Verwaltungsrecht

Schulwegkosten, Schülerin mit sozio-emotionaler Störung, Verweis auf Wertmarke des Versorgungsamtes, Vorzeigen des Schwerbehindertenausweises auf dem Schulweg, Wegstreckenentschädigung, Einsatz eines privaten Kraftfahrzeuges für Fahrt zur Bushaltestelle

Aktenzeichen  W 2 K 19.1457

Datum:
24.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10336
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SchKfrG Art. 2 Abs. 1 S. 3
SchBefV § 3 Abs. 2 S. 2
SchBefV § 3 Abs. 3 S. 1
SGB IX § 228 Abs. 1
SGB IX § 152 Abs. 5
SGB I § 46 S. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Landratsamts Miltenberg vom 30. September 2019 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die zum Besuch der J.-K.-Schule in E. im Schuljahr 2019/2020 angefallenen Beförderungskosten in Höhe von insgesamt 940,75 EUR zu erstatten.
III. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 
IV. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit den Schreiben der Klägerbevollmächtigten vom 5. Mai 2020 und des Beklagten vom 16. April 2020 vor.
1. Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat für das Schuljahr 2019/2020 einen Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Beförderungskosten. Der Bescheid des Landratsamts Miltenberg vom 30. September 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Schulwegkostenfreiheitsgesetz (SchKfrG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl. S. 452), zuletzt geändert durch Verordnung vom 26. März 2019 (GVBl. S. 98), i.V.m. § 1 Satz 1 Nr. 1 und § 1 Satz 2 Halbsatz 2 Schülerbeförderungsverordnung (SchBefV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. September 1994 (GVBl. S. 953, BayRS 2230-5-1-1-K), zuletzt geändert durch Verordnung vom 12. Februar 2020 (GVBl. S. 144), ist die notwendige Beförderung der Schüler auf dem Schulweg zu Förderschulen durch den Aufgabenträger sicherzustellen. Bei der Erfüllung der Beförderungspflicht sind die Belange der Schülerinnen und Schüler, der Schulen und der Aufgabenträger angemessen zu berücksichtigen, § 3 Abs. 1 Satz 2 SchBefV. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 SchBefV erfüllen die Aufgabenträger ihre Beförderungspflicht vorrangig mit Hilfe des öffentlichen Personenverkehrs. Andere Verkehrsmittel, wie ein privates Kraftfahrzeug, sind nur einzusetzen, soweit dies notwendig oder insgesamt wirtschaftlicher ist, § 3 Abs. 2 Satz 2 SchBefV. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 SchBefV kann der Aufgabenträger seine Beförderungspflicht im Einzelfall dadurch erfüllen, dass er für den zumutbaren Einsatz von privaten Kraftfahrzeugen eine Wegstreckentschädigung anbietet. Für deren Höhe gilt nach § 3 Abs. 3 Satz 2 SchBefV Art. 6 Abs. 6 des Bayerischen Reisekostengesetzes entsprechend.
Nach diesen Maßgaben hat die Klägerin für das Schuljahr 2019/2020 sowohl einen Anspruch auf Erstattung der ihr für den Kauf von Busfahrkarten angefallenen Kosten in Höhe von 590,70 EUR als auch auf die geltend gemachte Wegstreckenentschädigung in Höhe von 350,05 EUR.
1.1. Als Schulaufwandsträger ist der Beklagte gem. § 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SchBefV zur Beförderung der Klägerin zu der von ihr im Schuljahr 2019/2020 besuchten Förderschule verpflichtet.
Zur Erfüllung seiner Beförderungspflicht kann der Beklagte nicht auf die Wertmarke des Versorgungsamtes, die der Klägerin bei einem Vorzeigen zusammen mit dem Schwerbehindertenausweis nach § 228 Abs. 1 des Neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Dezember 2018 (BGBl I S. 3234), zuletzt geändert durch Gesetz vom 9. Oktober 2020 (BGBl I S. 2075), eine kostenfreie Beförderung im Personennahverkehr ermöglicht, verweisen.
Eine solche Erfüllungsmöglichkeit der Beförderungspflicht sehen das Schulwegkostenfreiheitsgesetz und die Schülerbeförderungsverordnung nicht vor. Sie lässt sich nicht aus dem Gebot zur Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 Satz 3 SchKfrG, das einen sparsamen Umgang mit öffentlichen Mitteln verlangt, ableiten. Ein Verweis schwerbehinderter Schüler auf eine nach § 228 Abs. 1 SGB IX bestehende Möglichkeit der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr bei Vorzeigen ihres Schwerbehindertenausweises auf dem Schulweg stellt eine grundrechtsrelevante, rechtfertigungspflichtige Ungleichbehandlung dar, für die es einer hinreichend konkreten und verfassungskonformen Rechtsgrundlage bedarf. Ein Rückgriff auf das an den Aufgabenträger gerichtete allgemeine Gebot zur Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit in Art. 2 Abs. 1 Satz 3 SchKfrG genügt hierfür nicht.
Unabhängig davon wäre ein Verweis der Klägerin auf die ihr nach § 228 Abs. 1 SGB IX zustehende unentgeltliche Beförderungsmöglichkeit auch nicht aus wirtschaftlichen Gründen des Beklagten gerechtfertigt.
Bei der kostenfreien Beförderungsmöglichkeit nach § 228 Abs. 1 SGB IX handelt sich um einen Nachteilsausgleich für schwerbehinderte Menschen. Nach § 1 SGB IX ist es Sinn und Zweck aller Teilhabeleistungen des Neunten Sozialgesetzbuches, die Selbstbestimmung behinderter Menschen und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Personennahverkehr nach § 228 Abs. 1 SGB IX soll die soziale Teilhabe schwerbehinderter Menschen unterstützen, indem ihre Mobilität gefördert wird. Die Geltendmachung von Nachteilsausgleichen unterliegt grundsätzlich der freien Disposition der Berechtigten. Auf einseitige Rechte und Vergünstigungen kann nach allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts grundsätzlich verzichtet werden.
Etwas anderes gilt vorliegend auch nicht nach dem Rechtsgedanken des § 46 des SGB I, wonach ein Verzicht auf Sozialleistungen unwirksam ist, soweit durch ihn andere Personen oder Leistungsträger belastet oder Rechtsvorschriften umgangen werden. Das Schwerbehindertenrecht ist allein zum Schutz schwerbehinderter Menschen konzipiert (vgl. zum SchwbG BSG, U.v. 26.2.1986 – 9a RVs 4/83 – juris). Es steht deshalb im Belieben schwerbehinderter Menschen, ob und in welchem Umfang sie von Rechten und Vergünstigungen, die ihnen zustehen, Gebrauch machen wollen (BSG, U.v. 26.2.1986 – 9a RVs 4/83 – juris). Demzufolge kann weder die Inanspruchnahme von Vergünstigungen noch das gänzliche oder teilweise Absehen davon die Solidargemeinschaft belasten (BSG, U.v. 26.2.1986 – 9a RVs 4/83 – juris).
Ohne dass es noch entscheidungserheblich darauf ankommt, könnte von der Klägerin auch nicht verlangt werden, auf dem Schulweg ihren Schwerbehindertenausweis vorzuzeigen.
Der Schwerbehindertenausweis dient nach § 152 Abs. 5 SGB IX dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, die schwerbehinderten Menschen gesetzlich zustehen. Jedoch wird bereits die Bezeichnung des Ausweises von vielen Menschen als stigmatisierend angesehen, wie die Debatte um eine Umbenennung in Teilhabeausweis sowie und die mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Initiative einer schwerbehinderten Schülerin zur Einführung einer Schwer-in-Ordnung-Ausweishülle, die inzwischen von zahlreichen Bundesländern kostenfrei ausgegeben wird, verdeutlichen. Bei der Nutzung des Schwerbehindertenausweises zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr ist zudem zu berücksichtigen, dass sich dieser äußerlich deutlich von Fahrkarten des öffentlichen Personenverkehrs unterscheidet, was – insbesondere bei einer nicht offensichtlichen Schwerbehinderung – ein Hemmnis hinsichtlich der Geltendmachung des Nachteilsausgleichs darstellen kann. Für den Schulweg minderjähriger, und damit besonders vulnerabler, schwerbehinderte Schüler gilt dies in besonderem Maße. Im Fall der Klägerin kommt darüber hinaus hinzu, dass nach den vorgelegten Stellungnahmen ihrer psychologischen Psychotherapeutin und des behandelnden Kinder- und Jugendarztes mögliche Nachfragen zu ihrem Schwerbehindertenausweis bei dieser ein negatives Selbstbild und eine Überforderung erzeugen würden sowie aufgrund ihrer sozio-emotionalen Störung zu unvorhersehbaren Reaktionen führen könnten.
Die Klägerin aus Gründen der Einsparung von Schulwegkosten auf die Wertmarken des Versorgungsamtes zu verweisen, ist daher mit dem Sinn und Zweck des Nachteilsausgleiches unvereinbar.
Die Klägerin hat daher einen Anspruch auf Ausstellung von Schülernetzfahrkarten für den Weg zur J. K. Schule und kann für das vergangene Schuljahr die Erstattung der selbst erworbenen Fahrscheine beanspruchen.
1.2. Daneben hat die Klägerin auch einen Anspruch auf Wegkostenentschädigung gem. § 3 Abs. 3 Satz 2 SchBefV für die von ihren Eltern im Schuljahr 2019/2020 getätigten Fahrten zu den Bushaltestellen „…“ (bzw. baustellenbedingt vorübergehend zur Ersatzhaltestelle „…“) und „…“ mit dem privaten Kraftfahrzeug.
Aufgrund des Vorrangs der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bei der Erfüllung der Beförderungspflicht (§ 3 Abs. 2 Satz 1 SchBefV) ist der Einsatz eines privaten Kraftfahrzeugs nur in Ausnahmefällen zulässig, soweit dies notwendig oder insgesamt wirtschaftlicher ist, § 3 Abs. 2 Satz 2 SchBefV. Dabei bedarf es im Vorfeld einen Antrag auf Billigung der Privatfahrten beim Aufgabenträger, der hier jedenfalls konkludent gestellt wurde.
Im Fall der Klägerin ist ein Ausnahmefall des notwendigen Einsatzes eines privaten Kraftfahrzeugs nach § 3 Abs. 2 Satz 2 SchBefV gegeben. Die Klägerin hat nachgewiesen, dass sie aufgrund ihrer sozio-emotionalen Störung eine Busverbindung benötigt, bei der kein Umsteigen erforderlich ist und mit der sie die Schule erst nach Beginn der regulären Betreuungszeiten erreicht.
Nach den Stellungnahmen der Psychologischen Psychotherapeutin … … vom 29. Januar 2021 und des Kinder- und Jugendarztes … … vom 9. Februar 2021 ist die Klägerin aufgrund ihrer sozio-emotionalen Störung nicht in der Lage, mit Komplikationen in ihrem Alltag umzugehen. Mit Anschlussschwierigkeiten bei Busverspätungen wäre sie laut der beiden Stellungnahmen überfordert. Nach der gutachterlichen Stellungnahme des Kinder- und Jugendarztes reagiere die Klägerin in solchen Situationen völlig konfus und habe keinerlei weitere Idee zur Behebung der Situation, sondern sitze hilflos an der Bushaltestelle und wisse sich nicht zu helfen. Aus einem derartigen Zustand komme sie über Stunden nicht mehr heraus. Selbst wenn sie dann Hilfe erhalte, um in die Schule oder nach Hause zu kommen, sei an ein Lernen, eine Therapie oder eine Erledigung von Hausaufgaben über Stunden nicht mehr zu denken.
Des Weiteren wird in beiden Stellungnahmen eine erhebliche Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation, insbesondere mit Gleichaltrigen, konstatiert. Nach der gutachterlichen Stellungnahme des Kinder- und Jugendarztes nehme die Klägerin Erlebnisse aufgrund einer Wahrnehmungsstörung anders war als andere und könne aufgrund einer gestörten Sprachentwicklung in schwierigen Situationen nicht das in Worte fassen, was sie entgegnen wolle. Dadurch sei sie sehr verletzbar. Trotz Teilnahme an einem sozialen Kompetenztraining und der Anbindung einen Kinder- und Jugendpsychiater bestünden die seit dem Kleinkindalter vorhandenen Verhaltensauffälligkeiten fort und es sei zu einer Verschlechterung des Aggressionsverhaltens der Klägerin gekommen. Durch eine flankierende medikamentöse Behandlung habe sich zwar eine gewisse Stabilität entwickelt. Eine Belastbarkeit der Klägerin bestehe jedoch nicht.
Der Inhalt der beiden Stellungnahmen wird dadurch gestützt, dass die Klägerin über einen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen „H“ verfügt. Dies setzt nach § 3 Abs. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Juli 1991 (BGBl. I S. 1739), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2652), voraus, dass der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33 b EStG ist, d.h. für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf, § 33 b Abs. 3 Satz 4 EStG.
Vor diesem Hintergrund ist eine Notwendigkeit nach § 3 Abs. 2 Satz 2 SchBefV für die Fahrten mit dem privaten Kraftfahrzeug zu den Haltestellen „…“ (bzw. baustellenbedingt vorübergehend zur Ersatzhaltestelle „…“) und „…“, von denen aus Busverbindungen zur J. K. Schule bestehen, die den besonderen Bedürfnissen der Klägerin Rechnung tragen, gegeben.
Die Einholung einer Stellungnahme der J. K. Schule zur Frage der Zumutbarkeit einer Ankunft vor Beginn der regulären Betreuungszeiten an der Schule und eines Umsteigens auf dem Schulweg war entgegen der Anregung des Beklagten nicht veranlasst, da der Schule eine aussagekräftige Beurteilung der Auswirkungen der sozio-emotionalen Störung der Klägerin in Situationen außerhalb des geregelten Schulalltags nicht möglich ist.
Die Klägerin hat nach all dem einen Anspruch auf Wegkostenentschädigung gem. § 3 Abs. 3 SchBefV in der geltend gemachten Höhe.
2. Der Klage war deshalb mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
Die Berufung ist nicht zuzulassen, da keiner der in § 124a Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO genannten Gründe vorliegt. Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zu, weil sich die streitigen Rechtsfragen ohne weiteres aus dem Gesetz und der vorhandenen Rechtsprechung beantworten lassen.


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