Verwaltungsrecht

Unbegründeter Asylantrag eines 30-jährigen männlichen Asylbewerbers aus Afghanistan

Aktenzeichen  RN 8 K 16.31174

Datum:
23.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3,§ 3e, § 4 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Trotz der volatilen Sicherheitslage in Afghanistan stehen Provinzen bzw. Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen auch solche gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist, sodass hier die Möglichkeit internen Schutzes iSv § 3e AsylG besteht. (Rn. 14) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 In Afghanistan liegt weder im ganzen Land noch in einzelnen Gebieten eine Extremgefahr iSv § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG iVm Art. 15 lit. c QRL vor. Dies gilt angesichts aktueller Erkenntnismittel auch für die Stadt Kabul (vgl. BayVGH BeckRS 2015, 49742). (Rn. 16 – 18) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Eine extreme Gefahrenlage, wonach ein Rückkehrer nach Afghanistan aufgrund der desolaten Sicherheits- und Versorgungslage alsbald in existentielle Gefahr gerät, sodass ihm Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung zu gewähren ist, besteht nach der aktuellen Erkenntnislage bei alleinstehenden Männern im berufsfähigen Alter nicht (vgl. BayVGH BeckRS 2015, 43833). (Rn. 20 – 26) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist zwar zulässig, insbesondere wurde sie innerhalb der Frist nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 2, § 36 Asylgesetz (AsylG) erhoben. Die Klage ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) aber sowohl in Bezug auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (dazu unter 1.) sowie des subsidiären Schutzstatus (dazu unter 2.) als auch in Bezug auf die Feststellung von Abschiebungsverboten (dazu unter 3.) und auch im Übrigen unbegründet.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 AsylG.
a) Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskommission – GFK) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sind. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG insbesondere voraus, dass der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Verfolgung im Sinne der Vorschrift kann nach § 3 c AsylG vom Staat (Buchst. a), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Buchst. b), aber auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen (Buchst. c). Letzteres gilt jedoch nur, sofern die staatlichen Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3 d AsylG Schutz vor der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten, unabhängig davon, ob in dem betreffenden Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (vgl. § 3 e AsylG). Die Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften hat in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie – QRL) zu erfolgen. Wie sich aus Art. 4 Abs. 1, 2 und 5 QRL ergibt, kann dabei entsprechend der überkommenen Rechtsprechung (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 22.3.1983 – 9 C 68/81 – juris Rn. 5 m.w.N.) von dem schutzsuchenden Ausländer erwartet werden, dass er sich nach Möglichkeit unter Vorlage entsprechender Urkunden bemüht, seine Identität und persönlichen Umstände sowie die geltend gemachte Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr nachzuweisen oder jedenfalls substantiiert glaubhaft zu machen.
b) Ein individuelles Verfolgungsschicksal hat der Kläger nicht substantiiert und glaubhaft geltend gemacht. Es ist jedoch Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich seine Verfolgungsfurcht ergibt, in schlüssiger Form und von sich aus bei seinen Anhörungen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung darzulegen. Konkrete, gegen ihn selbst gerichtete Verfolgungsmaßnahmen hat der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt nicht geschildert. Er gab lediglich an, dass es in Afghanistan an Sicherheit fehle und es Selbstmordattentate gebe. Überall gebe es Krieg und nach 17.00 Uhr könne man nicht mehr auf die Straße gehen. Ein konkretes Ereignis bei ihm selbst, das ihn zur Ausreise bewogen habe, gebe es aber nicht. In der mündlichen Verhandlung berief der Kläger sich dann darauf, dass er beim Bundesamt nicht genügend Zeit gehabt hätte, um seine Fluchtgründe ausführlich darzulegen. Letztendlich liege die Ursache für seine Flucht in einer Familienfehde, die sich aus zwei Gründen ergeben habe: Zum einen hätte seine Mutter nach einem Familienstreit ihr Erbe von ihren Brüdern verlangt. Um dies durchzusetzen hätte sie ihm, dem Kläger eine Vollmacht gegeben, um für die Mutter zu den notwendigen Ämtern zu gehen. Die entsprechende Vollmacht mit beglaubigter Übersetzung wurde zu den Akten gegeben. Zum anderen sei sein Vater Einzelkind gewesen, und die vier Brüder seiner Mutter hätten an das Land kommen wollen, das sein Vater von seinem Vater geerbt hatte. Letztendlich hätten die Onkel seinen Vater im Jahr 2000 umgebracht, um an dieses Land zu kommen. Zur der Zeit, als er für seine Mutter in der Erbangelegenheit gegen ihre Brüder tätig gewesen sei, sei er mit der Tochter einer Tante mütterlicherseits verlobt gewesen. Nachdem es dem Onkel nicht gefallen hätte, dass er, der Kläger, für das Erbe seiner Mutter eintrete, habe er bei allen Verwandten, und den Älteren der Familie gegen ihn gehetzt und sogar behauptet, dass er mit seiner Verlobten Geschlechtsverkehr gehabt hätte. Er habe deshalb sogar mit der Polizei Schwierigkeiten bekommen. Letztendlich habe der Onkel seine Verlobte dazu gebracht, den Sohn des Onkels zu heiraten. Der Kläger sei aber nun wegen des angeblichen Geschlechtsverkehrs mit der Steinigung bedroht. Es gebe einen Beschluss der Ältesten, dass er das Vorgeworfene getan habe und dafür bestraft werden müsste. Einmal hätten ihn die Onkel auch erwischt und so geschlagen, dass er am Kopf mit mehreren Stichen hätte genäht werden müssen. Dies alles begründet aber keine Verfolgung des Klägers wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Selbst bei Wahrunterstellung kann das Vorbringen des Klägers allenfalls als Bedrohung bzw. Konflikt interfamiliärer oder krimineller Art gewertet werden. Das Vorbringen auch die „Polizei“ habe nach ihm gesucht bleibt insofern unsubstantiiert, zumal der Kläger selbst angibt, dass seine Onkel es waren, die ihn einmal aufgefunden und sodann geschlagen hätten. Im Ergebnis konnte der Kläger daher nicht zur Überzeugung des Gerichts darlegen, dass er vor seiner Ausreise aus einem in §§ 3, 3 b AsylG benannten Verfolgungsgrund verfolgt wurde oder ihm eine solche Verfolgung konkret drohte, noch, dass ihm bei einer Rückkehr in sein Heimatland konkrete Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib, Leben oder Beschränkung der persönlichen Freiheit drohen würden.
Selbst wenn man aber unterstellen würde, dass dem Kläger relevante Verfolgungsmaßnahmen konkret drohen, was nicht der Fall ist, ist nicht erkennbar, warum er dann im Hinblick auf die bedrohlichen Verhältnisse nicht in andere Gebiete Afghanistans ausweichen konnte bzw. könnte (vgl. § 3 e AsylG). Denn trotz der volatilen Sicherheitslage in Afghanistan stehen Provinzen bzw. Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen auch andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016, S. 4). Hinzu kommt, dass der Kläger nach eigenen Angaben über sechs Jahre Schulbildung verfügt und sich über die Jahre verschiedene – auch höherwertige Fähigkeiten – am Bau angeeignet habe. Er könne z.B. Fliesen legen und Architektenzeichnungen lesen und nach diesen Zeichnungen Mauern bauen. Er verfügt damit über Kenntnisse und Fertigkeiten, die er sich bei einem solchen Ortswechsel nutzbar machen könnte (vgl. § 3e AsylG). Das Gericht geht deshalb davon aus, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt auch z.B. in Kabul oder in einer anderen größeren Stadt sicherstellen kann und somit vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Dass er durch einen Schuldspruch der Dorfältesten landesweit konkreten Gefahren für Leib oder Leben ausgesetzt wäre, ist weder substantiiert dargetan noch sonst ersichtlich.
2. Dem Kläger steht kein subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG (Todesstrafe), § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 AsylG (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung), oder § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) in Bezug auf Afghanistan, wohin ihm die Abschiebung angedroht wurde, zu.
Insoweit bedarf vorliegend lediglich die Schutzregelung nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG der Erörterung. Danach steht einem Ausländer subsidiärer Schutz zu, wenn er in seinem Herkunftsland als Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre. Die geforderte „individuelle“ Bedrohung muss dabei nicht notwendig auf die spezifische persönliche Situation des schutzsuchenden Ausländers zurückzuführen sein. Der betreffende subsidiäre Schutzanspruch besteht vielmehr auch dann, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, U.v. 17.2.2009 – C-465/07).
Davon ist nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht auszugehen. Zwar besteht nach wie vor in Afghanistan landesweit ein bewaffneter Konflikt zwischen den von den internationalen Kräften unterstützten Regierungseinheiten und den pauschal als Taliban bezeichneten Oppositionskräften. Auch hat die Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr einmal mehr insgesamt zugenommen, wobei allerdings einem Anstieg von neun Prozent bei den Verletzten ein Rückgang um vier Prozent bei den Toten gegenüber steht; insgesamt waren in Afghanistan im Jahr 2015 3.545 zivile Todesopfer und 7.457 verletzte Zivilpersonen zu beklagen (vgl. UNAMA, Afghanistan Annual Report 2015, February 2016, S. 1). Im ersten Halbjahr 2016 sind bereits 1.601 Todesopfer und 3.565 Verletzte zu beklagen (UNAMA Midyear Report 2016, Juli 2016, S. 1). Insgesamt bewegt sich die Opferzahl in den ersten 9 Monaten des Jahres 2016 in etwa auf dem geleichen Niveau wie den ersten 9 Monaten 2015 (vgl. UNAMA Quarterly Report 2016 v. 19.10.2016, S. 1). Daraus allein kann jedoch weder für das ganze Land noch für einzelne Gebiete auf eine Extremgefahr im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c QRL geschlossen werden.
Eine solche lassen sich auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel auch für die Stadt Kabul, in der der Kläger nach 1998 in der Zeit, in der er sich in Afghanistan aufgehalten hat, gelebt hat, nicht feststellen. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht nach einer eingehenden Auswertung der Auskunftslage davon aus, dass afghanische Staatsangehörige bei einer Rückkehr in die Zentralregion im Allgemeinen keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt sind (vgl. BayVGH, B.v. 30.7.2015 – 13a ZB 15.30031 – juris; BayVGH, U.v. 13.8.2013 – 13a ZB 13.30216 – juris; BayVGH, U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30425 – juris.; BayVGH, U.v. 8.11.2012 – 13a B 11.30391 – juris; BayVGH, U.v. 1.2.2013 – 13a B 12.30045 – juris Rn. 14). Zwar ist auch die Stadt Kabul von der allgemeinen Verschlechterung der Sicherheitslage betroffen (vgl. Schnellrecherche der SFJ-Länderanalyse v. 6.6.2016 zu Afghanistan: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, S. 1). Dass nicht gleichsam jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist, folgt aber im Übrigen bereits daraus, dass die Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2015 für ganz Afghanistan (knapp 30 Millionen Einwohner) von UNAMA (vgl. UNAMA, Afghanistan Annual report 2015, S. 1.) mit 3.545 Toten und 7.475 Verletzten, sowie in den ersten 9 Monaten 2016 mit 2.562 Toten und 5.835 Verletzten angegeben wird (vgl. UNAMA, Quarterly Report 2016, S. 1). Aufgrund der aktuellen Erkenntnislage erklärt der Bundesinnenminister in einem Brief an die Länderminister vom 9.1.2017, dass die afghanischen Sicherheitskärfte auch weiterhin in der Lage seien, in den meisten urbanen Zentren, worunter die Hauptstadt Kabul und die Mehrheit der 33 weiteren Provinzstädte fielen, die Kontrolle auszuüben. Es gebe verschiedene Gebiete in Afghanistan, in denen die Sicherheitslage ausreichend kontrollierbar sei. Allein die abstrakte Gefahr, angesichts der fragilen Sicherheitslage in Afghanistan Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen zu werden, reicht für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus jedenfalls nicht aus.
3. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG ist nicht ersichtlich.
a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dass für ihn in Afghanistan landesweit eine individuelle erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bestehen würde, hat der Kläger aber nicht hinreichend dargetan und glaubhaft gemacht. Es ist jedoch Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich individuelle Gefahren ergeben, in schlüssiger Form und von sich aus bei seinen Anhörungen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung darzulegen.
Wie bereits an anderer Stelle angesprochen hat der Kläger hat im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Gründe für seine Flucht in einer Familienfehde liegen, die zum einen aus einer Erbstreitigkeit der Mutter mit deren Brüdern herrührt, zum anderen aus dem Mord der Brüder der Mutter an seinem Vater, um an dessen Grundstücke zu kommen. Diese Erbstreitigkeiten sowie die Verfeindung seiner Familien mit den Onkeln mütterlicherseits hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch glaubhaft dargestellt. Auch erscheint glaubwürdig, dass der Kläger insofern in die Fehde mit hineingezogen wurde, als er aufgrund der ihm von der Mutter eingeräumten Vollmacht für diese in der Erbangelegenheit für ihre Brüder tätig wurde. Schließlich erscheint nicht zwingend abwegig, dass der Onkel mütterlicherseits die Verlobte des Klägers für seinen Sohn zur Frau wollte und dies auch durchsetzte. Schwer nachvollziehbar erscheint dann allerdings, weshalb der Onkel den Kläger dann noch des Geschlechtsverkehrs mit seiner Verlobten bezichtigen sollte und dafür auch nur der Kläger bestraft werde sollte. Außereheliche Beziehungen gelten in Afghanistan als ehrverletzend – vor allem für die Familie der Frau. Zudem wird in der Regel versucht werden, innerhalb der Familie eine Lösung zu finden, um die Reputation der Familie nicht zu gefährden. Gelingt dies nicht, kann es zwar zu Ehrenmorden durch die Familie kommen, vor Gericht werden diese Fälle aber kaum gebracht (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Zina, ausserehelicher Geschlechtsverkehr, 2.10.2012, S. 5). Zina-Vergehen (außerehelicher Geschlechtsverkehr) stellen im afghanischen Strafgesetz von 1976 einen Straftatbestand dar. Sowohl Frauen als auch Männer werden wegen Zina strafrechtlich verfolgt und zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Höchststrafe beträgt sieben Jahre, in Ausnahmefällen bis zu zehn Jahren, z.B. wenn die Frau verheiratet war. Zwar werden auch Männer wegen Zina bestraft, doch Frauen werden häufiger und in der Regel härter bestraft (vgl. zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe: a.a.O., S. 2f.). Auf die Frage, ob ein des Ehebruchs bezichtigter Mann der Gefahr einer Steinigung ausgesetzt wäre, berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe von Fällen, in denen es tatsächlich zu Steinigungen gekommen sein soll. Die geschilderten Fälle sind aber allesamt nicht mit dem vorliegenden vergleichbar: In einem Fall wird von einem gemischt ethnischen Paar (er Tadschik, sie Hazara) berichtet, das einem konservativen Umfeld stammte und für das die Dorfbewohner die Steinigung verlangten. Die Polizei versuchte das Paar hier zu schützen, nachdem sogar der Vater des Mädchens dessen Ermordung gefordert hatte. Auch in den weiteren geschilderten Fällen wurden jeweils sowohl der Mann als auch die Frau gesteinigt. Vorliegend erklärte der Kläger, ohne dies näher darzulegen, dass er sogar mit der Polizei Probleme bekommen hätte. Das Mädchen ist nach der Schilderung des Klägers zwar einmal von den Verwandten geschlagen worden, konnte dann aber unbehelligt den Sohn des Onkels heiraten. Nach den geschilderten Bestrafungen von Zina-Vergehen erscheint es aber äußert unglaubwürdig, dass der Kläger der Steinigung ausgesetzt sein soll, dem Mädchen dies aber nicht drohe, es vielmehr nahezu unbehelligt geblieben ist und nicht weiter verfolgt wird. Insofern erscheint es nicht glaubwürdig, dass dem Kläger die Steinigung droht, dem Mädchen jedoch nicht, und auch, dass der Kläger durch die Polizei verfolgt wird. Letzteres wird zudem nicht näher erläutert, der Kläger führt nur aus, dass die Onkel die Polizei dazu gebracht hätte, nach ihm zu suchen.
Selbst wenn der Kläger aber befürchten müsste, dass es am oder in der Nähe seines Wohnortes zu weiteren Auseinandersetzungen mit der Familie kommen könnte, wäre es dem Kläger für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan ohne weiteres zumutbar, in andere Gebiete Afghanistans (z.B. in größere Städte) auszuweichen und sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Dafür, dass der Kläger aufgrund der geltend gemachten interfamiliären Konflikts landesweit konkrete Verfolgungsmaßnahmen befürchten müsste, gibt es keine konkreten Hinweise, zumal der vorgetragene Beschluss bezüglich seines Vergehens von Dorfältesten, nicht von einem offiziellen Gericht stammt, was zu einer landesweiten Verfolgung führen könnte.
b) Die Not- und Gefahrenlage, der die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, ist nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG grundsätzlich bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, d.h. im Wege einer generellen politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörden und nicht durch Einzelfallentscheidungen des Bundesamts. Fehlt es – wie hier – an einem solchen Abschiebestopp-Erlass oder einem sonstigen vergleichbar wirksamen Abschiebungshindernis, ist die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei verfassungskonformer Auslegung ausnahmsweise dann unbeachtlich, wenn dem Ausländer auf Grund der allgemeinen Verhältnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit extreme Gefahren drohen. Diese Voraussetzungen hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung mit der Formulierung umschrieben, eine Abschiebung müsse ungeachtet der Erlasslage dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 14.11.2007 – 10 B 47/07 – juris m.w.N.). Eine extreme Gefahrenlage in diesem Sinn ist indes grundsätzlich auch dann anzunehmen, wenn dem Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage in seiner Heimat landesweit der alsbaldige sichere Hungertod drohen würde.
Ob die Annahme einer extremen Gefahrenlage im Wege der verfassungskonformen Auslegung nunmehr ausscheidet, weil das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 31. Januar 2013 (Az. 10 C 15/12) davon ausgeht, dass in begründeten Ausnahmefällen schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat (auch) ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen können, kann letztlich dahinstehen, da die anzuwendenden Gefahrenmaßstäbe identisch sind.
Von einer derartigen extremen Gefahrenlage bzw. von einem begründeten Ausnahmefall im gerade dargelegten Sinne ist vorliegend jedoch nicht auszugehen. Trotz der sich aus den verwerteten Erkenntnisquellen ergebenden desolaten Sicherheits- und Versorgungslage kann gleichwohl nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer in Afghanistan alsbald in existenzielle Gefahr gerät. Zwar weist der UNHCR darauf hin, dass die traditionell erweiterten Familien- und Gemeinschaftsstrukturen der afghanischen Gesellschaft – insbesondere in ländlichen Gebieten, in denen die Infrastruktur nicht so entwickelt ist – weiterhin den vorwiegenden Schutzmechanismus bieten und insbesondere rückkehrende Familien ohne männlichen Familienvorstand auf diese familiären Strukturen und Verbindungen zum Zweck der Sicherheit, des Zugangs zur Unterkunft und eines angemessenen Niveaus des Lebensunterhalts angewiesen seien. Alleinstehende Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter haben aber auch nach Einschätzung des UNHCR auch ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft insbesondere in städtischen Gebieten mit entwickelter Infrastruktur und unter effektiver Kontrolle der Regierung die Chance ihr Auskommen finden (vgl. zum Ganzen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom August 2013, insb. S. 9). Zwar mag sich die Situation in Kabul sowie in anderen Provinzen in den nördlichen, nordöstlichen und östlichen Regionen auch im Hinblick auf die große Zahl von Binennfllüchtlingen und Rückkehrern insbesondere aus Pakistan oder dem Iran zugespitzt haben. Dem stehen aber auch Gebiete gegenüber, die von dem jüngsten Anstieg der Rückkehrbewegung wenig bis kaum betroffen waren (vgl. UNAMA, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des Deutschen Bundesministeriums des Inneren vom Dezember 2016).
Der Kläger ist ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann. Er verfügt nach seinen Angaben über eine für afghanische Verhältnisse relativ gute Schulausbildung (6 Jahre Schule) und hat bis kurz vor seiner Ausreise auf dem Bau gearbeitet. Nach seinem Vortrag hat der Kläger auf dem Bau nicht nur Handlangertätigkeiten ausgeübt, sondern durchaus qualifiziertere Arbeiten verrichtet, wie Fliesen legen, oder nach Architektenplänen, die er nach eigenen Angaben lesen könne, Mauern errichtet. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände ist daher ohne weiteres davon auszugehen, dass es dem Kläger möglich sein wird, sein Leben in Afghanistan zu bestreiten. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass es aus dem europäischen Ausland zurückkehrenden, alleinstehenden männlichen arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen auch ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne familiären Rückhalt möglich ist, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich (wieder) in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. (vgl. BayVGH, U.v. 12.2.2015, – 13a B 14.30309; BayVGH, U.v. 4.6.2013 – 13a B 12.30063 m.w.N). Dem gegenüber stellt sich die Situation des Klägers durchaus weniger problematisch dar.
3. Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung beruhen als gesetzliche Folge der Nichtanerkennung als Asylberechtigter, der Nichtzuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des fehlenden Aufenthaltstitels auf §§ 34 Abs. 1, 38 AsylG.
4. Schließlich ist auch die gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG gebotene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung rechtlich nicht zu beanstanden. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen in Anwendung von § 77 Abs. 2 AsylG von einer weiteren Darstellung der Gründe abgesehen und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids (unter Ziffer 6) gefolgt.
Nach alldem war die Klage deshalb mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO als unbegründet abzuweisen.
Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG; deshalb ist auch die Festsetzung eines Streitwerts nicht veranlasst. Die Entscheidung im Kostenpunkt war gemäß § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.


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