Verwaltungsrecht

Sicherung des Lebensunterhalts

Aktenzeichen  10 ZB 19.313

Datum:
18.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14541
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2, § 124a Abs. 4 S. 4
§ 31 Abs. 1, Abs. 4 S. 2
AufenthG § 2 Abs. 3, § 5 Abs. 1 Nr. 1
SGB II § 9 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Der Lebensunterhalt des Ausländers muss in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert sein. Lebt der Ausländer in einer Bedarfsgemeinschaft ist deren Bedarf maßgeblich. Reichen die tatsächlichen Mittel des Ausländers zur Bedarfsdeckung nicht aus, ist unerheblich, ob öffentliche Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden.   (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrages kann zur Beurteilung der Frage, ob die Prognose des Verwaltungsgerichts zur Lebensunterhaltssicherung ernsthaften Zweifeln begegnet, keine Berücksichtigung mehr finden, wenn der Antragsteller nicht innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist darauf hingewiesen hat.    (Rn. 7 – 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 12 K 18.3436 2018-08-23 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Klägerin verfolgt mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung ihre in erster Instanz erfolglose Klage, mit der sie die Verpflichtung der Beklagten begehrt, unter Teilaufhebung des Ablehnungsbescheids vom 22. Mai 2018 ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn die Klägerin im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Klageabweisung darauf gestützt, dass der Lebensunterhalt der Klägerin nicht dauerhaft gesichert sei. Die Klägerin habe keinerlei Erwerbseinkommen. Auch die Unterstützung durch ihren Vater, in dessen (angemieteter) Wohnung die Klägerin mit ihrem erwachsenen Sohn lebe, lasse keine positive Prognose zur Lebensunterhaltssicherung zu. Eine verbindliche Kostenübernahmeerklärung ihres Vaters liege nicht vor. Auch sei nicht ersichtlich, dass der Vater entsprechend dauerhaft leistungsfähig und leistungswillig sei. Ein Ausnahmefall, der es gebieten könnte, vom Erfordernis eines gesicherten Lebensunterhalts abzusehen, liege nicht vor.
Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Lebensunterhalt der Klägerin sei nicht dauerhaft gesichert, wird mit dem Zulassungsvorbringen nicht ernsthaft in Zweifel gezogen. Innerhalb der zweimonatigen Zulassungsbegründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, die aufgrund der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils am 11. Januar 2019 mit Ablauf des 11. März 2019 endete, hat die Klägerin lediglich mit Schriftsatz vom 11. März 2019 vorgetragen, dass die Prognose des Verwaltungsgerichts zur Lebensunterhaltssicherung schon deswegen fehlerhaft sei, weil sie in den vergangenen Jahren zu keiner Zeit Leistungen aus öffentlichen Mitteln bezogen habe. Dies begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Prognose.
Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Fall, wenn der Ausländer ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dabei bleiben die in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgeführten öffentlichen Mittel außer Betracht. Erforderlich ist mithin die positive Prognose, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft auf Dauer ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist. Lebt der Ausländer in einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 9 Abs. 1 und 2 SGB II, ist deren Bedarf maßgeblich (stRspr, vgl. etwa BVerwG, B.v. 8.4.2015 – 1 B 15/15 – juris Rn. 5 m.w.N.). Reichen die tatsächlichen Mittel des Ausländers zur Bedarfsdeckung nicht aus, ist unerheblich, ob öffentliche Leistungen tatsächlich in Anspruch genommen werden (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – BVerwGE 146, 198 – juris Rn. 13).
Dass die Klägerin mittlerweile in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis steht, begründet ebenfalls keine ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Zwar sind bei der Prüfung, ob der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vorliegt, auch solche nach materiellem Recht entscheidungserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen, die vom Verwaltungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung außer Betracht gelassen wurden, entweder weil sie von den Beteiligten nicht vorgetragen und mangels entsprechender Anhaltspunkte auch nicht von Amts wegen zu ermitteln waren oder weil es sich um nach Erlass des Urteils entstandene, neue Tatsachen handelt. Voraussetzungen dafür ist aber stets, dass diese Tatsachen innerhalb der Antragsfrist vorgetragenen wurden (für neuen Tatsachenvortrag BVerwG, B.v. 14.6.2002 – 7 AV 1/02 – juris Leitsatz; für neue Tatsachen Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand Juli 2019, VwGO § 124a Rn. 95; Stuhlfauth in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl. 2018, § 124 Rn. 29). Auf sich erst abzeichnende Tatsachen muss innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist hingewiesen werden (BayVGH, B.v. 27.2.2008 – 10 ZB 07.1644 – juris).
Da sich der Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrages zum 1. April 2019 durch den vorherigen Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrages zum 1. Oktober 2018 beim selben Arbeitgeber bereits vor Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist am 11. März 2019 abgezeichnet hatte, hätte seine Berücksichtigung im Zulassungsverfahren eines entsprechenden fristgerechten Hinweises bedurft. Tatsächlich hat die Klägerin hierzu erst über ein Jahr später mit Schriftsatz vom 24. März 2020 vorgetragen. Der Abschluss eines unbefristeten Arbeitsvertrages kann daher zur Beurteilung der Frage, ob die Prognose des Verwaltungsgerichts zur Lebensunterhaltssicherung ernsthaften Zweifeln im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO begegnet, keine Berücksichtigung mehr finden.
Unabhängig davon bestünden auch bei Berücksichtigung des Erwerbseinkommens der Klägerin im Ergebnis keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Denn auch dann ist mit dem Zulassungsvorbringen nicht dargelegt, dass der Bedarf der Klägerin ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gedeckt ist. Die Klägerin erzielt derzeit ein monatliches Nettoeinkommen von ca. 1.200 Euro. Dass sie hiervon ihren eigenen Bedarf einschließlich der Kosten für Unterkunft decken kann, ist nicht dargelegt. Insbesondere hat die Klägerin mit Schreiben vom 12. Juni 2020 den von der Beklagten bereits vermuteten Umstand eingeräumt, dass ihr Vater, der die Wohnung im Jahr 1994 angemietet hatte, mittlerweile bereits verstorben ist. Die Klägerin räumt weiter ein, dass der Vermieter und auch der Rentenversicherungsträger davon nicht in Kenntnis gesetzt wurden. Einen Nachweis, dass die Klägerin anstelle ihres Vaters in das Mietverhältnis eingetreten ist, gibt es nicht. Die Klägerin gibt lediglich an, die Mietkosten von monatlich ca. 620 Euro würden noch von einem Konto des (toten) Vaters beglichen. Angesichts der Tatsache, dass auf dieses Konto offenbar noch laufend zu Unrecht Rentenzahlungen für den bereits verstorbenen Vater überwiesen wurden und werden, sind weitere finanzielle Zuflüsse an die Klägerin aus dieser Quelle nicht zu erwarten. Es steht vielmehr im Raum, dass die Klägerin insofern mit erheblichen Rückforderungen des Rentenversicherungsträgers konfrontiert werden wird. Auch ist unklar, welchen Bedarf der mit der Klägerin offenbar in einer Bedarfsgemeinschaft lebende Sohn der Klägerin auslöst (zur Maßgeblichkeit des Bedarfs einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 9 Abs. 1 und 2 SGB II etwa BVerwG, B.v. 8.4.2015 – 1 B 15/15 – juris Rn. 5 m.w.N. zur stRspr.). Es ist nicht ohne Weiteres erkennbar, dass ein Nettoeinkommen von 1.200 Euro den Bedarf einer aus zwei Erwachsenen bestehenden Bedarfsgemeinschaft bei ungeklärter Wohnsituation und im Raum stehenden Regressansprüchen in erheblicher Höhe zu decken vermag. Ist jedoch in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft – gegebenenfalls also auch die Klägerin – im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig (§ 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II). Die bloße Vorlage eines unbefristeten Arbeitsvertrages begründet unter diesen Umständen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Prognose, der Lebensunterhalt der Klägerin sei nicht dauerhaft gesichert.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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