Verwaltungsrecht

Subsidiärer Schutz für schiitische Hazara in Pakistan

Aktenzeichen  M 23 K 14.31056

Datum:
18.5.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3, § 3a, § 3b, § 3c, § 3d, § 3e, § 4
Qualifikations-RL Qualifikations-RL Art. 4 Abs. 4
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Schiiten unterliegen aufgrund der gegenwärtig vorliegenden Erkenntnismittel in Pakistan keiner Gruppenverfolgung (wie VG München BeckRS 2016, 41266). (red. LS Clemens Kurzidem)
Speziell die Verfolgung schiitischer Hazara in Pakistan weist nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte auf, die zur Annahme einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt. Zwar stellen die schiitischen Hazara eine eigene Gruppe dar, die einer nicht unwesentlichen Verfolgung in Pakistan ausgesetzt ist, wobei eine Verfolgungsdichte im Promillebereich von 0,08 (bei der Annahme von 400 Opfern zu einer Gesamtgruppe von 500.000) für die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht ausreicht (vgl. VGH München BeckRS 2012, 54740). (red. LS Clemens Kurzidem)
Eine Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit setzt voraus, dass einzelne oder einige Mitglieder aus einer Gruppe aus einem bestimmten Anlass herausgegriffen und anlassgeprägt politischer Verfolgung unterworfen werden (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 49253). Nimmt ein schiitischer Hazara, der nicht in einer besonders herausgehobenen Position für die Gruppe tätig war, an der Organisation einer Demonstration in Quetta teil und führt dies nicht dazu, dass er persönlich bekannt und bedroht wurde, bestehen keine Anhaltspunkte für einen besonderen Verfolgungsdruck. (red. LS Clemens Kurzidem)
Schiitischen Hazara, die aufgrund ihrer zentralasiatischen Abstammung und ihrer Gesichtszüge landesweit erkannt würden, droht im Falle ihrer Rückkehr nach Pakistan die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, sodass ihnen nach § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG subsidiärer Schutz zuzubilligen ist. (red. LS Clemens Kurzidem)
Schiitische Hazara besitzen in Pakistan keine Möglichkeit, internen Schutz zu erlangen. Insbesondere ist ihnen außerhalb ihrer Siedlungsgebiete keine ausreichende Existenzsicherung möglich, da sie hierfür Gebiete aufsuchen müssten, wo sie für die Aufnahme einer Beschäftigung wiederum einer gesteigerten Verfolgungsgefahr ausgesetzt wären. (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat.
II.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. September 2014 wird in den Nummern 3, 4 und 5 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III.
Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zu Hälfte.
IIII.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Soweit die Bevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung die Klage im Hinblick auf den Offensichtlichkeitsausspruch mangels insoweit bestehenden Rechtsschutzbedürfnisses zurückgenommen hat (vgl. VG Düsseldorf, U.v. 12.3.2015 – 6 K 8197714.A; VG Münster, U.v. 20.1.2015 – 2 K 1355712.A – jeweils juris), war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
Im Übrigen ist die Klage teilweise begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts erweist sich daher insoweit als rechtswidrig, war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zuzuerkennen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat jedoch keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klage war daher insoweit abzuweisen.
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, da er sich nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslands befindet.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) – EMRK – keine Abweichung zulässig ist, oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist, vgl. § 3a Abs. 1 AsylG. Als Verfolgung in diesem Sinne können unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt gelten (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG), oder unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG). Die Prüfung der Verfolgungsgründe ist in § 3b AsylG näher geregelt. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es danach unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. In § 3a Abs. 3 AsylG ist geregelt, dass eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m § 3a Abs. 1 und 2 AsylG bestehen muss.
Die Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Schutz vor Verfolgung kann gemäß § 3d Abs. 1 AsylG nur geboten werden vom Staat oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz zu gewähren, vgl. § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat, § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG. Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn eine sogenannte interne Schutzalternative besteht, weil er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür dazulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377 – in Bezug auf den wortgleichen Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83 EG). Die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kommt dem vorverfolgten Antragsteller auch bei der Prüfung zugute, ob für ihn im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG (vgl. vormals Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (vgl. BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – NVwZ 2009, 1308 in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG). Mit Blick auf den Normzweck der Beweiserleichterung erscheint es nicht nachvollziehbar, der Prüfung internen Schutzes als Ausdruck der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes einen strengeren Maßstab zugrunde zu legen als der systematisch vorgelagerten Stellung der Verfolgungsprognose. Die hinter der Beweiserleichterung stehende Teleologie – der humanitäre Charakter des Asyls – verbietet es, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden (BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – NVwZ 2009, 1308).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – InfAuslR 1989, 349). Das Tatsachengericht darf dabei berücksichtigen, dass die Befragung von Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen mit erheblichen Problemen verbunden ist (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989, a. a. O.). Der Asylbewerber befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Wer durch Vortrag eines Verfolgungsschicksals um Asyl nachsucht, ist in der Regel der deutschen Sprache nicht mächtig und deshalb auf die Hilfe eines Sprachmittlers angewiesen, um sich mit seinem Begehren verständlich zu machen. Zudem ist er in aller Regel mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten des Aufnahmelands, mit Behördenzuständigkeiten und Verfahrensabläufen sowie mit den sonstigen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, auf die er nunmehr achten soll, nicht vertraut. Es kommt hinzu, dass Asylbewerber, die alsbald nach ihrer Ankunft angehört werden, etwaige physische und psychische Auswirkungen einer Verfolgung und Flucht möglicherweise noch nicht überwunden haben, und dies ihre Fähigkeit zu einer überzeugenden Schilderung ihres Fluchtgrunds beeinträchtigen kann (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – NVwZ 1996, 678).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze konnte das Gericht nicht die Überzeugung gewinnen, dass das Leben oder die Freiheit des Klägers in seinem Herkunftsland im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG bedroht ist.
Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass die Verfolgung schiitischer Hazara in Pakistan nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zur einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds aufweist.
Nach der ständigen Rechtsprechung besteht in Pakistan für Schiiten keine Gruppenverfolgung. Das Gericht macht sich insoweit die Ausführungen im Verfahren M 23 K 13.30964 (U.v. 12.6.2015 – juris Rn. 27 ff.) und die dortigen Verweise zu Eigen (vgl. auch VG Köln, U.v. 3.7.2015 – 23 K 581/14.a – juris). Dem Gericht liegen auch keine anderweitigen Erkenntnismittel vor, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten.
Allerdings gehört der Kläger darüber hinaus der Volksgruppe der Hazara an. Nach den Herkunftsländerinformationen (COI) des European Asylum Support Office besagt die am weitesten akzeptierte Theorie über die Ursprünge der Hazara, dass sie eine Mischrasse mongolischer Abstammung seien. Einige Mongolenstämme seien nach Ostpersien und in das heutige Afghanistan ausgewandert und hätten sich dort mit der einheimischen Bevölkerung vermischt. Die Hazara-Gemeinschaft in Pakistan konzentriere sich auf Quetta und werde auf rund 500.000 Menschen geschätzt, deren überwiegende Mehrheit schiitische Muslime seien. Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) gingen sunnitische Extremisten gezielt gegen die Hazara-Gemeinschaft in Quetta vor und würden sie in ihrer Bewegungsfreiheit einengen, weshalb eine wirtschaftliche Notlage entstanden sei und der Zugang zu Bildung und Beschäftigung eingeschränkt sei. Nach Angaben von HRW gehörte 2012 fast ¼ der in ganz Pakistan aus religiösen Motiven getöteten Schiiten zur Hazara-Gemeinschaft in Belutschistan, während 2013 ungefähr die Hälfte der in Pakistan getöteten Schiiten Hazara gewesen sei. (EASO – Herkunftsländerinformationen (COI), Pakistan – Länderüberblick – August 2015, S. 82f).
Auch der Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan (im Folgenden: Lagebericht) führt aus, dass besonderes Angriffsziel in den vergangenen Jahren verstärkt die schiitischen Hazara-Gemeinden in Belutschistan gewesen seien, die aufgrund ihrer zentralasiatischen Abstammung leicht zu identifizieren und nicht zuletzt auch deshalb in besonderem Maße von der Welle gegen Schiiten gerichteter Gewalt betroffen seien. 2014 seien dabei bei sektiererisch motivierten Angriffen 210 Menschen ums Leben gekommen. In Belutschistan seien 86 Menschen, die meisten davon Hazara, gestorben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der islamischen Republik Pakistan, Stand Juli 2015, S. 16). 2015 sei jedoch ein deutlicher Rückgang bei der Häufigkeit der Anschläge auf Hazara sowie bei der Anzahl der Todesopfer zu beachten gewesen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der islamischen Republik Pakistan, Stand Mai 2016, S. 16).
Die schiitischen Hazara stellen damit zweifelsohne eine eigene Gruppe dar, die einer nicht unwesentlichen Verfolgung in Pakistan ausgesetzt ist. Allerdings liegt aufgrund der genannten Zahlen zumindest derzeit noch keine Verfolgungsdichte vor, die zu einer konkreten aktuellen Gefahr für alle Gruppenmitglieder – und damit der Annahme einer Gruppenverfolgung – führt (vgl. zum Maßstab für Gruppenverfolgung Bundesverwaltungsgericht, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11/08, U.v. 2.2.2010 – 10 B 18/09 – jeweils juris). Im vorliegenden Fall ergibt sich eine Verfolgungsdichte von ca. 0,08 (bei der Annahme von 400 Opfern zu einer Gesamtgruppe von 500.000) und damit im Promillebereich; dies ist für die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht ausreichend (vgl. BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064; OVG NRW, U.v. 7.3.1996 – 13 A 1796/94.A – jeweils juris; Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand Dezember 2015, Art. 16a Rn. 56).
Der Kläger kann sich auch nicht erfolgreich auf eine Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit berufen. Gemäß der Rechtsprechung des BVerwG werden bei der Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit einzelne oder einige Mitglieder aus einer Gruppe aus bestimmten Anlässen herausgegriffen und einer politischen Verfolgung unterworfen (ausführlich hierzu: BVerwG, U.v. 30.10.1994 – 9 C 24/84 – juris Rn. 12; BVerfG B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85 – juris Rn. 41). Die Verfolgung muss dementsprechend anlassgeprägt sein (vgl. BVerwG U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 33). Es liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger in einer besonderen herausgehobenen Position für die Gruppe der schiitischen Hazara tätig war und damit einem besonderen Verfolgungsdruck ausgesetzt ist. Auch seine Teilnahme und Organisation an Demonstrationen in Quetta führte nach den Angaben des Klägers nicht dazu, dass er persönlich bekannt und bedroht wurde.
Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung droht. Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes i. S. d. § 4 Abs. 1 AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Verfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als anwendbar auch für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erklärt. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bildet den Wortlaut von Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrecht und Grundfreiheiten – EMRK – nahezu unverändert nach. Dadurch soll die inhaltliche Orientierung an der EMRK für den subsidiären Schutz festgeschrieben werden, wodurch auch die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – EGMR – zur Auslegung des Begriffs der unmenschlichen Behandlung übernommen werden sollte, ohne jedoch deckungsgleich zu sein (vgl. VG Oldenburg, U.v. 20.5.2015 – 5 A 2507/14 – juris Rn. 17 m. w. N.).
Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR muss die Behandlung ein – von den gesamten Umständen des Einzelfalls abhängiges – Mindestmaß an Schwere erreichen, um von Art. 3 EMRK erfasst zu werden (vgl. EGMR, Saadi/Italien, U.v. 28.2.2008 – 37201/06, NVwZ 2008, 1330, und M.S.S./Belgien und Griechenland, U.v. 21.1.2011 – 30696/06, NVwZ 2011, 413). Bei der Entscheidung darüber, ob im Falle einer Abschiebung die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, müssen die absehbaren Folgen unter Berücksichtigung der allgemeinen Lage im Bestimmungsland und der besonderen Umstände des Betroffenen geprüft werden. Eine Abschiebung kann die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK dabei nur begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer nach dem obigen Maßstab Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden („real risk“; vgl. EGMR, Saadi/Italien, a. a. O.); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (VGH Baden-Württemberg, U.v. 24.7.2013 – A 11 S 697/13, juris Rn. 75 unter Bezug auf BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris m. w. N.).
Das Gericht ist der Überzeugung, dass dem Kläger im Fall einer zwangsweisen Rückführung nach Pakistan eine solche menschenunwürdige Behandlung konkret droht und er hiergegen weder staatlichen Schutz noch eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung hat.
Der Kläger legte im Rahmen seiner informatorischen Anhörung durch das Gericht nachvollziehbar dar, dass sich die Situation für schiitische Hazara in Pakistan in den letzten Jahren drastisch verschlechtert hat. So führte der Kläger aus, dass er als Kind ganz normal in Quetta gelebt habe und es bis 2001 dort keinen besonderen Bedrohungen gegeben habe. Auch als er zwischen 2004 und 2006 wieder in Quetta gewesen sei, sei er nicht persönlich bedroht worden. Damals seien gezielt nur gebildete Hazara getötet worden. Seit 2009 erfolge jedoch ein stetiger Anstieg der Verfolgung. Drei Monate vor seiner Ausreise habe es einen Selbstmordanschlag gegeben. Die Terroristen hätten zum Teil ganze Busse in die Luft gejagt, zum Teil aber auch Busse angehalten, die Hazara identifiziert und diese getötet. Sie hätten auch einzelne Läden überfallen und dort die Leute umgebracht. Die Hazara würden an ihren Gesichtszügen erkannt und könnten sich nirgends verstecken. In Quetta gebe es zwischen den Bergen einen Stadtteil – Mari Abad – in dem hauptsächlich schiitische Hazara leben würden. Man lebe dort wie in einem Gefängnis. Immer wenn man zu Behörden, Geschäften oder zur Arbeit müsse, müsse man durch Gegenden, wo auch die Verfolger seien. Er habe mit seiner Familie in einem Vorort gelebt, da sie sich Mari Abad nicht hätten leisten können. Die Verfolgung werde auch von dem pakistanischen Geheimdienst wahrgenommen, jedoch von der pakistanischen Polizei nicht mit ausreichendem Engagement verfolgt. Richter würden bedroht, damit sie keine Urteile sprächen, und auch umgebracht. Darüber hinaus unterstütze die Belutschistan Liberation Army die Terroristen mit Waffen.
Diese Ausführungen werden von den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln gestützt. Sowohl der Lagebericht als auch die EASO-Herkunftsländerinformation führen aus, dass in den vergangenen Jahren besonderes Angriffsziel die schiitischen Hazara-Gemeinden in Belutschistan seien, die aufgrund ihrer zentralasiatischen Abstammung leicht zu identifizieren und nicht zuletzt auch deshalb in besonderen Maße von der Welle gegen Schiiten gerichteter Gewalt betroffen seien (Lagebericht 2016, a. a. O., S. 16). Der Lagebericht aus dem Jahr 2014 führt aus, dass zwischen 2011 und 2013 vor allem in der Hauptstadt Belutschistans, Quetta, zahlreiche schwere Anschläge auf die Hazara-Gemeinschaft verübt worden seien mit mehreren 100 Todesopfern. Allein im Januar und Februar 2013 seien bei zwei in Abstand von nur wenigen Wochen verübten Anschlägen über 170 Menschen getötet, fast 500 weitere zum Teil schwer verletzt worden. In beiden Fällen habe sich die radikal-sunnitische Gruppierung Lashkar-e Jhangvi zur Tat bekannt (vgl. Lagebericht 2014, S. 17). Nach der EASO-Herkunftsländerinformation leide Belutschistan nicht nur unter nationalistischen Aufständen, sondern auch unter religiös motivierter Gewalt. Die lokale schiitische Gemeinschaft, meist Hazara, werde zunehmend Opfer terroristischer Anschläge. Zwischen 2003 und 2014 seien durch diese Gewalt rund 550 Hazara gestorben, größtenteils in Quetta. Es werde allgemein davon ausgegangen, dass hierfür Lashkar-e Jhangvi verantwortlich sei. Die Zahl der Todesopfer sei in den letzten Jahren gestiegen. Am 10. Januar 2013 habe eine Autobombe mehr als 100 Schiiten getötet, während am 17. Februar 2013 durch eine weitere Bombe in Quettas Hazara-Stadt mehr als 80 Menschen gestorben seien (EASO, a. a. O., S. 67). Der Bericht führt weiter aus, dass nach Angaben von Human Right Watch (HRW) sunnitische Extremisten gezielt gegen die Hazara-Gemeinschaft in Quetta vorgingen und diese in ihrer Bewegungsfreiheit einengten, weshalb eine wirtschaftliche Notlage entstanden und der Zugang zu Bildung und Beschäftigung eingeschränkt sei. Nach Angaben von HRW hätten 2012 fast ¼ der in ganz Pakistan aus religiösen Motiven getöteten Schiiten zur Hazara-Gemeinschaft in Belutschistan gehört, während 2013 ungefähr die Hälfte der in Pakistan getöteten Schiiten Hazara gewesen sei (a. a. O., S. 82f). Innerhalb von Quetta würden Hazara überwiegend in ihren beiden eigenen Gemeinschaften – Hazara-Town und entlang der Alamdar-Road Richtung Mehrabad leben. Dabei handle es sich tendenziell um Gebiete am Stadtrand von Quetta, wo Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen leben würden (a. a. O., S. 109). Da die Hazara die einzige Gemeinschaft seien, die sich äußerlich von den anderen Unterscheide, und da sie fast ausschließlich Schiiten seien, habe sie in den vergangenen Jahren die Hauptlast religiös motivierter Terroranschläge in Pakistan mit einer starken Zunahme solcher Anschläge tragen müssen (a. a. O., S. 109).
Der Kläger hat auch nachvollziehbar dargelegt, dass ihm auch eine menschenwürdige Existenz in dem mehrheitlich von schiitischen Hazara bewohnten Gebiet in Quetta nicht möglich ist. Bereits dort ist aufgrund der Verfolgungssituation eine erhebliche wirtschaftliche Notlage entstanden und der Zugang zu Bildung und Beschäftigung eingeschränkt. Dennoch nimmt der Wohndruck auf diese Gebiete in einem hohen Maße zu, so dass viele – wie auch der Kläger – es sich nicht mehr finanziell leisten können, in diesen „relativ“ sicheren Gegenden zu leben und zu arbeiten. Der Kläger wäre daher drauf angewiesen, – wie auch vor seiner Ausreise – in einem Randgebiet von Quetta zu leben und müsste sich für Arbeitssuche, Einkäufe und sonstige Bedürfnisse des täglichen Lebens durch unsichere Gebiete bewegen und sich dabei möglichst versteckt zu halten, da Hazara durch ihr Aussehen und ihre Sprache überall in Pakistan auffallen (vgl. Lagerbericht 2015, a. a. O., S. 21). Ein solches Leben, ohne die Möglichkeit seinen Stadtteil – sei es auch nur zur Arbeitssuche und -aufnahme – zu verlassen und wie in einem Ghetto eingesperrt zu sein, stellt eine menschenunwürdige Behandlung dar.
Darüber hinaus ist dem Kläger unter diesen Vorgaben auch keine ausreichende Existenzsicherung möglich, da er hierfür Gebiete aufsuchen müsste, in denen er die Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme hat; hierdurch muss er sich jedoch wieder einer gesteigerten Verfolgungsgefahr aussetzen.
Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist auch nicht davon auszugehen, dass sich die Situation für die schiitischen Hazara in Pakistan aktuell verbessert hat. Vielmehr dürfte die, die schiitischen Hazara insbesondere verfolgende Gruppierung Lashkar-e Jhangvi durch die Unterstützung von für die Unabhängigkeit Belutschistans kämpfenden Gruppierungen weiter wachsen. Auch staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Gefahr sind nicht in ausreichendem Maße erkennbar. Von einem Abflauen der Anschläge ist folglich nicht auszugehen.
Wie bereits ausgeführt hat der Kläger aufgrund seines Aussehens und seiner Sprache auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Zwar gibt es nördlich von Islamabad eine weitere Ansiedlung von Hazara (ca. 3 Millionen), diese sind aber Sunniten und mit den aus Afghanistan stammenden Hazara nicht verwandt (vgl. Lagebericht 2015, a. a. O., S.21).Der Kläger wäre folglich auch dort der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt.
Der Kläger hat auch keine Möglichkeit, gegen die Übergriffe staatlichen Schutz zu erlangen, § 3e Abs. 1 Nr. 1, 2. Alternative AsylG. Der Lagebericht (a. a. O., S. 6) führt aus, dass der Staat seiner Schutzpflicht gegenüber Opfer religiös motivierter Gewalt nicht ausreichend nachkomme. Staatsanwaltschaft und Polizei gelinge es nicht, belastende Beweise in gerichtsverwertbarer Form vorzulegen. Zum geringen Ansehen der Polizei würden die extrem hohe Korruptionsanfälligkeit ebenso beitragen wie häufige, unrechtmäßige Übergriffe und Verhaftungen sowie Misshandlungen von in Polizeigewahrsam genommenen Personen. Die Polizeikräfte seien lokalem Machtstrukturen eingebunden und daher nicht in der Lage, unparteiliche Untersuchungen durchzuführen. So würden häufig Strafanzeigen gar nicht erst aufgenommen und Ermittlungen verschleppt (a. a. O., S. 10f). Der Bericht des Bundesasylamts der Republik Österreich führt aus, dass die Polizei sich oft um Drohungen nicht kümmere und eher daneben stehe, als einzugreifen (BAA, Bericht zur fact finding Mission, Pakistan 2013, S. 46).
Das Gericht geht daher davon aus, dass dem Kläger im Fall einer Rückkehr nach Pakistan eine menschenunwürdige Behandlung droht, der er sich auch nicht entziehen kann. Da für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ausschließlich der aktuelle Zeitpunkt maßgeblich ist, ist auch nicht von Relevanz, ob bereits zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers 2010 eine solche menschenunwürdige Behandlung vorgelegen hat und der Kläger somit vorverfolgt ausgereist ist.
Nach alledem war der Klage auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG hinsichtlich Pakistans und der Aufhebung der entgegenstehenden Nr. 3, 4 und 5 des Bescheids des Bundesamts vom 23.9.2014 stattzugeben und die Klage im Übrigen abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 155 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z. B. Beschluss vom 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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