Verwaltungsrecht

Unrichtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung; Eilantrag vor Erhebung eines Widerspruchs; vorläufiger Rechtsschutz gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis

Aktenzeichen  3 M 220/21

Datum:
15.3.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt 3. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OVGST:2022:0315.3M220.21.00
Normen:
§ 4 Abs 5 S 1 Nr 3 StVG
§ 58 Abs 1 VwGO
§ 58 Abs 2 VwGO
§ 68 Abs 1 VwGO
§ 70 VwGO
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Spruchkörper:
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Leitsatz

1. Enthält der Verwaltungsakt im Anschluss an die insoweit zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung, dass gegen den Verwaltungsakt Widerspruch erhoben werden könne, einen weiteren Hinweis, dass gegen den Bescheid Klage erhoben werden könne, ist die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig mit der Folge, dass für die Einlegung des Rechtsbehelfs die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO eingreift.(Rn.7)

2. Die Zulässigkeit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO setzt nicht voraus, dass vor der Antragstellung oder vor dem Ergehen der gerichtlichen Entscheidung Widerspruch eingelegt wurde, wenn noch zulässigerweise Widerspruch eingelegt werden kann, also die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen ist.(Rn.10)

3. Die Zustellungsurkunde begründet den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Der Gegenbeweis erfordert den Nachweis eines anderen Geschehensablaufs. Hierfür reicht es nicht aus, dass der Betroffene die dokumentierte Zustellung zweiter Schreiben durch Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten mit dem Vorbringen anzweifelt, dass die Bewohner der Wohnung kein amtliches Schreiben entgegengenommen hätten und in der Vergangenheit mehrfach Briefsendungen mit anderen Adressen in den eigenen Briefkasten eingeworfen worden seien.(Rn.16)
(Rn.17)

4. Im Zusammenhang mit der Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Behörde gemäß § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden, so dass weder von der Behörde noch vom Gericht zu prüfen ist, ob rechtskräftige Bußgeldbescheide zu Recht ergangen sind.(Rn.20)

Verfahrensgang

vorgehend VG Magdeburg, 14. Dezember 2021, 1 B 237/21 MD, Beschluss

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Magdeburg – 1. Kammer – vom 14. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird unter Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Instanzen auf jeweils 10.000 € festgesetzt.

Gründe

I. Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Magdeburg – 1. Kammer – vom 14. Dezember 2021 ist unbegründet. Der Antrag des Antragstellers auf vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 3. November 2021, mit dem ihm die Fahrerlaubnis entzogen wurde, ist zwar zulässig (1). Er ist jedoch unbegründet, da keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides bestehen (2).
1. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ist entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts zulässig. Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung u.a. in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, wenn also – wie hier gemäß § 4 Abs. 9 StVG – Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, ganz oder teilweise anordnen.
Der Antragsteller wendet gegen die erstinstanzliche Entscheidung zu Recht ein, dass die Zulässigkeit des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz nicht daran scheitert, dass er gegen den Bescheid vom 3. November 2021 keinen Widerspruch erhoben hat.
a) Der Antrag ist nicht durch Versäumung der Frist zur Einlegung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 3. November 2021 bestandskräftig geworden. Zwar ist ein Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung unzulässig, wenn der Verwaltungsakt, um dessen Vollziehung es geht, bereits unanfechtbar geworden ist (BVerwG, Beschluss vom 31. Juli 2006 – 9 VR 11.09 – juris Rn. 3; OVG LSA, Beschluss vom 2. August 2021 – 2 M 58/12 – juris Rn. 6). Dies gilt jedenfalls dann, wenn an der Verfristung des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs keine vernünftigen Zweifel bestehen bzw. diese offensichtlich ist und auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand offensichtlich nicht in Betracht kommt (OVG LSA, a.a.O.; VGH BW, Beschluss vom 3. Juni 2004 – 6 S 30/04 – juris Rn. 4).
Der Bescheid des Antragsgegners vom 3. November 2021 ist jedoch nicht unanfechtbar geworden. Der Antragsteller hat zwar gegen den Bescheid keinen Widerspruch erhoben, obwohl dies der statthafte Rechtsbehelf gewesen wäre. Bestandskraft ist jedoch nicht eingetreten, weil die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides aufgrund eines unzutreffenden Hinweises unrichtig ist.
Grundsätzlich ist vor Erhebung der Anfechtungsklage gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO ein Vorverfahren durchzuführen. Gesetzliche Ausnahmen von diesem Erfordernis nach § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO greifen hinsichtlich des Bescheides vom 3. November 2021 nicht ein. Der Antragsteller hat gegen den Bescheid keinen Widerspruch, sondern – gleichzeitig mit dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz – Klage erhoben. Die Einlegung des Widerspruchs wird durch die Erhebung der Klage nicht ersetzt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 70 Rn. 3).
Wird gegen einen Verwaltungsakt nicht fristgemäß Widerspruch erhoben (vgl. § 70 VwGO), so wird der Bescheid grundsätzlich unanfechtbar. Die Frist für einen Rechtsbehelf beginnt jedoch gemäß § 58 Abs. 1 VwGO nur zu laufen, wenn der Beteiligte u.a. über den Rechtsbehelf und die einzuhaltende Frist belehrt worden ist. Das ist hier nicht der Fall. Die Belehrung in dem Bescheid vom 3. November 2021 war unrichtig. Zu Beginn der Rechtsbehelfsbelehrung wird der Antragsteller zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass gegen die Anordnung und die damit verbundene Kostenfestsetzung innerhalb eines Monats nach ihrer Bekanntgabe Widerspruch erhoben werden könne. Im darauf folgenden Abschnitt „Hinweis“ heißt es aber auch, dass „gegen diesen Bescheid“ innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben werden könne. Dieser Hinweis ist falsch, weil die Klageerhebung vor der Durchführung eines Vorverfahrens unzulässig ist (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und weil die Klage innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheides erhoben werden muss (§ 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Unzutreffende oder irreführende Angaben machen die Belehrung unrichtig, wenn sie geeignet sind, die Einlegung des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs nennenswert zu erschweren (Kopp/Schenke, a.a.O. § 58 Rn. 12). Angesichts der Benennung von zwei Rechtsbehelfen (die sich grundsätzlich gegenseitig ausschließen) dürfte schon unklar sein, welcher Rechtsbehelf für die Anfechtung des Bescheides einschlägig ist. Auch wenn sich – wie das Verwaltungsgericht meint – aus der Rechtsbehelfsbelehrung ergeben sollte, dass der Widerspruch statthafter Rechtsbehelf sei, geht aus der Belehrung zusammen mit dem zusätzlichen Hinweis nicht mit hinreichender Klarheit hervor, dass ausschließlich der Widerspruch statthafter Rechtsbehelf ist. Die Belehrung kann mit dem weiteren Hinweis auf die Klagemöglichkeit so verstanden werden, dass der Betroffene, wenn er den Bescheid anfechten wolle, die Wahl zwischen der Einlegung eines Widerspruchs und der Erhebung einer Klage habe. Dann könnte der Betroffene von der Einlegung eines Widerspruchs abgehalten werden, weil er sich das Vorverfahren ersparen will und für die Klage entscheidet, um eine schnelle gerichtliche Entscheidung zu erreichen. Es könnte auch der Eindruck entstehen, zur wirksamen Anfechtung des Bescheides müssten beide Rechtsbehelfe eingelegt werden. Auch dies könnte den Betroffenen von der Einlegung des Widerspruchs abhalten, weil er ein – demnach zusätzlich erforderliches – gerichtliches Verfahren scheut. Den Ausführungen in dem Bescheid lässt sich auch nichts dafür entnehmen, dass die Klageerhebung lediglich ein optionaler Rechtsbehelf neben dem – jedenfalls – zur Anfechtung des Bescheides erforderlichen Widerspruch sein soll. Allein aus dem Umstand, dass die Möglichkeit der Klage nicht in der „Rechtsbehelfsbelehrung“, sondern in einem weiteren Abschnitt mit der Überschrift „Hinweis“ erwähnt ist, ergibt sich nicht, dass dieser Hinweis unbeachtlich oder unverbindlich sein soll oder es sich um ein Versehen handelt.
Ist die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig erteilt, so ist der Rechtsbehelf gemäß § 58 Abs. 2 VwGO in der Regel innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig. Ein Widerspruch kann demnach jedenfalls noch fristgemäß nachgeholt werden. Bestandskräftig ist der Bescheid nicht geworden.
b) Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ist auch nicht – wie das Verwaltungsgericht aber meint – unzulässig, weil es an der für die Anfechtungsklage geltenden Sachentscheidungsvoraussetzung der ordnungsgemäßen Durchführung eines Vorverfahrens fehle. Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind vor der Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren zu prüfen. Fehlt es an einem – fristgemäßen – Widerspruch gegen den Verwaltungsakt, ist auch die Anfechtungsklage gegen den Verwaltungsakt unzulässig (vgl. hierzu die vom Verwaltungsgericht angegebenen Quellen: Geis, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 70 Rn. 1; Rennert, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 70 Rn. 7; OVG Saarl, Urteil vom 21. März 1995 – 2 M 1/19 – juris Rn. 24). Die (vollständige) Durchführung eines Vorverfahrens ist jedoch nicht zugleich Sachentscheidungsvoraussetzung des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Gericht bereits vor Abschluss des Vorverfahrens, also vor der Entscheidung über den Widerspruch, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Verwaltungsakt anordnen oder wiederherstellen kann. Ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO ist allerdings – wie ausgeführt – unzulässig, wenn keine vernünftigen Zweifel daran bestehen, dass die Widerspruchsfrist versäumt wurde und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht kommt. Daraus folgt aber nicht, dass ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO unzulässig ist, wenn ein Widerspruch gegen den Verwaltungsakt noch nicht eingelegt wurde, die Widerspruchsfrist aber – wie hier – noch nicht abgelaufen ist. Die Frage, ob die Zulässigkeit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO voraussetzt, dass vor der Antragstellung bzw. vor dem Ergehen der gerichtlichen Entscheidung Widerspruch eingelegt wurde (wenn noch zulässigerweise Widerspruch eingelegt werden kann), ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten (für dieses Erfordernis: OVG RhPf, Beschluss vom 8. November 1994 – 7 B 12827/94 – juris Rn. 5; Schoch, in: Schoch/Schneider, VwGO, 21. Aufl., 41. EL Juli 2021, § 80 Rn. 460; Bostedt, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 80 VwGO Rn. 127; § 80 VwGO Rn. 127; Hoppe, in: Eyermann, a.a.O.; § 80 Rn. 81; dagegen: OVG NRW, Beschluss vom 18. September 2020 – 14 B 985/20 – juris Rn. 7 ff.; BayVGH, Beschluss vom 27. August 1987 – 25 CE 87.1911 – BeckRS 2010, 56615, beck-online; VG Gießen, Beschluss vom 14. Oktober 2021 – 8 L 3290/21.GI – juris Rn. 21; VG Freiburg, Beschluss vom 26. Juli 2019 – 6 K 3099/19 – juris Rn. 2; VG Neustadt [Weinstraße], Beschluss vom 11. Februar 2019 – 5 L 85/19.NW – juris Rn. 19; VG Köln, Beschluss vom 19. Oktober 2017 – 6 L 3509/17 – juris Rn. 15; VG Saarl, Beschluss vom 29. April 2013 – 3 L 559/13 – juris Rn. 3; Puttler, in: Sodan/Ziekow, a.a.O. Rn. 129; Kopp/Schenke, a.a.O., § 80 Rn. 139; zur Gegenauffassung neigend auch VGH BW, Beschluss vom 30. April 1994 – 1 S 1144/94 – juris Rn. 11).
Mit dem Antragsteller ist der Senat der Auffassung, dass eine Sachentscheidung über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht voraussetzt, dass zuvor Widerspruch gegen den zugrunde liegenden Bescheid erhoben wurde. Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO ist der Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Nach dem Wortlaut dieser Regelung ist ein Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO jedenfalls vor der Einlegung eines Hauptsacherechtsbehelfs zulässig, wenn ein Widerspruchsverfahren nicht vorgesehen ist. Es gibt aber keinen Grund dafür, dass etwas Anderes gelten soll, wenn ein Vorverfahren vorgeschaltet ist (vgl. Kopp, a.a.O.). § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO ist auch nicht in dem Sinne zu verstehen, dass die Regelung nur den Zeitraum zwischen der Zurückweisung des Widerspruchs und der Erhebung der Anfechtungsklage erfasst (so: Schoch, a.a.O; BayVGH, Beschluss vom 23. Dezember 2020 – 20 CS 20.3059 – juris Rn. 3; anders aber offenbar: BayVGH, Beschluss vom 26. November 2020 – 20 CE 20.2735 – juris Rn. 3). Dem Wortlaut der Regelung und der Gesetzessystematik lässt sich nichts dafür entnehmen, dass die Regelung nur dann gelten sollte, wenn der Klageerhebung ein Widerspruchsverfahren vorausgeht (vgl. BayVGH, Beschluss vom 26. Juni 1984 – 11 Cs 83 C.1105 – juris). Aus der Vorschrift folgt vielmehr, dass der Rechtsbehelf, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet oder wiederhergestellt wird, noch nicht erhoben sein muss. Dies entspricht dem Sinn und Zweck des § 80 VwGO, einen möglichst effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (OVG NRW, Beschluss vom 18. September 2020 a.a.O.). § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO steht der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines noch zu erhebenden Widerspruchs ebenfalls nicht entgegen. Danach setzt der Eintritt der aufschiebenden Wirkung in Verfahren, in denen ein Vorverfahren durchzuführen ist, zwar die Erhebung des Widerspruchs voraus. Dies hindert aber die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines noch zu erhebenden Widerspruchs nicht, die dann eben mit der Erhebung des Widerspruchs eintritt (OVG NRW, a.a.O.).
2. Der demnach sinngemäß gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung eines noch zu erhebenden Widerspruchs gegen den Bescheid vom 3. November 2021 anzuordnen, ist nicht begründet.
Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines noch zu erhebenden Widerspruchs gegen den Bescheid vom 3. November 2021 nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kommt nicht in Betracht. Das Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des gemäß § 4 Abs. 9 StVG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Bescheides vorläufig verschont zu bleiben, überwiegt nicht gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides.
Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (§ 40 i.V.m. Anlage 13 FeV) ergeben. Hierbei handelt es sich um eine unwiderlegliche Vermutung (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 – 3 C 21.07 – juris Rn. 20). Für die Entscheidung über die Entziehung besteht kein Ermessensspielraum (BayVGH, Beschluss vom 21. Oktober 2020 – 11 CS 20.1509 und 11 C 20.1510 – juris Rn. 16).
a) Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem setzt voraus, dass der Fahrerlaubnisinhaber zuvor das Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG ordnungsgemäß durchlaufen hat (§ 4 Abs. 6 StVG), d.h. dass er bei Erreichen von vier oder fünf Punkten ermahnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) und bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten verwarnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) wurde.
Hiervon ist nach summarischer Prüfung auszugehen. Der Antragsgegner hat ein an den Antragsteller gerichtetes Schreiben vom 16. Dezember 2019 vorgelegt, mit dem dieser aufgrund mehrerer – im Einzelnen aufgeführter – Eintragungen im Fahreignungsregister mit einem Punktestand von vier Punkten ermahnt und darauf hingewiesen wurde, dass er „entsprechend § 4 Abs. 7 Satz 2 StVG die Möglichkeit [habe], freiwillig an einem Fahreignungsseminar teilzunehmen und hierüber der zuständigen Fahrerlaubnisbehörde innerhalb von zwei Wochen nach Beendigung eine Teilnahmebescheinigung vorzulegen“. Außerdem wurde der Antragsteller gemäß § 4 Abs. 5 Satz 2 StVG auf die Möglichkeit eines Punktabzugs bei Vorlage einer Teilnahmebescheinigung hingewiesen. Der Antragsgegner hat auch ein weiteres an den Antragsteller gerichtetes Schreiben vom 6. Februar 2020 vorgelegt, mit dem dieser aufgrund erneuter – wiederum im Einzelnen aufgeführter – Eintragungen im Fahreignungsregister mit einem Punktestand von sechs Punkten verwarnt wurde.
Es bestehen keine durchgreifenden Zweifel daran, dass dem Antragsteller diese Schreiben bekanntgegeben wurden. Die Schreiben wurden ihm ordnungsgemäß im Wege der Ersatzzustellung gemäß § 1 Abs. 1 VwZG LSA i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i.V.m. § 180 Satz 2 ZPO durch das – mit Zustellungsurkunde nachgewiesene – Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt. Die Zustellungsurkunde begründet den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen (§§ 182 Abs. 1 Satz 2, 418 Abs. 1 ZPO). Zwar ist der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO). Der Gegenbeweis erfordert jedoch den Nachweis eines anderen Geschehensablaufs. Hierfür muss der Beweispflichtige zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache, etwa ein Fehlverhalten des Postzustellers bei der Zustellung und damit eine inhaltlich falsche Beurkundung in der Postzustellungsurkunde darlegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Oktober 1996 – 4 B 181.96 – juris Rn. 7; Urteil des Senats vom 1. Juli 2021 – 3 L 154/18 – juris Rn. 29; SächsOVG, Urteil vom 8. November 2018 – 1 A 175/18 – juris Rn. 38, juris; BayVGH, Beschluss vom 3. Februar 2017 – 10 ZB 16.2180 – juris Rn. 10).
Diesen Anforderungen entsprechen die Erklärungen des Antragstellers sowie die eidesstattlichen Versicherungen des Antragstellers und dessen im gemeinsamen Haushalt lebender Familienangehöriger nicht. Der Antragsteller, seine Ehefrau und sein Sohn haben in den eidesstattlichen Versicherungen lediglich erklärt, keine amtlichen Schreiben entgegengenommen zu haben. Damit haben sie nicht glaubhaft gemacht, dass der in den Zustellungsurkunden beurkundete Geschehensablauf, nach dem die Schreiben jeweils in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt worden seien, falsch ist.
Insbesondere gehen aus den pauschalen Erklärungen keine Umstände hervor, die geeignet sind, ein Fehlverhalten der Zustellerin bei den Zustellungen zu belegen. Auch die Behauptung des Antragstellers, es seien mehr als dreimal Briefsendungen mit anderen Adressen in seinen Briefkasten eingeworfen worden, die er bzw. seine Familienangehörigen danach selbst an die richtige Adresse gebracht hätten, reicht als Gegenbeweis für die beurkundeten Tatsachen nicht aus (vgl. zu einem ähnlichen Vorbringen: BayVGH, Beschluss vom 3. Februar 2017, a.a.O. Rn. 10). Selbst wenn es in der Vergangenheit in einem vom Antragsteller nicht näher definierten Zeitraum zu mindestens vier Fehleinwürfen in den Briefkasten des Antragstellers gekommen sein sollte, lässt sich nicht darauf schließen, dass die hier in Frage stehenden Zustellungen fehlerhaft waren. Die vom Antragsteller vorgetragenen Fälle, bei denen es sich offenbar um gewöhnliche Postsendungen gehandelt hat, sind mit den vorliegenden Zustellungen, bei denen die Zustellerin den Einwurf in den „richtigen“ Briefkasten ausdrücklich schriftlich bestätigt hat, nicht vergleichbar. Im vorliegenden Fall soll es nach dem Vorbringen des Antragstellers auch nicht bei einzelnen Postsendungen aus einer unbestimmten Vielzahl zu Fehlern gekommen sein. Vielmehr sollen – ausgerechnet – zwei im Wege der förmlichen Zustellung übersandte Sendungen trotz gegenteiliger Beurkundung nicht in den Briefkasten eingeworfen worden sein. Hätte die Zustellerin die Sendungen in einen anderen Briefkasten eingeworfen, wäre es im Übrigen wahrscheinlich, dass der jeweilige Wohnungsinhaber die Sendung, die er in seinem Briefkasten vorgefunden hätte, an den richtigen Adressaten übergeben hätte (wie es der Antragsteller nach seinen Bekundungen bei den „mehr als 3 Fällen“ auch getan hat) oder mit einem kurzen Hinweis auf den Irrläufer in einen Briefkasten der Post geworfen hätte.
Mit den Schreiben vom 16. Dezember 2019 und 6. Februar 2020 ist der Antragsgegner der vom Antragsteller angesprochenen „Warnfunktion“ nachgekommen. Weitere behördliche Maßnahmen vor der Entziehung der Fahrerlaubnis waren nicht geboten. Insbesondere bedurfte es nicht der vom Antragsteller verlangten Aufforderung zur Absolvierung einer Nachschulungsmaßnahme. Das Straßenverkehrsgesetz sieht in § 4 Abs. 7 Satz 1 StVG lediglich die freiwillige Teilnahme an Fahreignungsseminaren zum Punkteabbau vor, verpflichtet jedoch die Fahrerlaubnisbehörde nicht, vor der Entziehung der Fahrerlaubnis Nachschulungsmaßnahmen anzuordnen.
b) Wie sich aus der Tabelle in dem angefochtenen Bescheid ergibt, hat der Antragsteller einen Stand von acht Punkten erreicht, bei dem die unwiderlegliche Vermutung eingreift, dass er als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt, und ihm daher die Fahrerlaubnis zu entziehen ist. Die Ausführungen des Antragstellers in der Antragsschrift, mit denen er geltend macht, dass ihm zwei der Verstöße (Inbetriebnahme eines Kraftfahrzeugs trotz fehlender Profiltiefe sowie Unterlassung der Durchführung der fälligen Hauptuntersuchung bei Überschreitung des Termins um mehr als 8 Monate) nicht vorzuwerfen seien, sind in diesem Zusammenhang unerheblich. Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG ist die Fahrerlaubnisbehörde an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden, so dass weder von der Behörde noch vom Gericht zu prüfen ist, ob rechtskräftige Bußgeldbescheide zu Recht ergangen sind (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Juli 2017 – 16 B 432/17 – juris Rn. 11; OVG SH, Beschluss vom 27. Januar 2017 – 4 MB 3/17 – juris Rn. 9; BayVGH, Beschluss vom 31. Oktober 2014 – 11 CS 14.1627 – juris Rn. 14).
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Nrn. 46.3, 46.4 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Hierbei legt der Senat für die Entziehung der Fahrerlaubnis der Klasse B den Auffangwert und für die Entziehung der Fahrerlaubnisklassen C und CE jeweils den 1 ½-fachen Auffangwert zugrunde. Die Entziehung der Fahrerlaubnisklassen AM, BE, C1, C1E, L und T wirkt nicht streitwerterhöhend, da diese von den Fahrerlaubnisklassen B, C bzw. CE umfasst sind (vgl. § 6 Abs. 3 Nr. 4, 5, 6, 7 FeV). Der so ermittelte Streitwert von 20.000,00 € ist für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren (vgl. Beschluss des Senats vom 9. Juni 2021 – 3 M 118/21 – juris Rn. 12). Der Senat macht zudem von der Möglichkeit des § 63 Abs. 3 GKG Gebrauch, die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung von Amts wegen entsprechend zu ändern.
IV. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG.


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