Verwaltungsrecht

Umfang des Kostenerstattungsanspruchs nach § 36a SGB II und Frage der Überprüfbarkeit der Kalkulation und Angemessenheit der Kosten des Frauenhauses

Aktenzeichen  S 52 AS 538/13

Datum:
22.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 71725
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 36, § 36a
SGG § 54 Abs. 5

 

Leitsatz

Die durch einen Frauenhausaufenthalt entstandenen und im Rahmen des Erstattungsanspruchs nach § 36a SGB II geltend gemachten Kosten sind nur daraufhin überprüfbar, ob die geltend gemachten Kosten tatsächlich angefallen sind und ob die Kalkulation nachvollziehbar ist; eine darüber hinausgehende Prüfung hat nicht zu erfolgen.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Euro 5.809,92 als Kosten für den Aufenthalt von Familie A. im Frauenhaus A-Stadt vom 20. August bis 5. September 2008 zu bezahlen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die erhobene allgemeine Leistungsklage im Sinne von § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist zulässig und begründet.
Ein Erstattungsstreit zwischen Sozialleistungsträgern ist ein Parteienstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt und vorliegend auch nicht erfolgt ist. Aufgrund dessen war kein Vorverfahren durchzuführen; die Einhaltung einer Klagefrist war nicht erforderlich (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 23. Juli 2002, Az. B 3 KR 64/01 R).
Die Beteiligten waren auch prozessführungsbefugt, d. h., sie waren berechtigt, den materiellen Anspruch im eigenen Namen gerichtlich zu verfolgen bzw. diesem entgegenzutreten. Hier hat durch den Umzug von Familie A. am 20. August 2008 in das Frauenhaus A-Stadt ein Wechsel in der örtlichen Zuständigkeit der kommunalen Träger stattgefunden.
Aus dem Wortlaut von § 36SGB II ergibt sich, dass durch die Aufnahme im Frauenhaus die örtliche Zuständigkeit des kommunalen Trägers vor Ort begründet wird. Schuldner des Erstattungsanspruchs war die Beklagte als Kommune des bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsortes von Frau A..
Die Beklagte hat dem Kläger die durch den Frauenhausaufenthalt tatsächlich entstandenen Kosten in Höhe von Euro 5.809,92 gemäß § 36aSGB II zu erstatten.
Gemäß § 36aSGB II ist der kommunale Träger am bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsort der ins Frauenhaus flüchtenden Frau verpflichtet, dem durch die Aufnahme im Frauenhaus zuständigen kommunalen Träger am Ort des Frauenhauses die Kosten für die Zeit des Aufenthalts zu erstatten.
Die Voraussetzungen für eine Erstattungspflicht der Beklagten dem Grunde nach lagen vor und wurden auch nicht (mehr) bestritten:
Das Frauenhaus A-Stadt ist eine Zufluchtsstätte für Frauen und ggf. ihre Kinder, die von ihren Partnern physisch oder psychisch misshandelt wurden und sich dementsprechend in einer Gefährdungssituation befinden.
Die Erstattungspflicht bezieht sich auf die Kosten, die aufgrund der Aufnahme beim Träger des Frauenhauses während des Aufenthalts verursacht werden.
§ 36aSGB II beschränkt sich dabei nicht allein auf die Kosten der flüchtenden Frau, sondern kann auch einen Ersatzanspruch für die durch die Aufnahme der Kinder verursachten Kosten begründen, da der Gesetzeswortlaut von einer Zuflucht suchenden Person spricht. Ebenso wie Frau A. haben auch deren drei Kinder aus den gleichen Gründen im Frauenhaus A-Stadt Zuflucht gesucht (vgl. Link in Eicher: SGB II, § 36a Rn. 19).
Von der Erstattungspflicht umfasst sind neben den Unterkunftskosten auch weitere kommunale Eingliederungsleistungen wie die psychosoziale Betreuung im Sinne von § 16a Nr. 3SGB II. Diese beinhaltet Maßnahmen, die zur psychischen und sozialen Stabilisierung des Betroffenen dienen, soweit sie zur Eingliederung in Arbeit erforderlich waren (vgl. BSG, Urteil vom 23. Mai 2012, B 14 AS 190/11 R). Zum Teil wird vertreten, dass die dauerhafte Eingliederung einer alleinerziehenden Mutter in Arbeit ohne Kinderbetreuung und ohne psychische und soziale Stabilisierung auch der der Kinder nicht möglich ist (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. Februar 2010, Az. L 1 AS 36/09).
Dass die Voraussetzungen bei Frau A. und ihren drei Kindern vorlagen, wurde auch von der Beklagten nicht bestritten: Zum Zeitpunkt des Frauenhausaufenthalts war Frau A. hilfebedürftig und erwerbsfähig; sie bezog Leistungen nach dem SGB II vom Jobcenter A-Stadt. Die Leistungen im Frauenhaus umfassten verschiedene Maßnahmen, die Frau A. auf ein selbstständiges Leben nach dem Frauenhausaufenthalt und auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit vorbereiten sollten: Dies waren insbesondere Unterstützungsmaßnahmen zur Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts. Es liegt auf der Hand, dass besonders letzteres unabdingbare Voraussetzung ist, um nach den erlebten, möglicherweise traumatischen Erfahrungen in den Alltag zurückkehren zu können. Weitere Leistungen (Hilfestellungen bei der Wohnungssuche, Beratungsgespräche und Hilfen gegenüber Behörden, Beratung in familien- und sozialrechtlichen Angelegenheiten) dienten der konkreten Planung des Lebens nach dem Aufenthalt im Frauenhaus.
Hinsichtlich der Kosten für die Kinder von Frau A. gilt nichts anderes: Diese vier Personen bildeten eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Nr. 4SGB II, sie erhielten entsprechend dem Bescheid vom 17. Dezember 2008 gemeinschaftlich Grundsicherungsleistungen. Die psychosoziale Betreuung im Frauenhaus konnte zwar nicht der Eingliederung dieser Kinder in Arbeit dienen, sie war aber Voraussetzung dafür, dass Frau A. nach Beendigung des Aufenthalts wieder ein selbstbestimmtes Leben mit einer Erwerbstätigkeit führen konnte. Im Übrigen sind Kinderbetreuungskosten auch Leistungen (an die Mutter), die zur Eingliederung in das Erwerbsleben dienen, vgl. § 16a Nr. 1SGB II.
Die Kernfrage des vorliegenden Rechtsstreits ist die Kalkulation der Kosten des Frauenhauses A-Stadt und die Überprüfbarkeit der Angemessenheit dieser Kosten.
Hierbei ist zu beachten, dass die Regelung des § 36aSGB II geschaffen wurde, um einer einseitigen Belastung der Kommunen entgegenzuwirken, in deren Zuständigkeitsbereich ein Frauenhaus betrieben wird. Die Erfahrung hat gezeigt, dass misshandelte Frauen häufig in ein Frauenhaus flüchten, das außerhalb ihrer Heimatkommune liegt. Diese Tatsache soll nicht zulasten der aufnehmenden Kommune gehen. Diese darf durch den Sitz eines Frauenhauses nicht schlechter gestellt werden und höhere Kosten aufwenden müssen.
Im Gesetz ist nicht ausdrücklich geregelt, dass alle tatsächlich angefallenen Kosten von der Herkunftskommune zu erstatten sind. § 36a spricht nur von „Erstattung der Kosten“. In seiner Entscheidung vom 23. Mai 2012 (s. o.) führt das BSG aus, dass die Vorschrift des § 36aSGB II zwar zum Ziel habe, in gewissem Umfang einen Kostenausgleich im Hinblick auf die Unterstützung von Frauenhäusern durch Kommunen zu schaffen. Eine umfassende Finanzierungsregelung sei damit aber nicht verbunden. Das BSG bezieht sich damit aber lediglich auf die Voraussetzung der Erwerbsfähigkeit der zufluchtssuchenden Frau und stellt klar, dass eine Kostenerstattungsregelung für nichterwerbsfähige Hilfebedürftige bewusst fehle. Im vorliegenden Fall ist aber unstreitig, dass Frau A. erwerbsfähig und § 36aSGB II für die Erstattungspflicht grundsätzlich Anwendung finden musste.
Die Beklagte hat eingewendet, dass das Führen eines Frauenhauses mit einer dauerhaft geringen Auslastung von etwa 60% nicht den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entspreche. Wenn über mehrere Jahre stets Plätze unbesetzt geblieben seien, hätte an die Reduzierung der Kapazität des Frauenhauses gedacht werden müssen, um die Kosten zu senken. Die aus der geringen Auslastung resultierenden höheren Tagessätze des Frauenhauses A-Stadt dürften nicht der Herkunftskommune auferlegt werden.
Vorliegend ist festzustellen, dass die eingeklagten Kosten für die Betreuung von Familie A. in Höhe von Euro 5.809,92 tatsächlich angefallen sind. Das Frauenhaus hat in seinen Jahresberichten und Ergebnisrechnungen vollständig und schlüssig die Einnahmen und Ausgaben darlegen können. Die Berechnungsmethode mit einem Tagessatz von Euro 102,- pro Person, der jährlich aufgrund der Auslastung angepasst wird, ist nachvollziehbar.
Weiter steht fest, dass andere Frauenhäuser anders kalkulieren. Wie die Beklagte vorgetragen hat, werden die Frauenhäuser in München mit einer Auslastung von 95% kalkuliert, und es wird nicht pro Kopf, sondern pro Familie abgerechnet. Im Ergebnis stellen sich deswegen die Kosten des Frauenhauses A-Stadt als erheblich höher dar.
Die Motivationen, eine Frau in Not in einem Frauenhaus in einer anderen als der Heimatkommune unterzubringen, mögen vielschichtig sein. Sicherlich spielt zum einen die Kapazität der Einrichtungen eine Rolle, zum anderen aber auch die Tatsache, dass oftmals bewusst ein weiter entfernt gelegenes Frauenhaus gewählt wird, damit die flüchtende Frau bzw. Familie Abstand gewinnt und sich keinen weiteren Gefährdungssituationen aussetzen muss durch die räumliche Nähe zum gewalttätigen Ehemann.
Nach Überzeugung des Gerichts sind diese Motivationen ebenso wenig zu beurteilen wie die Führung des jeweiligen Frauenhauses und die Kalkulation der Tagessätze:
Der Sinn und Zweck des § 36aSGB II lässt darauf schließen, dass es allein darum geht, die aufnehmende Kommune nicht finanziell zu benachteiligen. Wenn ihr Kosten für das Unterhalten eines Frauenhaues entstehen, hat die Kommune des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts diese zu erstatten. Frauenhäuser erfüllen den wichtigen Zweck, Frauen bzw. Familien in Not Schutz und Perspektiven zu bieten. Würde die Kalkulation der Kosten auf ihre Angemessenheit im Vergleich zu anderen Frauenhäusern überprüft werden können, hätte dies im Zweifelsfall zur Konsequenz, dass weniger Frauenhäuser betrieben würden. Zu groß wäre das Risiko der unterhaltenden Kommune, die Kosten trotz der Regelung des § 36aSGB II allein zu tragen.
In der Konsequenz sind die durch den Frauenhausaufenthalt entstehenden Kosten nur sehr eingeschränkt zu überprüfen. Das Gericht hält es für gerechtfertigt, dass überprüft werden muss, ob die geltend gemachten Kosten tatsächlich angefallen sind und ob die Kalkulation nachvollziehbar ist. Eine darüber hinaus gehende Prüfung hat nicht zu erfolgen.
Beides war im vorliegenden Fall zu bejahen. Der Tagessatz von Euro 102,- pro Kopf wurde jährlich entsprechend der Auslastung angepasst. Für das Jahr 2008 ergab sich ein Tagessatz pro Kopf von Euro 85,44. Alle Einnahmen und Ausgaben sowie Aufgabenfelder des Frauenhauses wurden aufgelistet.
Auch hat der Kläger schlüssig erläutert, weshalb das Frauenhaus A-Stadt trotz der seit langem geringen Auslastung im gleichen Umfang weiter betrieben wird. Es leuchtet ein, dass dieses Frauenhaus – als einziges Frauenhaus in den drei Landkreisen A-Stadt, S. und W.-S1. – als Notfalleinrichtung bereitgehalten werden soll. Dies erklärt, weshalb eine Belegung mit oftmals nur der Hälfte der Plätze für Frauen in Kauf genommen wird. Diese Handhabung verursacht zwar höhere Kosten, stellt aber sicher, dass keine Frau in Not aufgrund Kapazitätsmangels abgewiesen werden muss. Dass überdies eine Reduzierung der Plätze nicht vorgenommen werde, um die Förderung durch den Freistaat Bayern nicht zu verlieren, steht der Nachvollziehbarkeit nicht entgegen.
Eine weitergehende Überprüfung würde den Normzweck des § 36aSGB II aushebeln. Es muss in der Entscheidungsmacht des Trägers des jeweiligen Frauenhauses liegen, wie die Einrichtung geführt wird. Angemessenheitsprüfungen hinsichtlich der Kostenkalkulation durch die Heimatkommune oder das Gericht würden faktisch dazu führen, dass die kommunale Selbstverwaltung gefährdet würde.
Nichts anderes ergibt sich aus dem Umstand, dass der Kläger den Rahmenvereinbarungen zwischen den kreisfreien Städten und Landkreisen zur landesweiten Regelung der Kostenübernahme bzw. -erstattung nicht beigetreten ist. Nach Einschätzung des Gerichts sind diese Rahmenvereinbarungen zu befürworten. Denn auf diese Weise können viele Erstattungsstreitigkeiten vermieden werden, die Finanzierung der jeweiligen Frauenhäuser gerät neben deren Arbeit nicht in den Vordergrund. Es steht dem Kläger aber frei, sich an solchen Rahmenvereinbarungen nicht zu beteiligen.
Im Ergebnis waren die entsprechend der Ergebnisrechnung 2008 angefallenen Kosten von Euro 5.809,92 von der Beklagten zu erstatten.
Die Beklagte war nicht zur Bezahlung von Prozesszinsen zu verurteilen, da hierfür eine Anspruchsgrundlage fehlt. § 108 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist im Verhältnis zweier gleichgeordneter Sozialleistungsträger nicht anwendbar, ebenso wenig ist Raum für eine analoge Anwendung von § 291Bürgerliches Gesetzbuch (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 23. Mai 2012, Az. B 14 AS 190/11 R).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Gehören weder Kläger noch Beklagter zu den in § 183SGG genannten Personen, werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG) erhoben.
Gegen dieses Urteil wird die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Bei Erstattungsstreitigkeiten zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts bedarf die Berufung gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2SGG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands Euro 10.000,- nicht übersteigt. Die Berufung war hier wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, 144 II Nr. 1 SGG.
Kern dieses Verfahrens war die Rechtsfrage des Umfangs der Kostenerstattungspflicht nach § 36aSGB II. Es ging hier vorrangig um die Beurteilung, ob tatsächlich entstandene Kosten zu übernehmen sind oder ob die Kalkulation und Angemessenheit der Kosten des Frauenhauses durch das Gericht oder den Erstattungspflichtigen überprüfbar sind. § 36aSGB II ist zwar bereits Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung gewesen. Diese Rechtsfrage ist aber bislang ungeklärt. Ihre Klärung liegt im allgemeinen Interesse, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig SGG, § 144 Rn. 38).


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