation auch von der, die der von der Klagepartei in Bezug genommenen Entscheidung des VG Bremen (U.v. 23.4.2021 – 6 K 1114/20 – juris Rn. 40) zugrunde lag. Es ist hier weder ersichtlich noch vorgetragen, dass der Ehemann und die minderjährigen Kinder ohne Weiteres legal in die Republik Italien einreisen und dort (dauerhaft) Aufenthalt nehmen könnten. Deshalb ist auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG/Art. 8 EMRK ein gemeinsamer Verbleib der Familie in Italien nicht realitätsnah. Die Klägerin hat auch nicht geltend gemacht, dass ihr Ehemann und die minderjährigen Kinder sie im Falle einer Rückkehr nach Italien dauerhaft begleiten würden. Vielmehr ließ sie zuletzt vortragen, dass nicht „erwartet werden kann, dass der Ehemann und die minderjährigen Kinder mit der Klägerin zusammen nach Italien gehen, wenn in der Bundesrepublik Deutschland subsidiärer Schutzstatus besteht“ (ergänzende Klagebegründung v. 14.7.2021, S. 3). Auch in der mündlichen Verhandlung betonte die Klägerin, dass sich ihr Mann im Falle ihrer Rückkehr in Deutschland allein um die Kinder kümmern müsste.
Dies zugrunde gelegt hat die Klägerin entgegen § 51 Abs. 1 VwVfG nicht dartun können, dass sich die dem ablehnenden Bescheid zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu ihren Gunsten geändert hätte (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Aufgrund der Anerkennung der Klägerin in Italien als Schutzberechtigte scheidet eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Deutschland aus, § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. An den insofern entscheidungserheblichen Umständen hat sich durch die Eheschließung in Deutschland und die Geburt der gemeinsamen Kinder nichts geändert. Entsprechendes gilt im Ergebnis hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Denn bei der Rückkehrprognose ist unverändert auf die Situation der alleinigen Rückkehr der Klägerin abzustellen. Der wenig substantiiert vorgetragene Einwand der Klägerin, sie werde in Italien von ihrer Familie bedroht, ändert – dies als wahr unterstellt – hieran ebenfalls nichts. Die Klägerin wäre diesbezüglich auf staatliche Stellen, die Schutz bieten können, zu verweisen. Darüber hinaus erachtet es das Gericht als wenig wahrscheinlich, dass die Familie die Klägerin in Italien ausfindig machen könne, wenn keinerlei Kontakt mehr zueinander bestehe.
3. Dessen ungeachtet wäre unter Berücksichtigung der in Italien erfolgten Gesetzesänderungen und der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte derzeit für eine Rücküberstellung auch im Familienverband keine Gefahr für eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung infolge staatlicher Gleichgültigkeit zu vergegenwärtigen. Dies gilt auch hinsichtlich der Behandlung und Unterbringung vulnerabler Personen.
Das erkennende Gericht orientierte sich in der Vergangenheit maßgeblich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als dem für die Einhaltung und Auslegung europäischer Grundrechte maßgebenden Gericht.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im Fall einer Familie mit minderjährigen Kindern entschieden, dass eine Rücküberstellung nach Italien nicht zulässig ist, ohne dass zuvor eine individuelle Garantie der italienischen Behörden vorliegt, dass die Rückkehrer in Italien in einer dem Alter der Kinder adäquaten Art und Weise behandelt werden und die Familie zusammenbleiben darf (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel./.Schweiz – Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127 bis 132). Nachdem die italienischen Behörden hierauf mit Erklärungen vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 und 8. Juni 2015 reagierten, indem sie allgemein zusicherten, dass Familien mit (Klein-)Kindern zukünftig ausschließlich in für Familien geeigneten Unterkünften untergebracht würden, relativierte der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte mit Urteil vom 4. Oktober 2018 seine Einschätzung allerdings insofern, als von dem Erfordernis einer konkret-individuellen Zusicherung wieder abgesehen wurde (EGMR, U.v. 4.10.2016 – Ali./.Schweiz und Italien – Nr. 30474/14 – juris – Orientierungssatz). Mit den durch das sog. Salvini-Dekret vom 5. Oktober 2018 erfolgten Änderungen konnte nach der obergerichtlichen Rechtsprechung allerdings von einer kind- und familiengerechten Unterbringung von Dublin-Rückkehrern in Italien erneut nicht mehr ohne weiteres ausgegangen werden, so dass das Vorliegen einer konkret-individuellen Zusicherung einer ausreichenden Unterbringung und Versorgung seitens der italienischen Behörden Voraussetzung für die Rückführung vulnerabler Personen war (BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23 f.; BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 7 AS 19.50020 – juris Rn. 17 f.; BayVGH, B.v. 19.10.2020 – 13a ZB 18.30891 – juris Rn. 4 für Familie, der in Italien internationaler Schutz zuerkannt worden war).
Unter Bezugnahme auf das am 22. Oktober 2020 in Kraft getretene Dekret Nr. 130/2020, das in das am 20. Dezember 2020 in Kraft getretene Gesetz Nr. 173/2020 aufgenommen worden ist, und unter Berücksichtigung der allgemeinen Zusicherung Italiens zur Behandlung von in (Dublin-Verfahren) rücküberstellten Personen vom 8. Februar 2021 hat nunmehr der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 23. März 2021 die Klage einer vulnerablen Person gegen ihre Abschiebung nach Italien abgewiesen. Im Falle der Mutter und ihrer zwei minderjährigen Kinder lasse sich in materieller, physischer oder psychologischer Sicht keine hinreichend reale und unmittelbare Gefahr einer Härte erkennen, die schwer genug sei, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu fallen (EGMR, U.v. 23.3.2021 – Application no. 46595/19 M.T. against the Netherlands). Die aktuell erfolgten Änderungen der Rechtslage in Italien führten zu einer weitestgehenden Rückkehr zum vormaligen zweistufigen Aufnahmesystem von Antragstellern, die in Italien internationalen Schutz begehrten und stellten eine Abkehr von den mit dem sog. Salvini-Dekret verbundenen Einschränkungen dar. Italien habe über das Gesetzesdekret Nr. 142/2015 vom 30. September 2016 die RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) und die RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) in nationales Recht umgesetzt. Die mit dem sog. Salvini-Dekret vom 5. Oktober 2018 erfolgte Einschränkung der Nutzung der sekundären Versorgungsebene ausschließlich für die Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger sowie international Schutzberechtigter sei durch das am 22. Oktober 2020 in Kraft getretene Dekret Nr. 130/2020, das in das Gesetz Nr. 173/2020, in Kraft getreten am 20. Dezember 2020, aufgenommen worden sei, aufgegeben worden. Die Unterbringungseinrichtungen der zweiten Ebene (nun nicht mehr SIPROIMI, sondern SAI – Sistema di accoglienza e integrazione – genannt) stünden nun auch wieder Antragstellern auf internationalen Schutz zur Verfügung. Darüber hinaus seien Antragsteller, die nach der Aufnahmerichtlinie als vulnerable Personen eingestuft werden, vorrangig an SAI-Aufnahmeeinrichtungen weitergeleitet. Auch sei die Bandbreite der in den Unterbringungseinrichtungen der ersten und zweiten Ebene zu erbringenden Versorgungsleistungen erweitert worden. Neben den materiellen Aufnahmeleistungen seien unter anderem eine Gesundheitsversorgung, soziale und psychologische Betreuung, Italienisch-Kurse und Rechtsberatungsdienste vorgesehen und das Recht der Antragsteller gewährleistet, sich als international Schutzsuchende bei den örtlichen Behörden zu registrieren (EGMR, U.v. 23.3.2021 – a.a.O. – Rn. 32 bis 36 und 53). Auch der UNHCR sehe das Dekret Nr. 130/2020 positiv. Es garantiere unter anderem nicht nur die Wiederherstellung des Rechts der Asylsuchenden, ihren Wohnsitz anzumelden und effektiven Zugang zu wesentlichen Dienstleistungen, sondern bedeute auch die Rückkehr zu einem Aufnahme- und Integrationsmodell, das über die Jahre positive Ergebnisse im Hinblick auf die soziale Eingliederung gehabt habe (EGMR, U.v. 23.3.2021 – a.a.O. – Rn. 37). Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die rückführende Behörde die italienischen Behörden nicht über den Zeitpunkt der Rückkehr und deren familiäre Situation informieren würden (EGMR, U.v. 23.3.2021 – a.a.O. – Rn. 57). Danach sei im Falle einer Rücküberstellung der Mutter und ihrer Kinder keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK zu befürchten, da diese als Angehörige einer gemäß Art. 17 des Dekrets Nr. 142/2015 vulnerablen Personengruppe vorrangig in einem SAI-Netzwerk unterzubringen seien (EGMR, U.v. 23.3.2021 – a.a.O. – Rn. 54). Doch selbst wenn die Familie vorübergehend zunächst in einer Aufnahmeeinrichtung der ersten Ebene untergebracht würde, sei aufgrund des dort erweiterten Leistungsangebots keine Verletzung von Art. 3 EMRK zu erwarten (EGMR, U.v. 23.3.2021 – a.a.O. – Rn. 55).
Auch unter Berücksichtigung dessen, dass die Entscheidung des EGMR (U.v. 23.3.2010 – a.a.O.) zum sog. Dublin-Verfahren erging, ist die ausführlich begründete und belegte Beurteilung der Rückkehrsituation vulnerabler Personen in Italien auf die Klägerin unter Berücksichtigung der Erkenntnislage, auf die das Bundesamt im maßgeblich Bescheid abstellte, im vorliegenden Verfahren übertragbar. Es ist weder konkret vorgetragen noch im Übrigen ersichtlich, dass die Klägerin darüber hinaus individuelle Besonderheiten aufweist, die es im vorliegenden Fall ausschlössen, auf die Beurteilung der Rückkehrsituation, wie sie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 23. März 2021 zugrunde gelegt hat, zurückzugreifen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach aktueller Erkenntnislage (s. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 6.1.2020, Az. 508-516.80/53721, an VG Gera) bei der Rückübernahme von vulnerablen Fällen – auch in sog. Drittstaatenfällen – der tatsächlichen Rückführung durch die italienischen Behörden erst zugestimmt wird, wenn angemessene Unterkunft und Versorgung sichergestellt sind. Wenn dies nicht gewährleistet werden kann, erfolgt eine formelle Aufforderung an Deutschland, den Rückführungstermin zu verschieben. Der EGMR hebt in seiner Entscheidung ebenfalls hervor, dass im Falle einer Rückführung vulnerabler Personen die zuständigen Behörden sich hierüber vorab informieren (U.v. 23.3.2010 – a.a.O. – Rn. 56).
Vor diesem Hintergrund vermag das Gericht auch im Falle einer unterstellten Vulnerabilität kein Folgeantragsvorbringen zu erkennen, das angesichts der nunmehrigen höchstrichterlichen Klärung, welcher die aktuelle verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung – soweit ersichtlich – nunmehr folgt (vgl. VG Augsburg, U.v. 14.6.2021 – Au 5 K 21.50084 – Rn. 22 ff.; B.v. 9.6.2021 – Au 5 S 21.50103 – Rn. 24 ff.; B.v. 4.6.2021 – Au 5 S 21.50092 – Rn. 29 ff.; B.v. 26.5.2021 – Au 1 S 21.50091 – juris Orientierungssatz; VG Bayreuth, G.v. 30.4.2021 – B 9 K 20.50115 – juris Orientierungssatz; VG Cottbus, B.v. 11.6.2021 – 5 L 493/20.A – juris; s. auch BayVGH, B.v. 8.6.2021 – 6 ZB 21.50037 – juris), geeignet sein könnte, eine Änderung zugunsten der Klägerin anzunehmen (vgl. BVerfG, B.v. 4.12.2019 – 2 BvR 1600/19 – juris Rn. 25; OVG Hamburg, B.v. 17.5.1984 – Bs VII 246/84 – NVwZ 512, 513).
4. Auch für die Gewährung von Familienasyl nach § 26 AsylG sind die Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht erfüllt. Die Ableitung eines Schutzanspruchs der Klägerin von ihrem Ehemann, der in Deutschland als schutzberechtigt anerkannt ist, scheitert daran, dass die Ehe erst in Deutschland geschlossen wurde. Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 5 Satz 1 AsylG ist für diese Art des Familienasyls erforderlich, dass die Ehe bereits in dem Staat bestand, in dem der Betroffene politisch verfolgt wurde. Von ihren in Deutschland geborenen Kindern kann die Klägerin ebenfalls keinen Asylanspruch ableiten. Denn die Familie bestand nicht bereits im Verfolgerstaat, § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG (vgl. BayVGH, B.v. 2.4.2019 – 23 ZB 17.31944 – juris Rn. 7; Günther in BeckOK Ausländerrecht Kluth/Heusch, Stand 1.4.2021, § 26 AsylG Rn. 23b).
Schließlich liegen die Voraussetzungen nach § 51 VwVfG auch in Bezug auf die rechtskräftige Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG nicht vor. Ein – wie hier in Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamtes vom 10. Juli 2018 nach § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnetes – Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nach § 11 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG von Amts wegen zu befristen. Diese erste Befristung hat das Bundesamt in Wahrnehmung seiner besonderen Zuständigkeit nach § 75 Nr. 12 AufenthG in diesem Bescheid auf 30 Monate vorgenommen. Für die nachträgliche Befristung bzw. Verkürzung der Befristung ist nun die Ausländerbehörde in Wahrnehmung ihrer allgemeinen Zuständigkeit nach § 71 Abs. 1 AufenthG zuständig (vgl. VG Augsburg, B.v. 4.3.2019 – Au 6 K 19.79 – juris Rn. 23). Die Änderung der Befristungsentscheidung von der Ausländerbehörde erfolgt im Einvernehmen mit dem Bundesamt (vgl. § 72 Abs. 3 Satz 1 AufenthG; s. auch BayVGH, B.v. 3.6.2019 – 10 C 19.616 – juris Rn. 4). Demzufolge kann aufgrund der Zuständigkeit der Ausländerbehörde für die Abänderung der Befristungsentscheidung deren Änderung nicht im Wege des Folgeverfahrens erreicht werden. Allerdings hat das Bundesamt bereits eine Verkürzung auf einen Monat in Aussicht gestellt.
Letztlich wird die hier vorliegende Konstellation der Familienzusammenführung von in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union anerkannt Schutzberechtigten, deren Familienverband (erst) in einem der Mitgliedstaaten begründet wurde und nicht schon im Herkunftsstaat bestand, nicht asylsondern aufenthaltsrechtlich zu bewältigen sein.
Nach alledem ist die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen.


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