Verwaltungsrecht

Ukraine, isolierte Abänderung der Feststellung von Abschiebungsverboten, alleinerziehende Mutter von drei minderjährigen Kindern

Aktenzeichen  W 6 K 21.30669

Datum:
2.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 43242
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
AsylG § 77 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens von Beteiligten entscheiden, da hierauf in der Ladung zur mündlichen Verhandlung hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte war zur mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladen.
Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Denn der Bescheid des Bundesamts vom 27. Mai 2021, soweit er noch verfahrensgegenständlich ist, ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO. Denn die Ablehnung der Abänderung der Entscheidung über das Bestehen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG erging rechtmäßig.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Antrag der Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt, denn ein Abschiebehindernis nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG liegt hier nicht vor. Die Kläger haben daher weder einen Anspruch auf eine Änderung des streitgegenständlichen Bescheids unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG noch auf ein sogenanntes „Wiederaufgreifen im weiteren Sinne“ nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1, § 49 Abs. 1 VwVfG. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid, § 77 Abs. 2 AsylG.
Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
1. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Ukraine liegt nicht vor. Insbesondere ergibt sich ein solches nicht aus Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6). Nach der Rechtsprechung des EGMR reicht der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK annehmen zu können. Ausländer können auch kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Denn die EMRK zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Anderes gilt nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen zielstaatsbezogene humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (EGMR [GK], U.v. 27.5.2008 – N./Vereinigtes Königreich, Nr. 26565/05 – NVwZ 2008, 1334 Rn. 42; siehe auch BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 23, 25). Für den Geltungsbereich von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh), der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, hat sich der EuGH dieser Bewertung angeschlossen und ausgeführt, diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre (erst) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit von Behörden zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 92 unter Verweis auf EGMR, U.v. 21.11.2011 – M.S.S./ Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – juris Rn. 252 f.). Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 93; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 – juris Rn. 91; vgl. auch Bülow, ZAR 2020, 72 [73]).
Im Hinblick auf den Grad der Wahrscheinlichkeit stellt der EGMR darauf, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 6 m.w.N.). Dies entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Ein gewisser Grad an Mutmaßung ist dabei dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent und es kann daher nicht ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis verlangt werden, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (EGMR, U.v. 9.1.2018 – X./Schweden, Nr. 26417/16 – BeckRS 2018, 52619 Rn. 50).
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor.
Soweit die Kläger sinngemäß auf den seit Jahren schwelenden Konflikt in der Ostukraine und auf die Situation in den vom ukrainischen Staat nicht kontrollierten Gebieten hinweisen, sind sie auf andere Landesteile der Ukraine zu verweisen, in denen es keine politischen Spannungen wie in den Teilbereichen gibt. Gleiches gilt für die pauschale Behauptung, der Ehemann der Klägerin zu 1) bzw. Vater der Kläger zu 2) bis 4) bedrohe die Familie und werde die Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr in die Ukraine finden, ihr die Kinder wegnehmen und sie töten. So bestehen bereits erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Urteils vom 17. März 2021 im vorangegangenen Verfahren W 6 K 20.31284 hierzu wird insoweit verwiesen. Aber selbst bei Wahrunterstellung dieses Vorbringens ist davon auszugehen, dass sich die Klägerin zu 1) an die ukrainischen Behörden und die Polizei wenden kann. Der ukrainische Staat ist ausweislich der Erkenntnislage in der Lage und willens, seinen Bürgern Schutz zu gewähren, auch wenn ein lückenloser Schutz nicht möglich ist. Es ist weder ersichtlich noch wurde es vorgetragen, dass im Falle der Kläger die Sachlage anders zu beurteilen wäre.
Auch unter Berücksichtigung der hier vorliegenden persönlichen Verhältnisse, insbesondere der Tatsache, dass die Klägerin zu 1) alleinerziehende Mutter von drei kleinen Kindern ist und vor acht Jahren die Ukraine verlassen hat, ist das Gericht davon überzeugt, dass zwingende humanitäre Gründe nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegen eine Rückkehr der Kläger in die Ukraine sprechen. Es ist davon auszugehen, dass die Kläger dort in der Lage sein werden, sich eine Lebensgrundlage (zumindest am Rande des Existenzminimums) zu erwirtschaften.
Nach der gegenwärtigen Auskunftslage stellt sich die Grundversorgung für Rückkehrer aus Deutschland, wie für die meisten Menschen in der Ukraine, als knapp ausreichend dar. Die medizinische Versorgung ist grundsätzlich kostenlos und flächendeckend, obgleich für qualitativ hochwertige Leistungen bisweilen private Zuzahlungen geleistet werden müssen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine vom 30.5.2021, Stand Februar 2021, S. 18 ff.). Die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gesichert und es besteht ein Sozialsystem, in welchem beispielsweise Geburtenzuschüsse und Familienbeihilfen ausgezahlt werden. Alleinstehende Personen mit Kindern – wie hier – können in Form einer Beihilfe für Alleinerziehende staatlich unterstützt werden. Diese werden für Kinder unter 18 Jahren ausbezahlt. Die Zulage orientiert sich am Existenzminimum für Kinder (80% des Existenzminimums für Erwachsene, welches seit dem 1.12.2019 mit 2.027 UAH beziffert wurde) und dem durchschnittlichen Familieneinkommen. Diese Form der Unterstützung ist mit einer maximalen Höhe von 1.626 UAH für Kinder im Alter bis zu sechs Jahren und 2.027 UAH für Kinder im Alter von sechs bis 18 Jahren pro Monat gedeckelt. Zusätzlich gibt es für Minderjährige staatliche Unterstützungen in Form von Familienbeihilfen, die an arme Familien vergeben werden (ausführlich BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Ukraine, Gesamtaktualisierung vom 6.7.2020, S. 50 ff.).
Zusätzlich zu diesen staatlichen Unterstützungsleistungen für die Klägerin zu 1) als Alleinerziehende sowie die Kläger zu 2) bis 4) als minderjährige Kinder können die Kläger zur Bestreitung eines zumindest menschenwürdigen Lebensunterhalts zumindest teilweise auf die Arbeitsleistung der Klägerin zu 1) verwiesen werden. Diese hat in der Ukraine eine Ausbildung zur Zahnärztin absolviert und als solche gearbeitet. Auch wenn das Gericht nicht übersieht, dass die Klägerin zu 1) wegen ihrer Kinder nicht uneingeschränkt arbeiten gehen kann, sind die Kläger grundsätzlich gehalten, nicht nur die Möglichkeiten des ukrainischen Sozialsystems auszuschöpfen, um eventuelle Gefahren zu vermeiden bzw. jedenfalls zu minimieren, sondern gegebenenfalls auch auf private Unterstützung, auch in finanzieller Form, etwa durch Verwandte (auch im Ausland), zurückzugreifen. Der Ehemann der Klägerin zu 1) ist als Vater der Kläger zu 2) bis 4) jedenfalls unterhaltspflichtig. Es besteht daher zum einen die Möglichkeit, ihn zu Unterhaltsleistungen heranzuziehen. Zum anderen kann sich die Klägerin zu 1) – wie auch vom Bundesamt vorgebracht – auf Unterstützung durch ihren Bruder und ihre Eltern verweisen lassen. Im Übrigen sind die Kläger auf die möglichen Rückkehr- und Starthilfen für freiwillige Rückkehrer zu verweisen. Damit ist die Finanzierung eines einfachen Lebensunterhalts in den ersten Monaten nach der Rückkehr grundsätzlich möglich. Hierbei kommt es nicht darauf an, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn es kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – BVerwGE 104, 265).
2. Für das Bestehen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist weder etwas ersichtlich noch vorgetragen. Auf die Ausführungen des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid wird Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83 b AsylG).


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