Verwaltungsrecht

Ruhen des Widerspruchsverfahrens

Aktenzeichen  4 ZB 18.1839

Datum:
3.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
DÖV – 2019, 496
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO §§ 68 ff.

 

Leitsatz

Wer nach Einlegung eines Widerspruchs das Ruhen des Widerspruchsverfahrens bis zu einer Entscheidung in einem vorgreiflichen Gerichtsverfahren beantragt, verwirkt sein Klagerecht nicht allein dadurch, dass er nach Ergehen der betreffenden Entscheidung untätig bleibt. (Rn. 14)

Verfahrensgang

M 10 K 16.5274 2018-06-21 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.150,-Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Kläger wenden sich gegen ihre Heranziehung zur Zweitwohnungssteuer. Sie haben im Gemeindegebiet der Beklagten eine seit dem Jahr 2004 eigengenutzte Wohnung inne, ohne dass im Gemeindegebiet der Beklagten ihre Hauptwohnung wäre.
Mit Bescheid vom 17. Oktober 2005 setzte die Beklagte gegenüber dem Kläger zu 1 die Zweitwohnungssteuer für diese Wohnung für das Kalenderjahr 2005 und die Folgejahre auf jeweils 650 Euro fest.
Gegen den Bescheid legten die Kläger mit Schreiben vom 11. November 2005 Widerspruch ein und begründeten diesen in mehrfacher Hinsicht. Nach einem Hinweisschreiben der Beklagten vom 30. November 2005 teilten die Kläger der Beklagten unter dem 6. Dezember 2005 mit, dass sie eine Entscheidung über ihren Widerspruch mit entsprechender Rechtsbehelfsbelehrung:wünschten, beantragten jedoch mit Schreiben vom 25. Dezember 2005 das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über eine anhängige Normenkontrollklage.
Nach Ergehen der Normenkontrollentscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bat die Beklagte die Kläger mit Schreiben vom 28. April 2006 „noch um schriftliche Mitteilung, ob sie ihren Widerspruch aufrechterhalten oder zurücknehmen.“ Bei Aufrechterhaltung werde der Widerspruch zur kostenpflichtigen Entscheidung an das Landratsamt weitergeleitet. Mit Schreiben vom 9. Mai 2005, bei der Beklagten eingegangen am 15. Mai 2006, beantragten die Kläger weiterhin das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts über die Nichtzulassungsbeschwerde und im Hinblick auf eine laufende Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht über die Zulässigkeit der Grundsteuer. Laut Vermerk der Beklagten auf diesem Schreiben erhielt sie am 15. Mai 2006 vom Landratsamt die mündliche Auskunft, den Widerspruch zur Entscheidung vorzulegen; für anderes bestehe unabhängig von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kein Anlass. Weiter ist auf diesem Schreiben vermerkt: „Klage vom Bundesverwaltungsgericht abgewiesen (siehe OVB 14./15.4.07)“. In den folgenden 10 Jahren geschah nichts weiter.
Mit Schreiben vom 27. April 2016 wiesen die Kläger die Beklagte darauf hin, dass ihr Widerspruch vom 11. November 2005 noch nicht erledigt sei. Vorsorglich werde aber Widerspruch gegen die Erhebung der Zweitwohnungssteuer ab 2014 eingelegt. Der degressive Stufentarif in der Zweitwohnungssteuersatzung der Beklagten sei nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2014 verfassungswidrig. Die Beklagte und die Widerspruchsbehörde, die sich mit einem Abänderungsantrag der Kläger befasste, hielten den Widerspruch der Kläger vom 11. November 2005 für erledigt.
Auf Untätigkeitsklage der Kläger hin hob das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 21. Juni 2018 den Bescheid der Beklagten vom 17. Oktober 2005 auf und wies die Klage der Klägerin zu 2 ab. Hinsichtlich der Zweitwohnungssteuererhebung für die Jahre 2016 und 2017 stellte es das Verfahren nach übereinstimmender Erledigungserklärung der Parteien ein. Die Klage des Klägers zu 1 sei zulässig und begründet; er habe sein Klagerecht nicht verwirkt. Zwar liege das Zeitmoment vor, jedoch fehle es am ebenfalls erforderlichen Umstandsmoment.
Gegen das Urteil beantragt die Beklagte die Zulassung der Berufung, dem die Klagepartei entgegentritt.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
a) Der mit der Antragsbegründung geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor. Die Beklagte hat keinen einzelnen tragenden Rechtssatz und keine erhebliche Tat Sachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt (zu diesem Maßstab BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – NVwZ 2016, 1243/1244 m.w.N.).
Die Beklagte trägt in der Zulassungsbegründung vor, die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, wonach sich die Beklagte nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen könne, da sie das Widerspruchsverfahren ja hätte fortführen und so einen bestandskräftigen Ablehnungsbescheid hätte erzwingen können, sei rechtsfehlerhaft, da sonst niemals eine Verwirkung angenommen werden könne. Der Beklagten erschließe sich auch nicht, weshalb sie das Landratsamt als Widerspruchsbehörde mit der Angelegenheit hätte betrauen müssen oder sollen, obgleich die Kläger den Widerspruch erklärtermaßen lediglich so lange hätten aufrechterhalten wollen, bis die in Bezug genommene Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in Rechtskraft erwachsen sei bzw. eine abschließende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangen sei. Das erforderliche Umstandsmoment liege deshalb ersichtlich vor. Die von den Klägern im Bezug genommenen Entscheidungen lägen seit dem Jahr 2006 bzw. 2007 vor. Das Verwaltungsgericht verkenne, dass die Kläger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Widerspruch vom 11. November 2005 damals nicht hätten weiterbetreiben wollen.
Aus diesem Vortrag ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts. Das Verwaltungsgericht hat im Einklang mit der von ihm zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zutreffend entschieden, dass es hier am erforderlichen Umstandsmoment für die Annahme einer Verwirkung fehlt.
Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage kann entfallen, wenn die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs gegen Treu und Glauben verstößt, etwa weil der Berechtigte sich verspätet auf das Recht beruft (Zeitmoment) und unter Verhältnissen untätig geblieben ist, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (Umstandsmoment), so dass auch ein an sich unbefristeter Antrag deshalb nicht nach Belieben hinausgezögert oder verspätet gestellt werden kann, ohne unzulässig zu werden (vgl. BVerfG, B.v. 4.3.2008 – 2 BvR 2111/07, 2 BvR 2112/07 – juris Rn. 25 m.w.N.).
Auch wenn Zeit- und Umstandsmoment nicht voneinander unabhängig betrachtet werden können, sondern in einer Wechselwirkung derart stehen, dass umso geringere Anforderungen an das Vorliegen des Umstandsmoments zu stellen sind, je länger die Untätigkeit andauert, liegt ein solches hier nicht vor. Das wäre nur der Fall, wenn dem Betroffenen eine frühere Geltendmachung des Rechts möglich, zumutbar und von ihm auch zu erwarten gewesen wäre (vgl. BVerfG, B.v. 27.12.2012 – 1 BvR 2862/11, 1 BvR 2046/12 – juris Rn. 3). Der Kläger zu 1 hat sein Recht durch seinen Widerspruch mit Schreiben vom 11. November 2005 geltend gemacht. Er hat sich dabei zwar auf anhängige Gerichtsverfahren gestützt, deren Ausgang letztlich sein Begehren nicht stützen konnte, hat aber auch danach seinen Widerspruch nicht zurückgenommen. Zwar wäre es dem Kläger zu 1 möglich und wohl auch zumutbar gewesen, Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO zu erheben und so das Verfahren zu beschleunigen; jedoch fehlt es an einem Anhaltspunkt, warum das von ihm auch zu erwarten gewesen sein soll, so dass er durch die Nichterhebung einer Untätigkeitsklage bei der Beklagten ein Vertrauen dahingehend erweckt haben könnte, seinen Anspruch nicht mehr geltend zu machen und auf eine Verbescheidung seines erhobenen Widerspruchs zu verzichten. Schließlich sieht das Verfahrensrecht einen derartig beschränkten, bis zum Ergehen einer Entscheidung in einem parallelen Gerichtsverfahren geltenden Widerspruch, der sich nach einem etwaigen nachteiligen Ausgang der in Bezug genommenen Gerichtsverfahren – etwa vergleichbar einer auflösenden Bedingung – erledigen würde, nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat daher zu Recht das Vorliegen eines Umstandsmoments mit der Begründung verneint (UA S. 18), dass der Kläger zu 1 bei der Beklagten kein schutzwürdiges Vertrauen bezüglich eines nicht mehr zu erwartenden Weiterbetreibens seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 17. Oktober 2005 gesetzt habe, welches sein nunmehriges Tätigwerden als treuwidrig erscheinen lasse, und dass für den Kläger zu 1 keine Obliegenheit bestanden habe, die Beklagte über den für ihn ungünstigen Ausgang der in Bezug genommenen Verfahren zu informieren und um einen Fortgang des „ruhenden“ Abhilfe- bzw. Widerspruchsverfahrens zu ersuchen.
Lediglich zusätzlich, und ohne dass es darauf entscheidungserheblich ankam, wies das Verwaltungsgericht – ebenfalls zutreffend – darauf hin, dass die Beklagte gehalten gewesen wäre, eine Abhilfeprüfung durchzuführen (vgl. § 72 VwGO) und für den Fall der Nichtabhilfe den Widerspruch der Widerspruchsbehörde, wie von dieser mündlich verlangt, zur Entscheidung vorzulegen (vgl. § 73 Abs. 1 VwGO). Der Ruhensantrag der Kläger entbindet die Beklagte nicht von dieser Obliegenheit, wenn der Grund für das Ruhen weggefallen ist. Untätig trotz Obliegenheit zum Handeln war daher allein die Beklagte (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 12.1.2010 – 14 ZB 09.2080 -juris Rn. 11; U.v. 12.11.1998 – 12 B 95.857 – juris Rn. 37). Im „normalen Geschäftsgang“ hätte üblicherweise die Beklagte nach Abschluss der weiteren, in Bezug genommenen Verfahren bei den Klägern angefragt, ob der Widerspruch aufrechterhalten wird, wie sie das nach dem Abschluss des Normenkontrollverfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit Schreiben vom 28. April 2006 bereits getan hat.
b) Die Rechtssache weist auch nicht besondere Schwierigkeiten im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf.
Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten, die eine Zulassung der Berufung rechtfertigen könnten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), hat die Beklagte im Zulassungsverfahren nicht substantiiert vorgetragen. Sie führt nicht näher aus, inwiefern sich die Rechtssache in ihrem Schwierigkeitsgrad von dem üblichen Spektrum verwaltungsgerichtlicher Streitfälle unterscheiden soll. Die von der Beklagten für erforderlich gehaltene „vertiefte“ Auseinandersetzung mit den ungeschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen des sog. Umstandsmoments lässt sich auf der Basis der bereits ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung vornehmen.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
3. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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