Verwaltungsrecht

Syrischem Asylsuchenden ist Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen

Aktenzeichen  M 13 K 16.34386

Datum:
19.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 163025
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4, § 28 Abs. 1a

 

Leitsatz

Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht, wenn sich der Ausländer durch seinen Auslandsaufenthalt der Wehrüberwachung entzogen hat. (Rn. 17 – 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger zu 2. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für … vom 14. November 2016 wird, soweit sie dem entgegensteht, aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 
II. Die Kläger zu 1. und 3. tragen die Kosten ihres Verfahrens. Im Übrigen trägt die Beklagte die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Schuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Gläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage bezüglich des Klägers zu 2. hat in der Sache Erfolg, da dem Kläger zu 2. ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klagen der Kläger zu 1. und 3. haben keinen Erfolg. Ihnen steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht zu (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG).
1. Nach § 3 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), neu gefasst durch das Gesetz zur Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 28. August 2008 (BGBl I S. 3474), ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich außerhalb seines Herkunftslandes aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe befindet. Diesem Flüchtling wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG), soweit nicht bestimmte, in § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG geregelte Exklusionsklauseln den Flüchtlingsschutz ausschließen.
Als Verfolgungshandlung, die den Flüchtlingsschutz im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auslösen, gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG entweder Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder solche Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in vorstehend beschriebener Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
Neben der staatlichen Verfolgung (§ 3c Nr. 1 AsylG) kann die Verfolgungshandlung auch von Parteien oder Organisationen ausgehen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den vorgenannten Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG).
Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob der Flüchtling tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
2. Die hier einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen beim Kläger zu 2. vor. Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob der Kläger zu 2. vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend gegeben.
a) Syrischen Staatsangehörigen droht bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus zwar nicht schon allein deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil sie Syrien (illegal) verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längerfristig in Deutschland aufgehalten haben (hierzu ausführlich BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 ZB 16.320338, 21 ZB 16.30364, 21 ZB 16.30371, 21 ZB 16.30372 – juris; OVG NW, B.v. 6.10.2016 – 14 A 1852/16.A – juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17/16 – juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10922/16 – juris)
b) Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht zur Überzeugung des Gerichts jedoch aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger zu 2. jedenfalls durch seinen Auslandsaufenthalt der Wehrüberwachung entzogen hat (BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30372 juris; a.A. OVG Saarl, U.v. 2.2.2017 – 2 A 515/16 – juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10920/16.OVG – juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17/16 – juris). Nach der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 8. November 2016 an das OVG Schleswig-Holstein sehen sich „besonders männliche syrische Staatsangehörige (…) nach einer Wiedereinreise in das durch die syrische Regierung kontrollierte Gebiet wenn älter als 18 Jahre der Einberufung in den Wehrdienst gegenüber. (…) Auch wenn der Wehrdienst bereits verrichtet wurde kommt es seit Anfang 2011 dazu, dass männliche Staatsangehörige bis zu einem Alter von 42 Jahren erneut eingezogen werden“ (Auskunft der Deutschen Orient-Stiftung – Deutsches Orient-Institut vom 8.11.2016 an das OVG SH im Verfahren 3 LB 17/16).
Der Kläger zu 2. hat zwar aufgrund seines Alters in der Vergangenheit noch keinen Militärdienst geleistet. Er unterliegt jedoch aufgrund des Alters im Zeitpunkt seiner möglichen Rückkehr nach Syrien der Wehrüberwachung, so dass er nach der Auskunftslage in diesem Fall jederzeit mit der Heranziehung zum Militärdienst durch die syrische Armee rechnen muss. Aufgrund seiner Flucht und der damit verbundenen vorsorglichen Entziehung vom Militärdienst in der syrischen Armee muss der Kläger zu 2. nach der Auskunftslage in besonderer Weise damit rechnen, im Zusammenhang mit einer Rückkehr nach Syrien vom syrischen Staat verfolgt zu werden.
c) Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen dabei auch die Bejahung des mit dem Kriterium der begründeten Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) der Sache nach vorgegebenen bzw. geforderten Gefährdungsgrades hinsichtlich einer entsprechenden Rechtsgutsverletzung nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. im Einzelnen BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22 Rn. 23 zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Insoweit die subjektive Seite in den Blick nehmend („begründete Verfolgungsfurcht“) ist nach Auffassung des Gerichts offenkundig, dass aufgrund der realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene bzw. auch ohne bereits erfolgte Einberufung zum Militärdienst auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen bzw. wegen des Verdachts der Wehrdienstentziehung hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, es einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten wäre, jetzt als ehemaliger Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung wegen der Entwicklungen in jüngerer Zeit nicht mehr gerechtfertigt wäre, liegen nicht vor. Soweit das Auswärtige Amt in einer aktuellen Stellungnahme der Botschaft Beirut vom 3. Februar 2016 ausführt, dass keine Erkenntnisse dazu vorliegen, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erleiden hätten, so bedeutet dies nicht, dass eine derartige Behandlung von Rückkehrer aus dem westlichen Ausland unwahrscheinlich ist. Denn es sind nach der Auskunft Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien. Diese stehen überwiegend in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern), aber auch in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten bzw. möglichen Militär- /Reservedienst.
d) Die (für den Fall einer Rückkehr mit Kontakt zu den syrischen Behörden anzu-nehmende) Gefährdung des Klägers zu 2. (Foltergefahr bei Rückkehrbefragung) würde des Weiteren zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls auch an eine zumindest vermutete politische Gesinnung und damit an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Konventionsmerkmale anknüpfen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG zur Zuschreibung relevanter Merkmale durch den Verfolger; siehe hierzu auch VGH BW, B.v. 29.10.2013 – A 11 S 2046/13; Hess VGH, B.v. 27.1.2014 – 3 A 917/13.Z.A; OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.1.2014 – 3 N 91.13; a.A. OVG NRW, B.v. 13.2.2014 – 14 A 215/14.A; alle in juris).
e) Eine zumutbare inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG innerhalb des Herkunftslandes besteht derzeit zur Überzeugung des Gerichts nicht.
Da eine geordnete Rückkehr aus Deutschland im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) stets nur über den vom syrischen Regime kontrollierten Flughafen in Damaskus unter vorheriger Ankündigung bei den syrischen Behörden erfolgen würde, besteht die wahrscheinliche Gefahr, im Falle einer Rückkehr bereits an der Grenze zum Zwecke einer Rückkehrerbefragung bzw. zur Verfolgung wegen der Entziehung vom Militär-/Reservedienst verhaftet und von menschenrechtswidriger Behandlung bedroht zu sein.
f) Es ist schließlich auch nichts dafür ersichtlich, dass der Annahme bzw. (förmlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 oder 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) entgegenstehen könnte.
3. Die einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen bei den Klägern zu 1. und 3. nicht vor. Die Kläger zu 1. und 3. sind weder vorverfolgt aus Syrien ausgereist noch liegt ein beachtlicher Nachfluchttatbestand vor (§ 28 Abs. 1a AsylG).
Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger zu 1. und 3. vorverfolgt aus Syrien ausgereist sind, sind nicht ersichtlich.
Syrischen Staatsangehörigen droht bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus nicht schon allein deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil sie Syrien (illegal) verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längerfristig in Deutschland aufgehalten haben (hierzu ausführlich BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 ZB 16.320338, 21 ZB 16.30364, 21 ZB 16.30371, 21 ZB 16.30372 – juris; OVG NW, B.v. 6.10.2016 – 14 A 1852/16.A – juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17/16 – juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10922/16 – juris).
Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 führt zur Behandlung von Rückkehrern aus, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt befragt würden. Eine vorherige Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien für sich allein aber kein Grund für eine Verhaftung oder Repressalien. Auch nach der Auskunft der Botschaft Beirut an das Bundesamt für … vom 3. Februar 2016 liegen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer nach Syrien ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe oder Sanktionen zu erleiden hätten.
Gefahrerhöhende Umstände bei den Klägern zu 1. und 3. sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere gehören die Kläger nicht der Personengruppe an, die sich durch die Ausreise dem Militärdienst entzogen haben (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30372 – juris). Die Klägerin zu 1. ist weiblich, der Kläger zu 3. ist zum Zeitpunkt der Entscheidung 15 Jahre alt. Beide können daher der Risikogruppe der wehrdienstfähigen Männer zwischen 18 und 42 Jahren nicht zugeordnet werden.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 83 b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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