Verwaltungsrecht

Rückzahlung von Ausbildungskosten – Rechtswidriger Rückforderungsbescheid

Aktenzeichen  W 1 K 18.1145

Datum:
26.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 5151
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 42 Abs. 1 Alt. 2
VwVfG § 48 Abs. 1 S. 1, § 51 Abs. 1, Abs. 5

 

Leitsatz

1. Die Änderung der Rechtsprechung hinsichtlich der Auslegung einer Rechtsnorm – gleich in welchem Rechtszug – führt eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nicht herbei. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts steht grundsätzlich im Ermessen der Behörde. Ausnahmsweise kann die Behörde zur Rücknahme verpflichtet sein, wenn das Ermessen auf Null reduziert ist. Dies ist der Fall, wenn die Aufrechterhaltung des Verwaltungsakts “schlechthin unerträglich” ist. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. “Schlechthin unerträglich” ist die Aufrechterhaltung des Verwaltungsakts insbesondere bei einem Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben, bei gleichheitswidriger Rücknahmepraxis, bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes oder wenn das einschlägige Fachrecht dem Rücknahmeermessen eine bestimmte Richtung vorgibt. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein Verstoß gegen die guten Sitten ist nicht anzunehmen, wenn der Verwaltungsakt langjähriger Verwaltungspraxis entsprach, die auch von der obergerichtlichen Rechtsprechung als rechtmäßig angesehen wurde. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
5. Es verstößt auch nicht gegen die guten Sitten, wenn die Körperschaft, deren Behörde an einem rechtwidrigen Verwaltungsakt festhält, unrechtmäßig bereichert wird. Dies ist wegen des mit dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit konkurrierenden Grundsatzes der Rechtssicherheit auch von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig, jedoch vollumfänglich unbegründet.
Die Klage auf Verpflichtung der Behörde auf Aufhebung oder Abänderung des Verwaltungsaktes, gegen den sich der Wiederaufnahmeantrag richtet, (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 51, Rn. 53 f.; BVerwG NJW 1982, 2204) ist als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO in der Form der Versagungsgegenklage zulässig.
Die Klage ist aber unbegründet, da die Klägerin keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Abänderung des Leistungsbescheides vom 24. Januar 2006 sowie Rückzahlung der geleisteten Beiträge hat und deshalb durch den Bescheid vom 26. Februar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2018 nicht in ihren Rechten verletzt wird, § 113 V VwGO.
1.
Der Klägerin steht kein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG zu, da kein Wiederaufgreifensgrund nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 – 3 VwVfG vorliegt.
Es liegt keine nachträgliche Änderung der Rechtslage zugunsten der Klägerin nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vor, da die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Änderung der Rechtslage herbeiführt (vgl. BVerwG, B. v. 01.07.2013 – 8 B 7.13; BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15.08; BVerwG, B.v. 09.08.2011 – 5 B 15.11, alle bei juris). Eine Änderung der Rechtslage ist nur dann anzunehmen, wenn das maßgebliche Recht geändert wird, dem eine allgemein verbindliche Außenwirkung zukommt (vgl. BVerwG, B.v. 01.07.2013 – 8 B 7.13). Die Änderung der Rechtsprechung hinsichtlich der Auslegung einer Rechtsnorm – gleich in welchem Rechtszug – führt eine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nicht herbei. Gerichtliche Entscheidungsfindung bleibt rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung (BVerwG, B.v. 01.07.2013 – 8 B 7.13). Die Änderung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung bedeutet lediglich eine geläuterte Erkenntnis über den bestehenden Rechtszustand und nicht eine Veränderung der Rechtslage.
2.
Der Klägerin steht auch kein Anspruch auf teilweise Rücknahme des Leistungsbescheides vom 24. Januar 2006 nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zu.
§ 51 Abs. 5 VwVfG stellt ausdrücklich klar, dass die Rücknehmbarkeit nach § 48 Abs. 1 Satz 1 durch § 51 Abs. 1 VwVfG nicht berührt wird. Vielmehr wird dadurch deutlich, dass es sich dabei um nicht identische Verfahren handelt. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Der Leistungsbescheid vom 24. Januar 2006 ist rechtswidrig. Für das Merkmal der Rechtswidrigkeit im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG kommt es grundsätzlich darauf an, ob der Verwaltungsakt, dessen Rücknahme erstrebt wird, zum Zeitpunkt seines Erlasses einer Rechtsgrundlage entbehrte (vgl. BVerwG, B.v. 07.07.2004 – 6 C 24.03; BVerwG, U.v. 30.01.1969 – 3 C 153.67, bei juris). Wie das BVerwG mit Urteil vom 12. April 2017 (2 C 16.16) feststellte, fehlt für die Erhebung von Zinsen eine gesetzliche Grundlage im Soldatenrecht. Zudem müsse die Zeit während einer Weiterbildungsphase als effektive Stehzeit rückforderungsmindernd berücksichtigt werden. Da vorliegend sowohl Zinsen gefordert wurden als auch die Zeit während der Weiterbildungsphase (vom 19.06.2003, dem Tag der Approbation bis 31.08.2003, dem Ausscheiden der Klägerin) nicht rückforderungsmindernd berücksichtigt wurde, ist der Leistungsbescheid rechtswidrig.
Die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes steht grundsätzlich im Ermessen der Behörde (Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Aufl. 2014, § 48, Rn. 77). Ausnahmsweise kann die Behörde jedoch zur Rücknahme verpflichtet sein, wenn das Ermessen auf Null reduziert ist, vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 19. Aufl. 2018, § 48, Rn. 79). Bei der Rücknahme eines belastendenden Verwaltungsaktes ist zu beachten, dass dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit prinzipiell kein größeres Gewicht zukommt als dem Grundsatz der Rechtssicherheit, sofern dem anzuwendenden Recht nicht ausnahmsweise eine ausdrückliche andere gesetzliche Wertung zu entnehmen ist (vgl. BVerwG, B.v. 22.10.1984 – 8 B 56.84). Tritt der Grundsatz der Rechtssicherheit mit dem Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall in Widerstreit, so ist es Sache des Gesetzgebers und der Rechtsprechung, das Gewicht, das ihnen in dem zu regelnden Fall zukommt, abzuwägen und zu entscheiden, welchem der beiden Prinzipien der Vorrang gegeben werden soll (BVerfG, B.v. 14.03.1963 – 1 BvL 28/62; vgl. auch BVerwG, B.v. 07.07.2004 – 6 C 24.03; beide bei juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes, wenn dessen Aufrechterhaltung “schlechthin unerträglich” ist (vgl. BVerwG; U.v. 17.01.2007 – 6 C 32.06, juris-Rn. 13). Dies kann insbesondere bei einem Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben, bei gleichheitswidriger Rücknahmepraxis, bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes oder wenn das einschlägige Fachrecht dem Rücknahmeermessen eine bestimmte Richtung vorgibt, vorliegen (vgl. BVerwG; U.v. 17.01.2007 – 6 C 32.06, juris-Rn. 13; Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, § 48, Rn. 85 f.).
Mangels Verstoßes gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben liegt hier keine Ermessensreduktion auf Null vor. Unter Abwägung aller in Betracht kommender Aspekte kann nicht angenommen werden, dass die Aufrechterhaltung des Leistungsbescheides vom 24. Januar 2006 dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zuwiderläuft. Die Gründe für die Rechtswidrigkeit des Bescheides und die damit verbundene finanzielle Belastung der Klägerin im Falle seiner Aufrechterhaltung lassen die Annahme eines Verstoßes gegen die guten Sitten nicht zu.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem Urteil vom 12. April 2017 (2 C 16.16) zwar festgestellt, dass die Erhebung von Zinsen und die Nichtberücksichtigung der Weiterbildungsphase als rückforderungsmindernder Faktor nicht mit höherrangigem Recht zu vereinbaren ist. Auch geht die Aufrechterhaltung des Leistungsbescheides mit einer erheblichen finanziellen Belastung für die Klägerin einher, da sie sowohl im Vergleich zu anderen Soldaten, welche erst nach dem oben genannten Urteil vorzeitig aus dem Dienst ausschieden, als auch im Verhältnis zu den Soldaten, die den rechtswidrigen Leistungsbescheid erhalten hatten und diesen über Instanzen hinweg erfolgreich angefochten haben, höheren finanziellen Belastungen ausgesetzt ist.
Andererseits entsprach es langjähriger Praxis der Beklagten, die Stundungszinsen zu erheben und die Zeiten der Fachausbildung nicht auf die Abdienquote anzurechnen. Diese Praxis wurde auch von der obergerichtlichen Rechtsprechung als rechtmäßig angesehen (vgl. BayVGH, B.v. 19.05.2015 – 6 ZB 14.1841, juris-Rn. 21 m.w.N. zur Rechtmäßigkeit der Zinsforderung und Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, U.v. 06.06.2016 – 4 S 1492/15, juris-Rn. 39 ff. zur Anrechnung von Ausbildungszeiten auf die Abdienquote). Die Festsetzung der Zinsen im Bescheid vom 24. Januar 2006 erweist sich somit nicht als offensichtlich rechtswidrig, eine (Teil-)Nichtigkeit des Bescheides insoweit ist schon gar nicht gegeben. Es liegt hinsichtlich der Rücknahmeentscheidung der Beklagten damit auch keine Ermessensreduktion auf Null vor.
Die Beklagte hat auch mitgeteilt, dass sie in keinem anderen abgeschlossenen Sachverhalt ihr Ermessen in Richtung auf eine Aufhebung der bestandkräftigen Bescheide betätigt hat. Die Klägerin ist damit nicht schlechter gestellt als alle anderen Betroffenen, deren Rückforderungsbescheide vor der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2017 bestandkräftig wurden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es auf dem freien Willensentschluss der Klägerin beruhte, die Bundeswehr zu verlassen, obwohl ihr die Rückzahlungsverpflichtung hätte bekannt sein müssen. Auch das Auflaufenlassen von Stundungszinsen ist auf eine freie Willensentscheidung der Klägerin zurückzuführen, da sie diese durch Rückzahlung des lediglich zur Vermeidung einer besonderen Härte gestundeten Betrages hätte vermeiden können. Es war daher eine wohl auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhende Entscheidung der Klägerin, die im Bescheid vom 27. Januar bereits festgesetzten Stundungszinsen einer sofortigen Rückzahlung vorzuziehen. Nunmehr handelt es sich um einen abgeschlossenen Sachverhalt (anders wohl VG Koblenz, U.v. 27.02.2019 – 2 K 719/18.KO), was insbesondere auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Klägerin ihre Rückzahlungsverpflichtung mittlerweile vollständig erfüllt hat, so dass der Gesamtzinsbetrag in Höhe von 38.273,23 € bereits seit September 2014 feststeht und sich auch in der Zukunft nicht mehr erhöht.
Daher verstößt es auch nicht gegen die guten Sitten, wenn an dem Leistungsbescheid vom 24. Januar 2006 im Hinblick auf die Rechtssicherheit festgehalten wird. Zwar wird die Beklagte dadurch in unrechtmäßiger Weise bereichert, da sie sowohl die Stundungszinsen als auch die aufgewendeten Ausbildungskosten voll erstattet bekommt und das obwohl die Klägerin die berechtigten Erwartungen der Beklagten durch die effektive Stehzeit teilweise erfüllt hat. Jedoch wirkt sich die Bestandskraft rechtswidriger belastender Verwaltungsakte stets notwendig zugunsten der Behörde aus, die sich auf den Verwaltungsakt berufen und aus ihm für sich günstige Folgen ableiten kann. Dies ist wegen des mit dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit konkurrierenden Grundsatzes der Rechtssicherheit auch von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden (BVerwG, B.v. 07.07.2004 – 6 C 24.03).
Durch die Aufrechterhaltung des Leistungsbescheides liegt damit kein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben vor.
3.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Beiträge, da infolge der Aufrechterhaltung des Leistungsbescheids vom 24. Januar 2006 die Vermögensverschiebung mit Rechtsgrund erfolgte. Die bloße Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes genügt nicht für eine Rechtsgrundlosigkeit der Vermögensverschiebung.
4.
Die Klage war daher im Haupt- und Hilfsantrag mit der gesetzlichen Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Berufung war nicht zuzulassen, da keine Berufungszulassungsgründe gegeben sind.


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