Verwaltungsrecht

Unterschiedliche Staatsangehörigkeit schließt Familienflüchtlingsschutz nicht aus

Aktenzeichen  W 8 K 19.31597

Datum:
16.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 35288
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 26

 

Leitsatz

§ 26 AsylG schließt Ehegatten bzw. Kinder mit anderer Staatsangehörigkeit nicht vom Familienflüchtlingsschutz aus (Rn. 17 – 18). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. August 2019 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leisten.

Gründe

Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. August 2019 ist in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 26 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie beantragt, aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Wege des Familienflüchtlingsschutzes nach § 26 AsylG. Für den Kläger zu 1) resultiert der Anspruch aus § 26 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 5 Satz 1 AsylG. Der Ehefrau des Klägers ist mit Bescheid der Beklagten vom 5. November 2015 als syrische Staatsangehörige die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt worden. Die Ehe, die im Jahr 2004 in Syrien geschlossen wurde, hatte im Verfolgerstaat der Ehefrau, Syrien, Bestand. Bis zur Ausreise im Jahr 2012 haben der Kläger zu 1) und seine syrische Ehefrau gemeinsam mit ihren beiden ältesten Kindern, den Klägern zu 2) und 3), in Syrien als Familie zusammengelebt. An der Eheschließung sowie an der tatsächlich geführten Lebensgemeinschaft bestehen keine Zweifel. Gleichermaßen ist unstreitig wenig, dass sich der Kläger zu 1) zusammen mit seiner Ehefrau eine gewisse Dauer (mehrere Jahre) im Verfolgerstaat Syrien aufgehalten hat (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 11). Dass die Familie später zunächst einige Jahre in Jordanien gelebt hat, ist insofern unerheblich (vgl. auch Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslR 12. Aufl. 2018, § 26 AsylG Rn. 12; Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 119, 1.3.2019, § 26 Rn. 45).
Für die Kläger zu 2) und 3) als minderjährige Kinder einer unanfechtbar als Flüchtling anerkannten Mutter resultiert der Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz aus § 26 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 Satz 1 AsylG. Auch, wenn dies für die Kinder nicht erforderlich ist, haben die Kinder zusammen mit ihrer Mutter und dem Vater, dem Kläger zu 1), im Verfolgerstaat Syrien zusammen als Familie gelebt (vgl. Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 9; siehe auch Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 119, 1.3.2019, § 26 Rn. 70 ff.).
Für den Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz ist nach der deutschen Rechtslage unerheblich, dass die stammberechtigte Ehefrau bzw. Mutter die syrische Staatsangehörigkeit hat, während die Kläger die jordanische Staatsangehörigkeit besitzen. Dafür spricht sowohl der Wortlaut des § 26 AsylG, der dieses Erfordernis im Gegensatz zu anderen Erfordernissen gerade nicht als Voraussetzung für die Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes enthält. Bei Ehepartnern ist alleinige weitere Voraussetzung, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft auch im Verfolgerstaat bestanden haben muss. Im Gesetz findet sich aber keine Grundlage, dass darüber hinaus eine gemeinsame Staatsangehörigkeit oder ein letzter Aufenthalt in dem Verfolgerstaat vorliegen müssten. Der deutsche Gesetzgeber hat gerade darauf verzichtet, das zusätzliche weitere Erfordernis einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit im Gesetz zu normieren. Auch die gesetzliche Intention nach dem Sinn und Zweck der Regelung zum Familienflüchtlingsschutz schließt Ehegatten bzw. Kinder mit anderer Staatsangehörigkeit nicht vom Familienflüchtlingsschutz aus, da der Gesetzgeber gerade diesen nahen Angehörigen der Stammberechtigten ohne Prüfung eigener Verfolgungsgründe ein Zusammenleben mit dem tatsächlich verfolgten und anerkannten Stammberechtigten im Bundesgebiet ermöglichen wollte. Der Schutz von Ehe und Familie spricht für eine gleichlaufende Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die Intention besteht auch darin, die Integration der nahen Familienangehörigen des anerkannten Flüchtlings zu fördern. Der übergreifende Zweck der Ermöglichung eines Zusammenlebens mit dem unanfechtbar anerkannten Flüchtling wird nur diese Auslegung gerecht. Denn der anerkannte Flüchtling, hier die Ehefrau bzw. Mutter, kann nicht auf die Möglichkeit des Nachsuchens um Schutz in einem anderen Staat, etwa dem Heimatstaat des Ehegatten, verwiesen werden. Das Gleiche gilt für die Kinder (Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 13 und Rn. 30; Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Lfg. 119, 1.3.2019, § 26 Rn. 46 und Rn. 54 sowie VG Hannover, B.v. 18.11.2019 – 3 B 5314/19 – juris; VG Berlin, G.v. 7.10.2019 – 34 K 16.19 A – juris; VG Frankfurt (Oder), U.v. 26.3.2019 – 3 K 455/17.A – juris; VGH BW, U.v. 16.5.2002 – A 13 S 1068/01 – AuAS 2002, 224 jeweils m.w.N. auch zur Gegenauffassung).
Auch europarechtliche Erwägungen stehen dem Ergebnis nicht entgegen (so aber VG Cottbus, U.v. 17.1.2019 – 5 K 511/18.A – juris). Denn der Europäische Gerichtshof (U.v. 14.10.2018 – C-652/16 – ABl. EU 2018, Nr. C 436,4 – juris) hat ausdrücklich entschieden, dass Art. 3 der Richtlinie 2011/95/EU dahin auszulegen ist, dass er einem Mitgliedstaat gestattet, in Fällen, in denen einem Angehörigen einer Familie nach der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung internationaler Schutz gewährt wird, die Erstreckung dieses Schutzes auf andere Angehörige dieser Familie vorzusehen, sofern diese nicht unter einen der – hier soweit ersichtlich nicht einschlägigen – in Art. 12 der Richtlinie 2011/95/EU genannten Ausschlussgründe fallen und sofern ihre Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist (siehe EuGH, U.v. 14.10.2018 – C-652/16 – ABl. EU 2018, Nr. C 436,4 – juris Leitsatz 3 und Rn. 66 f.). Denn Staaten können nach der Richtlinie 2011/95/EU günstigere Normen vorsehen, sofern diese Vergünstigung die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährdet. Der Generalanwalt hat in seinen Schlussanträgen ausgeführt, dass eine auf der Grundlage des nationalen Rechts erfolgende automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Familienangehörige einer Person, der dieser internationale Schutz zuerkannt wurde, nicht von vornherein keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist. Denn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für nahe Verwandte weist einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes auf mit der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren (so ausdrücklich auch EuGH, U.v. 14.10.2018 – C-652/16 – ABl. EU 2018, Nr. C 436,4 – juris Rn. 72/73). Zudem ist die Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft für Familienangehörige eines anerkannten Flüchtlings nicht unvereinbar mit dem System der Genfer Flüchtlingskonvention und wird auch vom UNHCR empfohlen. Des Weiteren verfolgt diese Zuerkennung Ziele, die im Einklang mit der Richtlinie 2011/95/EU stehen, die in Art. 23 Abs. 1 ausdrücklich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten festlegt, den Familienverband des Flüchtlings aufrecht zu erhalten und den Mitgliedstaaten darüber hinaus die Entscheidung über die zu diesem Zweck zu ergreifenden Maßnahmen überlässt. Die Erweiterung des Flüchtlingsschutzes auf nahe Familienangehörige entspricht der “Logik des internationalen Schutzes” (so ausdrücklich Schlussanträge des Generalanwalts vom 28.6.2018 – C-652/16 – juris Rn. 47 ff., insbesondere Rn. 58).
Ergänzend wird angemerkt, dass eine Gewährung des Familienflüchtlingsschutzes nach § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 Satz 1 AsylG vermittelt durch die jüngste Tochter des Klägers zu 1) bzw. die Schwester der Kläger zu 2) und 3), die als jordanische Staatsangehörige die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt erhalten hat, nicht ankommt, sodass auch nicht vertieft werden muss, ob der Familienflüchtlingsschutz ausgehend von dieser Stammberechtigten deshalb zu unterbleiben hat, weil die Anerkennung der Stammberechtigten zur widerrufen oder zurückzunehmen ist (vgl. § 26 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 Nr. 4 AsylG), da mittlerweile durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Widerrufs- bzw. Rücknahmeverfahren eingeleitet worden ist (vgl. Günther in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch 23. Edition, Stand: 1.8.2019, § 26 AsylG Rn. 13; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 26 AsylG Rn. 18).
Genauso kann offenbleiben, ob und inwieweit die Kläger womöglich einen eigenen originären Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft haben, weil sie selbst syrische Staatsangehörige sind. Der Kläger zu 1) hat im behördlichen Verfahren sowie in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt, dass sein Vater die syrische Staatsangehörigkeit besessen hat. Allerdings sei die Registrierung in Syrien seinerzeit unterblieben. Materiellrechtlich ist der Kläger zu 1) jedoch gleichwohl durch Erwerb vom Vater ebenfalls syrischer Staatsangehöriger. Das Gleiche gilt durch die Weitergabe seiner syrischen Staatsangehörigkeit auf die Kläger zu 2) und 3).
Die letzten Fragen können aber dahinstehen, weil jedenfalls Familienflüchtlingsschutz über die Ehefrau bzw. Mutter als Stammberechtigte vermittelt wird.
Nach alledem ist den Klägern unter Aufhebung der betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstiger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Antragsablehnung in Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (§ 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG [“oder”] und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
Schließlich war auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheides) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für die Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG entfallen (vgl. § 75 Nr. 11 AufenthG).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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