Verwaltungsrecht

Unbegründete Asylklage – Einzelfall – Syrien

Aktenzeichen  AN 15 K 19.30061

Datum:
13.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 19465
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4

 

Leitsatz

Allein die Tatsache der Asylantragstellung in Deutschland rechtfertigt nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Rückkehrer bei seiner Einreise nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihm deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung Verfolgung droht. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1.Die Klagen werden abgewiesen.
2.Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens. Das Urteil ist im Kostenausspruch vorläufig vollstreckbar.  

Gründe

Das Gericht konnte in der mündlichen Verhandlung über die Rechtssache verhandeln und hierauf gestützt eine Entscheidung treffen, obgleich die Klägerin zu 3. und auch kein Vertreter der Beklagten im Termin anwesend waren. Denn die form- und fristgerecht erfolgte Ladung des Gerichts enthielt den Hinweis nach § 102 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige erhobene Klage in Form einer Versagungsgegenklage gegen Ziffer 2. des Bescheids der Beklagten vom 1. März 2017 ist unbegründet. Der Bescheid erweist sich insoweit als rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in eigenen Rechten, da ihnen zum maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG zukommt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Klage der Klägerin zu 3. erweist sich zum Schluss der mündlichen Verhandlung ebenfalls als zulässig. Zwar war die Klägerin in der mündlichen Verhandlung selbst nicht anwesend und auch nicht ihre Prozessbevollmächtigte und wurde demnach entgegen der sich aus § 103 Abs. 3 VwGO ergebenden Pflicht für die Klägerin zu 3. in der mündlichen Verhandlung kein Antrag gestellt. Ebenso wenig wurde die Klägerin durch ihre Eltern, die Kläger zu 1. und 2. im Termin zur mündlichen Verhandlung vertreten, denn es lag dazu keine Vollmacht der Klägerin für ihre Eltern vor. Eine solche Vollmacht erwies sich als notwendig, da die Klägerin inzwischen volljährig geworden ist, so dass die gesetzliche Prozessstandschaft der Eltern für ihr Kind endete (§ 1629 Abs. 1 BGB). Gleichwohl stellt sich der fehlende Antrag der Klägerin zu 3. in der mündlichen Verhandlung als unschädlich dar, da es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Klägerin bewusst ihr Klageverfahren nicht weiter betreiben und deshalb auch keinen Antrag stellen wollte. Es liegt nahe, dass die Kläger davon ausgingen, die Klägerin zu 3. werde weiter durch ihre Eltern vertreten, wie dies ursprünglich mit Klageerhebung aufgrund der damals noch bestehenden Minderjährigkeit der KIägerin zu 3. der Fall gewesen war. Das Begehren eines nicht erschienenen Beteiligten kann das Gericht dabei aus dem schriftsätzlichen Vorbringen in Verbindung mit schriftsätzlich angekündigten Anträgen entnehmen (Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsgerichtsordnung 40. EL Februar 2021, VwGO § 103 Rn. 49). In diesem Sinne aber ist es hier unproblematisch, der Gerichtsakte zu entnehmen, dass die Klägerin zu 3. den anwaltlich angekündigten Klageantrag im Schriftsatz vom 29. März 2017 (Bl. 19 f. d. Gerichtsakte) gestellt wissen wollte. Dass die Vertretung der Klägerin zu 3. durch die Prozessbevollmächtigte nach Erreichen der Volljährigkeitsschranke nicht mehr fortgeführt werden sollte, ist der Gerichtsakte nicht zu entnehmen, zumal die Prozessbevollmächtigte im Ursprungsverfahren auch für den volljährigen Sohn der Kläger nach dessen Volljährigkeitseintritt weiter tätig geworden ist und überdies die Beklagte einen Mangel in der Bevollmächtigung nicht gerügt hat (§ 67 Abs. 6 Sätze 3 u. 4 VwGO).
1. Das Gericht legt folgenden rechtlichen Maßstab (dazu a) und folgende Lage in Syrien bzw. dem Herkunftsgebiet der Kläger (dazu b) zugrunde:
a) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftslands) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt demnach die begründete Furcht vor einer Verfolgungshandlung voraus, die wegen eines für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevanten Verfolgungsgrundes erfolgt.
Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3c Nr. 1 und 2 AsylG sind Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, u. a. der Staat oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen.
Zwischen den Verfolgungsgründen und Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreiche, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Unerheblich ist dabei, ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist (BVerfG, B.v. 22.11.1996 – 2 BvR 1753/96, juris, Rn. 5; BVerwG, B.v. 27.4.2017 – 1 B 63.17, 1 PKH 23.17, juris Rn. 11). Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, U.v. 19.1.2009 – 10 C 52.07, BVerwGE 133, 55, Rn. 22, 24; Wittmann, in: BeckOK Migrationsrecht, 7. Ed. 1.1.2021, AsylG § 3a Rn. 63 – 66).
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12, BVerwGE 146, 67, juris Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Zu bewerten ist letztlich, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint; insoweit geht es also um die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, U.v. 6.3.1990 – 9 C 14.89, BVerwGE 85, 12, juris Rn. 13). Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. Ergeben die Gesamtumstände die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung, wird ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162, juris Rn. 17). Auch in solchen Fällen müssen aber die festgestellten Verfolgungsfälle nach Intensität und Häufigkeit zur Größe der Zahl der Verfolgten als ins Gewicht fallend angesehen werden können, wenn das Anknüpfungsmerkmal für eine mögliche Verfolgung auf eine Vielzahl von Personen zutrifft (bspw.: Entziehung vor Einberufung bzw. Wehrdienstverweigerung); es muss dann also – vergleichbar einer Gruppenverfolgung – eine entsprechende Verfolgungsdichte vorliegen. Hiervon kann nur dann abgesehen werden, wenn ein staatliches Verfolgungsprogramm besteht, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht und das deshalb hinreichend wahrscheinlich eine Verfolgung erwarten lässt (vgl. Berlit, ZAR 2017, 110, 115 m.w.N.). Die Schwere des befürchteten Eingriffs kann dabei je nach Einzelfall, insbesondere im Zusammenhang mit willkürlich handelnden Staatsmächten, nur bedingt Erkenntnisse zur Gerichtetheit der Verfolgung geben. Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht, welches hierfür den Begriff des „real risk“ verwendet (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22, juris Rn. 22; Berlit, ZAR 2017, 110, 117).
Bei der Bewertung, ob die im Einzelfall festgestellten Umstände eine die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG rechtfertigende Verfolgungsgefahr begründen, ist zwischen der Frage, ob dem Ausländer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung gemäß den §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG droht, und der Frage einer ebenfalls beachtlich wahrscheinlichen Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund zu unterscheiden.
Beim Flüchtlingsschutz gilt für die Verfolgungsprognose ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Das gilt unabhängig von der Frage, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Nach dieser Vorschrift besteht eine tatsächliche Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22, juris Rn. 21 f.; OVG Münster, U.v. 4.5.2017 – 14 A 2023/16.A, NVwZ 2017, 1218, juris Rn. 21 f., OVG Saarlouis, U.v. 11.3.2017 – 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588, juris Rn. 19; Berlit, ZAR 2017, 110 ff.).
Hinsichtlich der Anforderungen an den Klägervortrag muss unterschieden werden zwischen den in die eigene Sphäre des Asylsuchenden (bzw. hier: des um Flüchtlingsschutz Nachsuchenden) fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, und den in den allgemeinen Verhältnissen seines Herkunftslandes liegenden Umständen, die seine Furcht vor Verfolgung rechtfertigen sollen.
Lediglich in Bezug auf erstere muss er eine Schilderung geben, die geeignet ist, seinen Anspruch lückenlos zu tragen. Dabei ist die besondere Beweisnot des nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsprozessrechts mit der materiellen Beweislast beschwerten Klägers zu berücksichtigen, dem häufig die üblichen Beweismittel fehlen. Insbesondere können in der Regel unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Daher kann den eigenen Erklärungen des Klägers größere Bedeutung beizumessen sein, als dies meist sonst in der Prozesspraxis bei Bekundungen einer Partei der Fall ist. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu. Zur Anerkennung kann schon allein sein Tatsachenvortrag führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Dem Klagebegehren darf jedenfalls nicht mit der Begründung der Erfolg versagt werden, dass neben der Einlassung des Schutzsuchenden keine Beweismittel zur Verfügung stehen. Der Richter ist aus Rechtsgründen schon allgemein nicht daran gehindert, eine Parteibehauptung ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen; das gilt für Asylverfahren (bzw. wie hier in Verfahren auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) mit seinen typischen Schwierigkeiten, für das individuelle Schicksal des Antragstellers auf andere Beweismittel zurückzugreifen, in besonderem Maße. Einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO wird der Richter hierdurch jedoch nicht enthoben. Das Fehlen von Beweismitteln mag die Meinungsbildung des Tatsachengerichts erschweren, entbindet es aber nicht davon, sich eine feste Überzeugung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu bilden. Dies muss – wenn nicht anders möglich – in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Kläger glaubt (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.1981 – 9 C 251.81, InfAuslR 1982, 156; U.v. 22.3.1983 – 9 C 68.81, juris Rn. 5; U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84, BVerwGE 71, 180, juris Rn. 16; OVG Koblenz, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10922/16, juris Rn. 32).
Hinsichtlich der allgemeinen politischen Verhältnisse im Herkunftsland reicht es hingegen wegen seiner zumeist auf einen engeren Lebenskreis beschränkten Erfahrungen und Kenntnisse aus, wenn der Kläger Tatsachen vorträgt, aus denen sich – ihre Wahrheit unterstellt – hinreichende Anhaltspunkte für eine nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung für den Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland ergeben (BVerwG, U.v. 24.11.1981 – 9 C 251.81, InfAuslR 1982, 156; U.v. 22.3.1983 – 9 C 68.81, juris). Hier ist es Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen, die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine von Rationalität und Plausibilität getragene Prognose zu treffen (OVG Hamburg, U.v. 29.5.2019 – 1 Bf 284/17, BeckRS 2019, 16202 Rn. 27).
In Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsland sind die Gerichte regelmäßig darauf angewiesen, sich durch eine Vielzahl unterschiedlicher Erkenntnisse gleichsam mosaikartig ein Bild zu machen. Da Abschiebungen nach Syrien jedenfalls seit 2012 nicht mehr erfolgen, hat die Prognose, ob bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG droht, – wie oben dargelegt – aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu erfolgen.
Führt diese Betrachtung zu keinem für den Schutzsuchenden günstigen Ergebnis, verbleibt es bei allgemeinen Beweislastregeln. Die humanitäre Schutzrichtung des Asyl- und Flüchtlingsrechts gebietet weder eine Umkehr der objektiven Beweislast noch eine Folgenabwägung im Sinne eines „better safe than sorry“ (vgl. hierzu Ellerbrok/Hartmann, NVwZ 2017, 522, 523; vgl. i.Ü. auch: BVerwG, B.v. 10.3.2021 – 1 B 2.21, BeckRS 2021, 7668 Rn. 8; BayVGH, U.v. 5.2.2020 – 23 B 18.31593, BeckRS 2020, 6636 Rn. 25).
Nichts Anderes lässt sich daraus ableiten, dass der Europäische Gerichtshof im Kontext der Auslegung des Art. 9 Abs. 2 lit. e RL 2011/95/EU ausgeführt hat, dass es nicht Sache der um internationalen Schutz nachsuchenden Person sei, den Beweis für das Bestehen einer Verknüpfung zwischen einer Verfolgungshandlung i.S.d. vorgenannten Vorschrift und den in Art. 2 lit. d und Art. 10 RL 2011/95/EU genannten Verfolgungsgründen zu erbringen, sondern vielmehr die zuständigen nationalen Behörden in Anbetracht sämtlicher Anhaltspunkte die Plausibilität einer solchen Verknüpfung zu prüfen hätten (vgl. EuGH, U.v. 19.11.2020 – C-238/19, juris Rn. 54 ff.). Denn diese Ausführungen des Gerichtshofs stehen in völliger Übereinstimmung damit, dass es in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess – ungeachtet der im Asylverfahren gesteigerten Mitwirkungspflichten des Schutzsuchenden nach §§ 15 und 25 AsylG – Aufgabe des Tatsachengerichts ist, gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln und hierzu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben sowie sich auf Basis dessen eine eigene Überzeugung i.S.d. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu bilden. Nach diesen Maßgaben scheidet es aus, bei einer unklaren Erkenntnislage im Zweifel schutzorientiert zu Gunsten des Ausländers zu entscheiden; dies würde im Übrigen auch materiell einen Rechtsverstoß begründen, da gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG bzw. Art. 2 lit. d. RL 2011/95/EU die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet sein muss, damit ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann (vgl. zum Vorstehenden OVG NRW, B.v. 22.1.2021 – 14 A 176/21.A, juris Rn. 23 ff.; BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 33.18, juris Rn. 18 ff.; OVG Lüneburg, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 147/18, BeckRS 2021, 8474 Rn. 25).
b) Das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ist durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich zunehmend unter Druck geraten. Ziel der Regierung ist es, die bisherige Machtarchitektur bestehend aus dem Präsidenten Bashar al-Assad sowie den drei um ihn gruppierten Clans (Assad, Makhlouf und Shalish) ohne einschneidende Veränderungen zu erhalten und das Herrschaftsmonopol auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik wiederherzustellen. Diesem Ziel ordnete die Regierung in den vergangenen Jahren alle anderen Sekundärziele unter. Sie geht in ihrem Einflussgebiet ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor. Dabei sind die Kriterien dafür, was als politische Opposition betrachtet wird, sehr weit: Kritik, Widerstand oder schon unzureichende Loyalität gegenüber der Regierung in jeglicher Form sollen Berichten zufolge zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffenden Personen geführt haben (UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 5. Fassung – im Folgenden UNHCR-Erwägungen 2017 – unter Verweis auf: United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2015, 13.4.2016; Amnesty International, Human Slaughterhouse: Mass Hangings and Extermination at Saydnaya Prison, Syria, 7.2.2017; UN Human Rights Council, Out of Sight, out of Mind: Deaths in Detention in the Syrian Arab Republic, 3.2.2016). Seit 2012 geht das Regime in einer präzedenzlosen Verhaftungswelle gegen Oppositionelle sowie seine Kritiker und Kritikerinnen vor. Dem Syrian Network for Human Rights zufolge beläuft sich die Zahl von Inhaftierten und verschwundenen Menschen mit Stand August 2020 auf mehr als 148.000, über 14.000 sollen unter Folter zu Tode gekommen sein. Ca. 90% der Fälle werden dem syrischen Regime zugeschrieben. Für den Zeitraum Januar bis Oktober 2020 dokumentierte das Syrian Network for Human Rights 1.412 Fälle willkürlicher Verhaftungen, darunter 36 Kinder und 31 Frauen. 941 dieser Fälle wurden als erzwungenes Verschwindenlassen klassifiziert. Willkürliche Verhaftungen blieben eine gezielte Vergeltungsmaßnahme u. a. für Kritik am Regime (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: 4.12.2020). Das Schicksal und der Aufenthaltsort Zehntausender Menschen, die seit Ausbruch des Krieges von Regierungskräften inhaftiert worden waren und seitdem „verschwunden“ sind, ist nach wie vor unbekannt. Während der Haft werden Folter und andere Misshandlungen systematisch angewendet (Amnesty International, Report Syrien 2018, 22.2.2018; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien, 25.1.2018, S. 34 unter Verweis auf Human Rights Watch, World Report 2017 – Syria; Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E, 19.1.2016) (für alles Vorstehende vgl. auch: BayVGH, U.v. 12.4.2019 – 21 B 18.32459 – BeckRS 2019, 12018; U.v. 9.4.2019 – 21 B 18.33075 – juris Rn. 21, unter Fortführung seiner Rechtsprechung aus der Entscheidung vom 20.6.2018 – 21 B 17.31605 – juris; U.v. 9.5.2019 – 20 B 19.30534 – BeckRS 2019, 15375 Rn. 29).
Zudem sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen einzelne Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, für vom Regime als feindlich angesehene Aktivitäten anderer Familienmitglieder inhaftiert und gefoltert werden. Solche Sippenhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben. Laut der Country of Origin Information (CoI) berichteten zuletzt zahlreiche Personen in Regimegebieten von Festnahmen, aufgrund von Kommunikation mit Familienangehörigen im Norden des Landes oder im Ausland. Ferner sind Fälle bekannt, bei denen diese Sippenhaft bereits bei bloßem Verdacht auf mögliche Annäherung an die Opposition angewandt wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: 4.12.2020, S. 20).
Die Stadt …, das Herkunftsgebiet der Kläger, liegt im Gouvernement … im Nordwesten der Syrischen Arabischen Republik. Bei dieser Region handelt es sich seit den Anfängen des Konflikts in Syrien um eine Oppositionshochburg, die seit März 2015 unter entsprechender Kontrolle oppositioneller Kräfte steht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, CoI-CMS Version 3, generiert am 30.6.2021, S. 23). Entsprechend volatil ist die Sicherheitslage in dieser Region. Die Herkunftsregion der Kläger ist zudem Operationsgebiet der Organisationen Nusra-Front / Jabhat Fath ash-Sham/ Hai´at Tahrir ash-Sham, die sich historisch aus dem Islamischen Staat (IS) entwickelten. In ihrer Frühzeit operierte die Nusra-Front wie eine herkömmliche städtische Terrorgruppe, indem sie Autobombenanschläge verübte und einzelne Angehörige der Sicherheitskräfte des Regimes in Damaskus und Aleppo ermordete. Ab Sommer 2012 war sie bereits wie eine etwas größere Guerillatruppe aufgestellt und versuchte bei möglichst geringen eigenen Verlusten einen Abnutzungskrieg zu führen. Zu diesem Zweck arbeitete sie eng mit anderen Rebellengruppen wie der Ahrar ash-Sham zusammen. Oft war es die Nusra-Front, die für größere Angriffe auf Einrichtungen des Regimes die Selbstmordattentäter und die Autobomben stellte, mit denen der Zugang zu einem Gelände oder einem Gebäudekomplex freigesprengt wurde. Dies war möglich, weil sich die meisten ausländischen Kämpfer bis Frühjahr 2013 der Nusra-Front anschlossen und diese überdurchschnittlich bereit waren, ihr Leben zu opfern. Das Auftreten des IS im April 2013 stürzte die Nusra-Front in eine schwere Krise. Es war fortan nicht mehr möglich, ihre Verbindung zum IS zu leugnen. Deshalb ging der Anführer der Nusra-Front, Jaulani, in die Offensive und wandte sich in einer öffentlichen Audiobotschaft an Aiman az-Zawahiri. Darin „erneuerte“ er den Gefolgschaftseid auf al-Qaida und bat den Ägypter, im Streit zwischen IS und Nusra eine Lösung zu finden. Zwar entschied der al-Qaida Führer im fernen Pakistan erwartungsgemäß, dass jede der beiden Organisationen weiter in ihrem Heimatland operieren sollte, doch hatte er keine Möglichkeit, seine Anordnung vor Ort durchzusetzen. Als Abu Bakr al-Baghdadi, der Führer des IS, sich weigerte, der Entscheidung Folge zu leisten, begann zwischen den beiden Organisationen eine Auseinandersetzung, die die Nusra-Front stark schwächte, so dass sie viele Stützpunkte im Osten des Landes, im Gebiet nördlich von Aleppo und in Idlib aufgeben musste. Überdies verlor die Nusra-Front die finanzielle Unterstützung aus dem Irak und die meisten ausländischen Kämpfer schlossen sich fortan dem IS an. Dennoch blieb die Organisation vor allem in den Provinzen Deir ez-Zor und Idlib stark und konnte sich auch in der Stadt Aleppo halten. So kam es zunächst nicht zu offenen Konflikten zwischen der Nusra-Front und IS, da die Nusra-Front eine Schwächung des Aufstandes und den Widerstand ihrer eigenen Kämpfer befürchtete. Erst Anfang Januar 2014, als die Ahrar ash-Sham und FSA-Einheiten den IS aus Idlib, Latakia und der Stadt und dem Gebiet nördlich von Aleppo vertrieben, beteiligte sich auch die Nusra-Front am Kampf gegen IS, wobei sie im Osten des Landes schwere Niederlagen erlitt. Der Juli 2014 war ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte der Nusra-Front. Sie zeigte sich trotz aller Verluste regenerationsfähig und baute ihre Stellung in Idlib zunächst aus. Die Stadt Idlib wurde zur wichtigsten Hochburg der Nusra-Front. Wie stark sie weiterhin war, zeigte sich im folgenden Frühling auch in Kämpfen gegen die Truppen des Regimes. Im März 2015 schlossen sich islamistische Gruppierungen unter der Führung der Nusra-Front und Ahrar ash-Sham in der Provinz Idlib zur Armee der Eroberung (Jaish al-Fath) zusammen. Obwohl die Nusra-Front ihre enge Zusammenarbeit mit den Ahrar ash-Sham und anderen islamistischen Gruppierungen bis Ende 2016 fortsetzte, versuchte sie ab der zweiten Hälfte 2014, eine von ihr kontrollierte territoriale Basis zu schaffen. Die Machtübernahme, die vor allem Städte und Ortschaften in Idlib betraf, hatte auch eine intensivere religionspolizeiliche Überwachung der Bevölkerung zur Folge, die häufiger als zuvor angehalten wurde, sich an salafistische Kleider- und Verhaltensvorschriften zu halten.
Nach der Eroberung von Idlib bemühte sich die Nusra-Front, ihre Position in ihrer Hochburg weiter zu konsolidieren und zog im August 2015 ihre Einheiten aus dem nördlichen Teil der Provinz Aleppo und aus Damaskus ab, um sie in Idlib zu stationieren. Die Stärkung der Basis in Idlib erwies sich als dringend notwendig, denn im September 2015 begann die russische Intervention in Syrien, die vor allem der Nusra-Front, der Ahrar ash-Sham und ihren Verbündeten galt. Die Frühjahrsoffensive der Rebellen in Idlib hatte die Schwäche des syrischen Militärs zum wiederholten Male offengelegt, so dass sich Damaskus mit einem Hilfeersuchen an Moskau wandte. Daraufhin schickte Russland rund 4.000 Mann und mehrere Dutzend Kampfflugzeuge nach Syrien. Hinzu kamen Spezialkräfte und Einheiten privater Sicherheitsfirmen. Sie griffen sofort in den Kampf ein und halfen dem Regime auch bei der Umstrukturierung der syrischen Streitkräfte, die trotz geringer Zahlen deutlich an Schlagkraft gewannen. Die Nusra-Front intensivierte daraufhin ihre Bemühungen um einen Zusammenschluss mit den Ahrar ash-Sham. Entsprechende Gespräche scheiterten Anfang 2016, weil die Ahrar ash-Sham Vorbehalte gegenüber der Nähe der Nusra-Front zum al-Qaida-Netzwerk geltend machte. Angesichts der militärischen Erfolge des Regimes und seiner Verbündeten, reagierte die Nusra-Front, indem sie sich am 28. Juli 2016 in Jabhat Fath ash-Sham (Eroberungsfront Syriens) umbenannte und sich von al-Qaida distanzierte. Doch auch nach diesem Schritt lehnte Ahrar ash-Sham einen Zusammenschluss ab. Die Aufständischen befürchteten nach der Niederlage von Aleppo einen Angriff der syrischen Regierungstruppen und ihrer Verbündeten auf Idlib, was sie dazu veranlasste, ihre Position auszubauen. Als die Nusra-Front im Januar 2017 die zur FSA gehörende Gruppierung Jaish al-Mujahidin (Armee der Glaubenskämpfer) angriff, schlossen sich diese und fünf weitere Organisationen (Suqur al-Islam, Jaish al-Islam Qita´Idlib, Jaish al-Mujahidin, Tajammu´fastqim kama umirta, al-Jabha ash-Shamiya fi Rif Halab algharbi) den Ahrar ash-Sahm an, in der heftige Konflikte über die Ausrichtung der Organisation entbrannten. Wenige Tage später verkündete die Nusra-Front die Gründung von Hai´at Tahrir ash-Sham (Befreiungskomitee Syriens, kurz HTS). Dieser schlossen sich vier kleinere Gruppierungen (Nur ad-Din Zinki, Liwa alHaqq, Jabhat Ansar ad-Din und Jaish as-Sunna) und hunderte Kämpfer sowie wichtige Führungspersönlichkeiten und Kommandeure desjenigen Flügels der Ahrar ash-Sham an, die im Bündnis mit der Nusra-Front die einzige Chance für die Ahrar ash-Sham sahen, in Syrien längerfristig bestehen zu können.
Neben den militärischen Strukturen musste die Nusra-Front auch Verwaltungsaufgaben übernehmen. In der Phase bis Sommer 2014 beschränkte sie sich allerdings vor allem auf humanitäre Aktivitäten. Die Abteilung für humanitäre Hilfe übernahm im Winter 2012/2013 in Aleppo die Kontrolle über Bäckereien und bemühte sich, die Lieferung von Heizöl, Gas, Wasser und Elektrizität sicherzustellen. In dieser Phase bildete die Nusra-Front in ihren Hochburgen gemeinsam mit islamistischen Gruppierungen auch sog. „Scharia-Komitees“. Dabei handelte es sich um Einrichtungen, zu denen ein Scharia-Gericht und Polizeikräfte gehörten, die die öffentliche Ordnung in den von Rebellen gehaltenen Orten gewährleisten sollten. Die beteiligten Organisationen waren neben der Nusra-Front und der Liwa attauhid, die Ahrar ash-Sham und die al-Fajr al-Islamiya. Ab Mitte 2014 wandte sich die Nusra-Front von den bisherigen Partnern ab, baute eigene Verwaltungsstrukturen auf, zog sich aus den „Scharia-Komitees“ zurück und gründete ab Juli 2014 eigene Gerichte. Im Unterschied zur Praxis von 2012 bis 2014 waren die Partnergruppierungen hier nicht mehr beteiligt. Spätestens ab Mitte 2015 zeigte sich, dass die neu gegründeten Gerichte die Ziele der Nusra-Front förderten, so ordneten sie die Festsetzung von FSA-Personal an, dem sie Korruption vorwarfen, lösten Polizeieinheiten auf, die zur FSA gehörten und ersetzten sie durch eigene Kräfte. Ergänzt wurde die Nusra-Justiz durch eine neue Behörde, die „Verwaltung der Befreiten Gebiete“ (Idarat al-Manatiq alMuharrara) genannt wurde und vor allem in Idlib die Grundlage für eine dauerhafte Präsenz der Gruppe schaffen sollte. Sie übernahm immer mehr staatliche Funktionen und hatte auch eine intensivere religionspolitische Überwachung der Bevölkerung zur Folge, die häufiger als zuvor angehalten wurde, sich an die salafistischen Kleider- und Verhaltungsvorschriften der Nusra-Front zu halten. So mussten Läden zur Gebetszeit schließen, Jungen und Mädchen ab der 5. Schulklasse getrennt unterrichtet werden und die Schülerinnen Kopftuch tragen. Außerdem ordnete die Nusra-Front koranische Strafen an, wie beispielsweise Steinigung für Unzucht; Homosexuelle wurden ebenfalls getötet.
Das Ziel der Nusra-Front und in der Folge der HTS ist der Sturz des Regimes von Bashar al-Assad, das sie durch einen islamischen Staat auf der Grundlage ihrer Interpretation der Scharia ersetzen will. In der Selbstdarstellung der Organisation überwiegen nationalistische Züge, so dass kaum ein Unterschied zu tatsächlich stark auf Syrien bezogene Gruppierungen wie vor allem Ahrar ash-Sham zu erkennen ist. Trotz dieser klaren Orientierung auf Syrien hat die Nusra-Front bzw. die HTS keine konkrete Ordnungsvorstellung für den Fall, dass die Aufständischen Assad tatsächlich stürzen sollten. In einem Interview im Dezember 2013 sagte Jaulani, die einzige Vorgabe der Nusra-Front sei, dass die künftige Regierung in Syrien eine sein müsse, die versuchen werde, muslimisches Land zu befreien und die Scharia durchzusetzen. Was genau die Forderung nach Anwendung der Scharia bedeutet, wurde ab 2014/2015 sehr viel deutlicher. In zwei Interviews mit al-Jazeera vom Mai 2015 erklärte Jaulani, dass nach einem Sieg über Bashar al-Assad die sunnitische Mehrheit das Land beherrschen werde. Christen dürften weiterhin dort leben, müssten allerdings eine Kopfsteuer (jizya) zahlen. Alawiten und Drusen hingegen müssten zum wahren Islam konvertieren. Noch deutlicher wurde die Schariainterpretation der Nusra im täglichen Leben in den von ihr kontrollierten Gebieten. Dort begann sie ab der zweiten Jahreshälfte 2014, ihre Verhaltens- und Kleidervorschriften je nach Situation vor Ort kompromisslos durchzusetzen und koranische Strafen einzuführen. Entgegen der vordergründig nationalistischen Orientierung handelt es sich bei der Nusra-Front um eine jihadistische Gruppe mit internationalistischer Ausrichtung, die auch auf Nachbarländer abzielt. Trotz der bisherigen Selbstbeschränkung auf Syrien und Libanon verstand sich die Nusra-Front zumindest bis 2017 als Teil des al-QaidaNetzwerkes, mit dem sie die Vision einer weitergehenden Expansion zumindest in der arabischen und islamischen Welt teilt. Diese Ausrichtung kann jederzeit dazu führen, dass die Nusra-Front auch außerhalb Syriens Anschläge verübt. Bisher hält sie sich aber an die Vorgaben der al-Qaida-Führung, dass externe Operationen gegen westliche Ziele deren Sache sind. Aus den Interviews des Nusra-Anführers Jaulani mit al-Jazeera geht der Hass der Nusra-Front auf die Alawiten und die Schiiten deutlich hervor. Jaulani behauptete dort, dass der Westen alle Regime in der arabischislamistischen Welt an die Macht gebracht habe und aus den Luftangriffen der Amerikaner schloss er, dass diese gemeinsame Sache mit der syrischen Regierung machen. Seine Ausführungen entsprechen der Sicht vieler sunnitischer Schiitenfeinde, die ein Bündnis der USA, der Schiiten (einschließlich Irans und der Hizbullah) und der Juden (d.h. Israel) am Werk sehen, mit dem Ziel, „den Islam“, also die Sunniten, zu schwächen. Den Konflikt zwischen den Aufständischen und dem Assad-Regime sieht Jaulani als einen religiösen zwischen wahren Muslimen einerseits und Schiiten anderseits. Es geht der Nusra-Front darum, die Alawiten von der Macht und wahrscheinlich auch als Volksgruppe aus Syrien zu vertreiben.
Die Nusra-Front folgte bis 2017 der Strategie des al-Qaida Führers Zawahiri, gemeinsam mit ähnlich gesinnten islamischen Gruppierungen gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen, der unterdrückten Bevölkerung beizustehen und Kollateralschäden zu vermeiden. Die Nusra-Front hielt sich lange an die Vorgaben Zawahiris. Ihre Strategie war ganz darauf ausgerichtet, die Unterstützung der Syrer nicht zu verlieren. Deshalb konzentrierte sie sich bei ihren Angriffen und Anschlägen seit Ende 2011 vor allem auf syrische Sicherheitskräfte und militärische Einrichtungen und versuchte, zivile Opfer zu vermeiden. Darüber hinaus versorgte sie die Bevölkerung in den von ihr gehaltenen Orten und Vierteln mit Lebensmitteln, Treibstoff und Heizöl, und stellte – soweit dies möglich war – auch Wasser und Elektrizität bereit und bot kommunale Dienstleistungen an. Bis Mitte 2014 dienten diese Maßnahmen der Nusra-Front lediglich dazu, ihre militärischen Aktivitäten zu erleichtern, und gingen nie so weit wie bei ISIS/IS, der sich schon 2013 bemühte, durch eine eigene Verwaltung möglichst dauerhafte Strukturen zu schaffen. Erst als die Nusra-Front von ihren Stützpunkten im Osten des Landes vertrieben worden war und Luftangriffe des US-Militärs einsetzten, änderte die Organisation ihre Vorgehensweise. Sie versuchte ihre wichtigste verbliebene Hochburg, die Provinz Idlib, zu sichern, indem sie konkurrierende Rebellengruppen vertrieb. Gleichzeitig bemühte sie sich, die Kontrolle über die Teile der Region zu übernehmen, in denen sie besonders stark war. Dies zeigte sich zunächst am Aufbau einer eigenen Justiz unter Ausschluss konkurrierender Gruppen und der Einrichtung eines Verwaltungsapparates. Dass die Nusra-Front dabei – ähnlich wie der IS – eine dauerhafte quasistaatliche Struktur plante, zeigte sich in der Praxis in denjenigen Gebieten, in denen die Organisation dominierte. Dort wurden koranische Strafen angewandt, salafistische Kleidungsvorschriften durchgesetzt und sogar religionspolizeiliche Strukturen begründet (für alles Vorstehende zur Al-Nusra-Front: OLG München, U.v. 29.1.2020 – 8 St 8/19, BeckRS 2020, 23706).
2. Unter Anlegung des vorgenannten Maßstabes unter Berücksichtigung der Lage in Syrien und der Region Idlib und des Vortrags der Kläger ist die Klage unbegründet.
a) Die Kläger sind ohne Vorverfolgung aus Syrien ausgereist.
Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck einer (befürchteten) Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 2141/06 – juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 – 23 K 5187/11.A – juris Rn. 26).
Der Kläger zu 1. gab dazu in seiner ersten Befragung vor dem Bundesamt noch an, ihm sei persönlich vor seiner Ausreise nichts passiert und man sei nach Deutschland gekommen, um hier sicher leben zu können. Erst in seiner zweiten Befragung gut zehn Monate später erwähnte er zum ersten Mal, dass er durch die Nusra-Front verhaftet worden sei. Er sei zwei, drei Wochen in Haft geblieben und anschließend entlassen worden. Ein paar Tage später sei er noch einmal verhaftet worden und dann nochmals zwei Wochen inhaftiert gewesen. Von Folter und Schlägen berichtete der Kläger zu 1. dagegen auch in seiner zweiten Anhörung nicht. In seiner ersten Anhörung vor dem Bundesamt gab der Kläger überdies zu Protokoll, dass er ungefähr 20 Tage vor der Ausreise nach … gereist sei, wobei er zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Ausreise gedacht habe. Erst in der Folge der Klagebegründung trägt der Kläger zu 1. mit persönlicher Stellungnahme zum Schriftsatz der Klägerbevollmächtigten vom 12. April 2017 vor, er sei in der Haft auch „sehr viel geschlagen“ und mit dem Tod bedroht worden. Den späten Vortrag begründete der Kläger damit, dass ihm der Dolmetscher beim Bundesamt geraten habe, kurz zu antworten.
Dieser Vortrag des Klägers zu 1. überzeugt das Gericht aufgrund der bestehenden Widersprüche nicht, dass der Kläger unmittelbar vor seine Ausreise von Verfolgungshandlungen asylerheblicher Art betroffen war. Die Glaubwürdigkeit des Klägers zu 1., der als ehemaliger Schuldirektor mit Universitätsbildung überdurchschnittlich gebildet ist und die Richtigkeit und Vollständigkeit der von ihm getätigten Angaben vor dem Bundesamt mit seiner Unterschrift bestätigt hatte, leidet erheblich vor dem Hintergrund der erst späten Einführung seines Vortrags zu seinen Verhaftungen, die er auch in der mündlichen Verhandlung nicht überzeugend aufzulösen vermochte. Das Gericht hat dem Kläger dabei insbesondere vorgehalten, dass sich aus seiner ersten Anhörung keine Anhaltspunkte dafür ergaben, dass die Verhaftungen durch die Nusra-Front fluchtbestimmend waren und auch in der zweiten Anhörung, die überdies mittels eines anderen Dolmetschers durchgeführt wurde, dies nur beiläufig Erwähnung fand.
Selbst wenn aber – als wahr unterstellt – dem Kläger Verhaftungen widerfahren sind und das dabei Erlebte mit fluchtauslösend gewesen sein mag, wofür das enge Beieinanderliegen der Daten der Haftentlassung laut dem vorgelegten Entlassungsschein und der Angabe des Verlassens des syrischen Staatsgebietes in Richtung Türkei spricht, fehlt es an Anknüpfungstatsachen, die eine gezielte Verfolgung des Klägers wegen eines asylerheblichen Grundes nach § 3b Abs. 1 AsylG belegen. Aus der festgestellten Lage der geschichtlichen Entwicklung der Nusra-Front und ihren Zielen und ihrer Taktik in der Region … ergibt sich, dass es den Verantwortlichen der Nusra-Front insbesondere im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger im August 2015 noch um Konsolidierung ihrer Macht in der Region ging und damit einhergehend eigene Verwaltungsstrukturen aufgebaut werden sollten, die den Regeln des Scharia-Rechts und der Vormachtstellung der sunnitischen Glaubensgemeinschaft entsprach. Es ging der Nusra-Front zu dieser Zeit vorrangig darum, Bekleidungsvorschriften durchzusetzen und ordnungspolizeilich in der einfachen Bevölkerung aufzutreten. Auch der Kläger konnte letztlich keinen Grund benennen, warum er verhaftet worden war. In der mündlichen Verhandlung gab er an, beim zweiten Mal sei die Behandlung in Haft weniger schlimm gewesen als während seiner ersten Inhaftierung und er sei trotz einer Antwort gegenüber der Nusra-Front, er wolle nicht kämpfen oder seinen Sohn hergeben, letztlich aus der Haft entlassen worden. Der Kläger ist seinen Angaben nach auch sunnitischer Religionszugehörigkeit. Dem Kläger ist schließlich seine Haftentlassung auch formell bescheinigt worden.
Die Gesamtschau dieser Umstände lässt es wahrscheinlicher erscheinen, dass der Kläger nicht gezielt wegen eines asylerheblichen Verfolgungsgrundes inhaftiert wurde, sondern willkürlich aus Gründen der Durchsetzung und ggf. Prüfung von Verstößen des Ordnungsrahmens, wie ihn sich die Nusra-Front vorstellte und flächendeckend in ihrem Herrschaftsgebiet einführen wollte. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Kläger wegen einer geäußerten andersartigen politischen Auffassung oder wegen seiner Religionszugehörigkeit oder als Zugehöriger zur Gruppe intellektueller Personen einem besonderen Verfolgungs- und Habhaftwerdungsinteresse der Nusra-Front ausgesetzt war. Damit fehlt es jedoch an einer bestehenden Vorverfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG selbst dann, wenn sich die Verhaftungen und die darin erlittenen körperlichen und psychischen Misshandlungen als schwerwiegender Menschenrechtsverstoß darstellen.
Weitere Gründe, die eine Vorverfolgung der Kläger nahelegen, sind nicht dargetan. Insbesondere haben die Kläger zu 1. und 2. erklärt, dass ihre Verfolgungsgründe auch für ihre Kinder gelten.
b) Den Klägern stehen auch keine Nachfluchtgründe asylerheblicher Art zur Seite.
Es ergeben sich derartige Nachfluchtgründe gemäß § 28 Abs. 1a AsylG nicht aus dem Umstand, dass die Kläger in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten haben. Diese Umstände allein rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen die Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionelle betrachten und ihnen deshalb wegen einer ihnen unterstellten politischen Überzeugung Verfolgung droht. Das erkennende Gericht schließt sich in diesem Zusammenhang den Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016 – 21 B 16.30338; 21 B 16.30364; 21 B 16.30371 – (alle juris) an, der nach Auswertung der maßgeblichen und auch in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen zu diesem Ergebnis kommt (so auch BayVGH, U.v. 9.5.2019 – 20 B 19.30643 – juris Rn. 35 ff.; U.v. 10.9.2019 – 20 B 19.32549 – juris Rn. 21 ff. m.w.N.).
Aktuellere Erkenntnisquellen zur Lage von nach Syrien zurückkehrenden Staatsbürgern dieses Landes belegen keine neuen Aspekte, die eine andere Bewertung zu Gunsten der Kläger bedingen. Den Berichten des Auswärtigen Amtes vom 4. Dezember 2020 zur Lage in der Arabischen Republik Syrien und von EASO „Syria Situation of returnees from abroad“ vom Juni 2021 entnimmt das Gericht lediglich, dass die Sicherheitslage von Rückkehrern insgesamt volatil bleibt und sich ihre Situation auch angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage in Syrien als angespannt darstellt. Die Berichtslage insbesondere aus diesen beiden Erkenntnismitteln belegt, dass den Betroffenen bisweilen der Zugang zu ihren Herkunftsregionen verweigert und sie ggf. auch Opfer von Eigentumsverlust werden. Männlichen Rückkehrern im wehrpflichtigen Alter droht die Einziehung zum Militär. Obgleich Rückkehrwillige verpflichtet bzw. angehalten sind, vor der Einreise nach Syrien ihren Status rechtlich klären zu lassen und dabei auch einer Sicherheitsüberprüfung bzw. einer Überprüfung, ob die Betroffenen auf einer Liste der Sicherheitsdienste in Syrien geführt werden, unterzogen werden, gibt es keine Sicherheitsgarantien für Zurückgekehrte. Insbesondere der Umstand, dass es in Syrien mehrere, voneinander unabhängig operierende Sicherheitsdienste gibt, garantiert Rückkehrern nicht, auf gegebene Zusagen des Regimes, keine Verhaftung befürchten zu müssen, vertrauen zu können. Verhaftungen, Verschwindenlassen und Folter können Rückkehrern auch noch Wochen nach ihrer Rückkehr drohen, wobei das Risiko hierfür steigt, wenn der Betroffene in exponierter Weise gegen das Regime Assad Position bezogen hat oder dessen verdächtig ist (bspw. Journalisten, Menschenrechtsverteidiger etc.). Im Zeitraum von Januar 2014 bis August 2019 wurden 1.916 Fälle von Rückkehrern, darunter auch Frauen und Kinder, registriert, die Opfer willkürlicher Verhaftungen durch Regimekräfte geworden sind. Beobachtet wurde in diesem Zusammenhang auch, dass 1.132 Personen wieder freigelassen wurden und 784 Personen im August 2019 nach wie vor inhaftiert waren. Offizielle Statistiken, etwa von EUROSTAT, darüber, wie viele syrische Staatsbürger aus der EU nach Syrien zurückgekehrt sind, werden nicht geführt. Informationen hierüber bleiben naturgemäß fragmentarisch. Beispielsweise wurde registriert, dass im Jahr 2020 137 syrische Staatsbürger freiwillig mit einer Überbrückungshilfe aus Dänemark nach Syrien zurückgekehrt sind. Die Rückreise erfolgte zumeist auf dem Luftweg nach Damaskus. Dort werden Rückkehrer durch Sicherheitskräfte routinemäßig bei der Einreise befragt, insbesondere auch, woher die Person kommt und warum sie zurückkehrt. Nach Berichtslage aus März 2021 wurden von Personen, die aus den Niederlanden nach Syrien zurückgekehrt sind, keine persönlichen Probleme bei der Einreise nach Syrien berichtet. Die Rückkehrquote aus den Ländern der EU ist insgesamt gering, während die Zahlen von Rückkehrern aus den benachbarten Ländern Syriens deutlich höher liegen. Die Frage, ob syrischen Rückkehrern Bestrafung droht, wenn sie im Ausland Asyl beantragt haben, lässt sich nicht ergiebig beantworten. Offizielle Stellen in Syrien dementieren eine an die Asylantragstellung anknüpfende Strafverfolgung. Ein Rechtsanwalt aus Damaskus berichtete, Strafverfolgung drohe Betroffenen in erster Linie dann, wenn die Personen als politisch aktiv oder der Opposition angehörend wahrgenommen werden. Auch andere Stellen berichten davon, dass es von Fall zu Fall abhänge und die Asylantragstellung im Rahmen der Klärung des rechtlichen Status vor Wiedereinreise eine Rolle spielen könne (für alles Vorstehende: EASO, Syria Situation of returnees from abroad, CoI-Information report Juni 2021, S. 11 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 4.12.2020, S. 24 ff.; United States Department of State, Syria 2020 Human Rights Report, S. 45; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, CoI-CMS 3. Version gen. am 30.6.2021, S. 100 ff.). In der Zusammenschau der Erkenntnislage konstatiert das Gericht daher, dass die Gefahr von Verfolgung durch den syrischen Staat bei bzw. nach einer Wiedereinreise nach Syrien im Hinblick auf den Auslandsaufenthalt und der Stellung eines Asylantrages im Einzelfall steigt, wenn gefahrerhöhende Umstände in der Person des Rückkehrers vorliegen, die für das Regime in Syrien den Verdacht nähren, der Betroffene könne sich oppositionell bzw. kritisch gegen das Regime betätigt haben. Hierzu bedarf es konkreter Anknüpfungsmerkmale, etwa einer beruflich exponierten Stellung, einer bedeutsamen Stellung in der regulären syrischen Armee oder den Sicherheitskräften oder verhaltensbedingter Anknüpfungstatsachen, etwa öffentlicher politischer Äußerungen oder der Aussage als Zeuge von Kriegsverbrechen o.ä.; anderenfalls stellt sich die Sicherheitslage für Rückkehrer als willkürlich dar.
In der Gesamtschau des klägerischen Vortrags und der aktenkundigen Anknüpfungstatsachen fehlt es den Klägern sowohl an solchen gefahrerhöhenden Umständen, bei denen kumulativ dazu der Auslandsaufenthalt und die Asylantragstellung den Verdacht nähren können, die Kläger seien der syrischen Opposition oder einer regimekritischen Konfliktpartei zugehörig. Die Kläger haben weder einem Kern regimekritischer Personen angehört oder sich selbst regimekritisch nach außen betätigt, noch nehmen sie sonst eine exponierte Position in der syrischen Gesellschaft, dem Militär oder der Opposition ein, aufgrund derer anzunehmen ist, bereits die Ausreise der Kläger bzw. die nicht erfolgte Rückkehr nach Syrien werde die Kläger der realen Gefahr einer Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr beachtlich wahrscheinlich aussetzen. Auch die Herkunft aus einer als regierungskritisch angesehenen Region Syrien stellt keinen solchen gefahrerhöhenden Umstand dar, zumal der Kläger zu 1. belegen kann, dass er von einer regierungskritischen Organisation inhaftiert worden war. Die vom Gericht anzustellende Prognose einer Verfolgungswahrscheinlichkeit im Falle einer hypothetischen Rückkehr der Kläger kann daher im Ergebnis keine objektiven Merkmale in die Gewichtung einstellen, die eine den Klägern drohende, gezielte Verfolgungshandlung aufgrund unterstellter oppositioneller Meinung oder Tätigkeit der Kläger unter Berücksichtigung ihres Auslandsaufenthalts und ihrer Asylantragstellung zumindest nahelegen.
Nachfluchtgründe ergeben sich dabei auch nicht aus dem Umstand, dass die Kläger zu 1. und 2. als Mitarbeiter des syrischen öffentlichen Dienstes ihre Stellung ohne Erlaubnis verlassen haben und ihnen deswegen strafrechtliche Konsequenzen drohen können. Die strafrechtlichen Konsequenzen knüpfen ebenfalls nicht an ein asylerhebliches Merkmal an, sondern an der Verletzung des gegebenen Rechtsrahmens, dem letztlich alle betroffenen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Syrien unterfallen. Überdies ist die Situation der Schulen in Syrien durch wiederholende Bombardements und Zerstörungen geprägt und bei realistischer Betrachtung nicht zu befürchten, das syrische Assad-Regime erwarte von den Klägern, weiterhin Dienst in einer Schule zu tun, die in einem von oppositionellen Rebellen kontrollierten Gebiet Syriens gelegen ist.
Dem Kläger zu 1. droht auch nicht eine mögliche Verfolgung aufgrund einer Wehrdienstentziehung. Eine solche Heranziehung ist nicht beachtlich wahrscheinlich, weil der Kläger seinen regulären Wehrdienst bereits seit Längerem vollständig abgeleistet und im Rahmen seines Wehrdienstverhältnisses keine Tätigkeiten ausgeübt hatte, bei denen besondere militärische Kenntnisse des Klägers ein erneutes Verwendungsinteresse des syrischen Staates im anhaltenden Bürgerkrieg als wahrscheinlich erscheinen lassen. Mittlerweile hat der Kläger auch das allgemeine Wehrdienstalter von 42 Jahren weit überschritten und hatte er dies auch bereits zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien. Das Gericht entnimmt den Erkenntnismitteln, die sich mit dem Zusammenhang von Reservistenstatus und Wehrdienstalter beschäftigen, dass eine Rekrutierung von Männern im Alter von über 42 Jahren nur in Einzelfällen, nach bestehenden Erkenntnissen der Quellen nicht aber systematisch vorgenommen wurde bzw. wird (vgl. bspw. The Danish Immigration Service, Syria – Military Service, CoI-Report Stand: Mai 2020, S. 18; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformation der Staatendokumentation, Syrien, CoI-Version 3 vom 30.6.2021, S. 50). Die Altersgrenze hängt nach Ansicht der Quellen von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab. Generell herrscht auch in diesem Bereich ein gehobenes Maß an Willkür. Eine Anordnung (administrative order) vom 6. Februar 2019 beendete den Reservedienst (Fortdauer und Einziehung) für die 1981 oder früher geborene Männer insbesondere der folgenden Kategorien: Unteroffiziere, Eingezogene, die nach Ende der Heranziehungszeit nicht entlassen wurden, und eingeschriebene zivile Reservisten. Auch hier sind die Angaben zur Umsetzung widersprüchlich (Danish Immigration Service, Syria – Military Service, CoI-Report Stand: Mai 2020, S. 19; EASO, Syria: Military Service, Stand: April 2021, S. 20). Generell sollen Reservisten in den letzten zwei Jahren nach und nach demobilisiert worden sein (EASO, Syria: Military Service, Stand: April 2021, S. 26), auch wenn für Anfang 2020 ein Anstieg der Rekrutierung und ein hoher Bedarf an Wehrpflichtigen und Reservisten wegen des aktuellen Kampfes an der Front bei Idlib festgestellt wurde (Danish Immigration Service, Syria – Military Service, CoI-Report Stand: Mai 2020, S. 9; EASO, Syria: Military Service, April 2021, S. 24). Anders als jüngere Wehrdienstpflichtige, die bisher keinen Militärdienst geleistet haben, stehen Reservisten generell nicht im Fokus der Heranziehungsbehörden; dies gilt in besonderem Maße für Reservisten älterer Jahrgänge, an denen die Armee geringeres Interesse hat, wenn sie nicht über Spezialkenntnisse oder -erfahrungen verfügen (so auch: OVG Berl.-Brdbg., U.v. 28.5.2021 – OVG 3 B 42/18, BeckRS 2021, 17265 Rn. 24). Der Kläger zu 1. fällt in diese für die syrische Armee wenig interessante Personengruppe.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.


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