Verwaltungsrecht

Unwirksame Ersatzzustellung, Zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Nationales Abschiebungsverbot, Verwaltungsgerichte, Postzustellungsurkunde, Abschiebungsschutz, Gemeinschaftsbriefkasten, Gemeinschaftsunterkunft, Prozeßbevollmächtigter, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Kostenentscheidung, Maßgeblicher Zeitpunkt, Abschiebungszielstaat, Erniedrigende Behandlung, Allgemeine Gefahrenlage, Flüchtlingseigenschaft, Elternhaus, Elternteil, Persönliche Anhörung der Eltern, Subsidiärer Schutzstatus

Aktenzeichen  B 7 K 20.30614

Datum:
2.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 7394
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5 und 7
VwZG i.V.m. § 3 Abs. 2
ZPO § 177 ff

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Über die Klage konnte trotz Ausbleibens der Beklagten von der mündlichen Verhandlung vom 01.02.2021 entschieden werden. Hierauf wurde in der Ladung ausdrücklich hingewiesen, § 102 Abs. 2 VwGO.
2. Die Klage wurde bereits nicht fristgerecht erhoben.
Nach § 3 Abs. 2 VwZG gelten für die Ausführung der Zustellung die §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend, wenn – wie hier – durch die Post mit Zustellungsurkunde zugestellt werden soll. Ausweislich der in der Akte befindlichen Postzustellungsurkunde (Blatt 63 und 64 der Akte) hat der Zusteller, weil weder die Einlegung in einen Briefkasten (vgl. § 180 ZPO) noch die Ersatzzustellung in der Gemeinschaftsunterkunft (vgl. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO) möglich war, die Sendung bei der Postfiliale niedergelegt und eine schriftliche Mitteilung über die Niederlegung in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abgegeben, nämlich durch Einwurf in den Gemeinschaftsbriefkasten am Donnerstag, den 14.05.2020 (vgl. § 181 Abs. 1 Satz 3 ZPO). Insoweit hat die Anfrage des Bundesamts bei der Regierung von Oberfranken – Zentrale Ausländerbehörde – bei der Unterkunft der Eltern des Klägers ergeben, dass es für den Postzusteller grundsätzlich möglich ist, den Asylbewerber in seinem Zimmer direkt aufzusuchen. Seitens der Unterkunft konnte zwar ein Zustellversuch vor Inanspruchnahme der Ersatzzustellung im konkreten Fall nicht nachgewiesen werden, jedoch hat der Postzusteller mit seiner Unterschrift auf dem Zustelldokument, auf dem das Feld 9 „[dem Adressaten oder einem Vertretungsbefugten] zu übergeben versucht“ angekreuzt ist, versichert einen Zustellversuch unternommen zu haben. Eine Zustellung an die Eltern des Klägers in deren Unterkunft war also möglich und ist nach Angaben des Postbediensteten auch unternommen worden. Damit war der Weg für die Ersatzzustellung offen. Gemäß § 181 Abs. 1 Satz 4 ZPO gilt der Bescheid des Bundesamts vom 15.04.2020 mit der Abgabe der schriftlichen Mitteilung am 14.05.2020 als zugestellt.
Die Klagefrist begann somit am Freitag, den 15.05.2020 zu laufen (vgl. § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1 BGB) und endete am Donnerstag, den 28.05.2020 um 24.00 Uhr (vgl. § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 188 Abs. 2 BGB, § 74 Abs. 1 AsylG).
Die erst am 05.06.2020 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth eingegangene Klage ist mithin bereits verfristet.
3. Darüber hinaus ist die Klage unbegründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf die geltend gemachten Rechtspositionen. Der angegriffene Bescheid des Bundesamts vom 15.04.2020 ist insofern rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO). Zur Begründung nimmt das Gericht zunächst Bezug auf die Bescheidsgründe und macht diese zum Bestandteil dieser Entscheidung (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Ergänzend ist das Folgende auszuführen:
a) Soweit der Klägerbevollmächtigte erstmals mit Schriftsatz vom 22.01.2021 vorträgt, bei einer Rückkehr nach Äthiopien sei das Kindswohl des Klägers gefährdet, da in Äthiopien Kinder körperliche Bestrafungen im familiären und schulischen Umfeld erleiden müssten, was die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach sich ziehe, da eine körperliche Bestrafung von Kindern für diese einen ernsthaften Schaden darstelle, verfängt dieser Vortrag nicht. Zwar stellt das Gericht nicht in Abrede, dass körperliche Bestrafungen – sowohl im familiären Umfeld, als auch in der Schule – teilweise noch an der Tagesordnung sind. Und selbstverständlich ist jede Gewalt gegen Kinder zu verurteilen. Eine Schutzgewährung, insbesondere nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, setzt jedoch die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung des Klägers voraus, die gegenwärtig sein muss. Die bloße Möglichkeit des Gefahreneintritts reicht nicht aus. Vielmehr bedarf es eines beachtlichen ernsthaften Risikos einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.
Daran gemessen ist schon nicht einmal im Ansatz nachvollziehbar dargelegt, dass dem Kläger im Elternhaus bzw. vom Elternhaus ausgehend eine körperliche Bestrafung droht. Die Eltern des Klägers erklärten im Rahmen der mündlichen Verhandlung nämlich übereinstimmend, dass sie ihren Sohn nicht schlagen würden.
Die Befürchtungen der Eltern gingen lediglich dahin, dass ihr Sohn auf der Straße würde arbeiten müssen, wenn die Eltern ihn nicht versorgen könnten, wo ihm Gewalt drohen würde. Diese Befürchtung ist aber fernliegend und jedenfalls nicht geeignet, eine konkrete, unmittelbar drohende Gefahr darzulegen. Denn es ist bereits nicht zu erwarten, dass die Eltern des Klägers nicht im Stande sein sollten, seinen Unterhalt zu erwirtschaften (siehe dazu das unten zu § 60 Abs. 5 AufenthG Ausgeführte). Diese Befürchtung wurde auch klägerseits durch nichts plausibilisiert. Noch fernliegender erscheint es, dass der jetzt zweijährige Kläger auf der Straße arbeiten sollte, „um etwas zu verkaufen“. Das ist schon angesichts seines Alters in naher Zukunft – und das ist für die Entscheidung zum Zeitpunkt gem. § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblich – nicht realistisch.
Es besteht zudem keine beachtliche gegenwärtige Gefahr, dass der Kläger im Kindergarten oder in der Schule körperlich bestraft wird. Hinsichtlich der Gewalt im Kindergarten blieb es bei einer bloßen, abstrakten Behauptung, die in keiner Weise substantiiert wurde. Hinsichtlich der Gewalt in der Schule steht zum einen für den Kläger ein Schulbesuch aufgrund seines Alters ohnehin gegenwärtig noch nicht an. Zum anderen konnte nicht überzeugend dargelegt werden, dass gerade dem Kläger in der Schule in mehreren Jahren eine körperliche Bestrafung mit der notwendigen Intensität droht. Die Eltern des Klägers berichteten zwar von Strafmaßnahmen aus ihrer Schulzeit, zum Beispiel bei Zuspätkommen. Ob dies heute noch so üblich ist und ob dies in allen Schulen so ist, lässt sich hieraus aber nicht ableiten. Ebenfalls nicht hilfreich ist das Vorbringen, ältere Schüler würden jüngere schlagen. Solche Vorfälle sind auch an deutschen Schulen nicht ausgeschlossen und überdies nur im Bereich des hypothetisch Möglichen, aber in keiner Weise konkret voraussehbar.
Auch aus dem im Klageverfahren vorgelegten Artikel „Corporal Punishment of Children in Ethiopia“ lässt sich nicht einmal im Ansatz entnehmen, dass allen Kindern unterschiedslos in der Schule eine körperliche Bestrafung droht. Insoweit hängt eine Bestrafung von jeweiligen Fehlverhalten im Einzelfall ab. Im Fall des hiesigen Klägers, der die Schule noch gar nicht besucht und auch in den nächsten Jahren keine Schule in Äthiopien besuchen wird, vermag das Gericht daher gegenwärtig keine individuell drohende Gefahr einer körperlichen Bestrafung durch Lehrer oder anderen Personen in der Schule zu erkennen.
Ebensowenig verfängt der Vortrag, Schüler müssten das Schulgebäude sauber halten und würden in diesem Rahmen zu körperlicher Arbeit angehalten. Dass Schüler bei der Pflege der Schulgebäude helfen, ist z.B. in Japan gängiger Usus und per se – unabhängig davon, dass wiederum nicht klar ist, ob das an allen Schulen in Äthiopien so gehandhabt wird – ersichtlich keine Misshandlung im asylrechtlichen Sinne. Es käme auf die Ausprägung im Einzelfall an, die aber nicht ansatzweise vorhersehbar ist.
Auch das Vorbringen der Eltern des Klägers, dass sie den Kläger seinen Großeltern anvertrauen müssten, wenn sie nicht für ihn sorgen könnten, und dass diese den Kläger dann unter Druck setzen und zur Arbeit zwingen würden, führt nicht zum Erfolg. Denn wie bereits ausgeführt ist nichts dafür ersichtlich, dass die Eltern den Kläger nicht versorgen könnten. Zum anderen gaben beide Elternteile an, dass sie zur Familie, abgesehen von den Onkeln des Vaters des Klägers, keinerlei Kontakt hätten – also auch nicht zu den Großeltern. Damit ist die zuvor geäußerte Befürchtung, dem Kläger könnte von seinen Großeltern Gewalt angetan werden, nahezu substanzlos.
Im Übrigen und ohne dass es noch entscheidungserheblich darauf ankommt, erscheint es dem Gericht schon fraglich, ob jedwede körperliche Bestrafung im Elternhaus bzw. in der Schule bereits eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG darstellt. In diesem Zusammenhang muss nämlich auch berücksichtigt werden, dass nach dem äthiopischen Strafgesetzbuch eine körperliche Bestrafung in Form einer Disziplinarmaßnahme durch Eltern oder anderen Personen mit ähnlichen Verantwortlichkeiten zum Zwecke der ordnungsgemäßen Erziehung nicht verboten ist (vgl. insoweit die Ausführungen im Artikel „Corporal Punishment of Children in Ethiopia“) und in anderen Ländern – beispielsweise auch in der Schweiz – körperliche Züchtigungen im Rahmen der Familie nicht als physische Gewalt betrachtet wird, wenn sie ein gewisses von der Gesellschaft akzeptiertes Maß nicht überschreitet und die Bestrafung nicht allzu häufig wiederholt wird (vgl. hierzu auch „Körperstrafen – Die Schweiz sträubt sich gegen ein Verbot“, Abrufbar unter humanrights.ch). Auch nach Auffassung des Gerichts kann nicht jedwede körperliche Bestrafung (kleinere Ohrfeige, Klaps auf den Hintern, etc.) für ein Fehlverhalten des Kindes als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG behandelt werden. Das Erreichen der Gefahrenschwelle ist vielmehr vom konkreten Einzelfall abhängig. Im vorliegenden Fall des Klägers ist aber nicht einmal ersichtlich, welche Schule er wann besuchen wird und ob er im Rahmen des Schulbesuchs überhaupt Fehlverhalten zu Tage legt. Ferner bleibt völlig offen, ob und wie ein unter Umständen erfolgtes Fehlverhalten des Klägers überhaupt durch die Lehrer bestraft werden würde. Weiterhin wurde nicht einmal ansatzweise dargelegt, warum es dem Kläger mit seinen Eltern – falls es tatsächlich zu einer körperlichen Bestrafung mit Überschreiten der Gefahrenschwelle kommen sollte – nicht möglich sein sollte, eine innerstaatliche Fluchtalternative nach § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3e AsylG zu ergreifen.
b) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG.
Die Lebensbedingungen im Heimatland insbesondere infolge der „Corona-Pandemie“ und der „Heuschreckenplage“ führen nicht zur Verpflichtung der Beklagten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Fehlt eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, kann ein Ausländer im Hinblick auf die (allgemeinen) Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, ausnahmsweise Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach diesem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad muss eine Abschiebung dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – juris; BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris; VG Würzburg, Gb. v. 11.5.2020 – 8 K 20.50114 – juris).
Die allgemein unsichere oder wirtschaftlich schlechte Lage im Zielstaat infolge von Hungersnöten, Naturkatastrophen oder Epidemien – und damit auch infolge der Verbreitung des Coronavirus bzw. der Ausbreitung der Heuschrecken in Äthiopien – begründet derartige Gefahren allgemeiner Art nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, weil ihr die gesamte Bevölkerung oder eine ganze Bevölkerungsgruppe des betroffenen Landes (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) ausgesetzt ist (vgl. Kluth/Heusch in: BeckOK AuslR, § 60 AufenthG, Rn. 38 ff.).
Es ist für das Gericht auch nicht ersichtlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien einer Extremgefahr im vorstehenden Sinne, die die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung durchbrechen könnte, ausgesetzt wäre. Weder aus den Darlegungen der Klägerseite, noch aufgrund anderweitiger Erkenntnisse kann geschlossen werden, dass der Kläger ohne glaubhaft gemachte Vorerkrankungen allein aufgrund der Verbreitung des Coronavirus (auch) in Äthiopien bei einer Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wäre. Vielmehr ist mangels anderslautender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass der Kläger ein gesundes Kleinkind ist, das nicht zu den besonders gefährdeten Personengruppen gehört. Lediglich ergänzend sei angefügt, dass das Ansteckungsrisiko angesichts der derzeitigen Infektionszahlen in Deutschland als erheblich höher zu gewichten sein dürfte als in Äthiopien.
Daneben gibt es keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Versorgungslage in Äthiopien – auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen und Verschärfungen durch die Corona-Pandemie und die Heuschreckenplage – gegenwärtig derart desolat wäre, dass dem Kläger dort der Hungertod oder schwerste Gesundheitsschäden in Folge von Mangelernährung drohten (vgl. hierzu https://www.dw.com/de/heuschrecken-die-panafrikanische-plage/a-55373259/).
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass das Aufeinandertreffen von Heuschreckenschwärmen und der COVID-19-Pandemie zu einer dynamischen Lageentwicklung in Äthiopien beiträgt, die aufmerksam beobachtet werden muss. Die potentiell möglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen wurden teilweise durchaus kritisch eingeschätzt (vgl. z.B. Manek/Meckelburg, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 24.04.2020; https://qz.com/africa/ 1857046/locust-swarms-still-coming-to-east-africa-yemen-but-gains-made/). Jedoch haben sich diese Prognosen bislang nicht bewahrheitet. Es ergibt sich aus aktuellen Quellen nicht, dass sich zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die wirtschaftliche Lage tatsächlich gravierend verschlechtert hätte. Aus der Quellenlage lässt sich lediglich ersehen, dass eine Verschlechterung in Folge der Heuschrecken und der COVID-19-Pandemie potentiell eintreten könnte – freilich ohne dass sich daraus bereits eine rechtliche Einordnung der befürchteten künftigen Lage vornehmen ließe. Der äthiopische Staat ist zudem weder hinsichtlich der Heuschrecken noch der COVID-19-Pandemie untätig (vgl. https://www.africanews.com (Rubrik: ethiopia-coronavirus-covid19-hub-updates/); https://reliefweb.int/report/ethiopia/ ethiopia-covid-19-humanitarian-impact-situation-update-no-12-2-september-2020) – wie sich beide Faktoren im weiteren Verlauf der Pandemie entwickeln werden, ob und wie die von der äthiopischen Regierung getroffenen Maßnahmen fruchten und was internationale Hilfsprogramme bewirken werden, lässt sich nicht absehen und ist angesichts des allein maßgeblichen Zeitpunkts der gerichtlichen Entscheidung auch letztlich nicht ausschlaggebend. Auch aus den weiteren eingeführten Quellen ergibt sich eine solche Zuspitzung der Situation in Äthiopien im aktuellen Zeitpunkt nicht. Dabei ist nicht zuletzt zu würdigen, dass bereits über 117 Mio. Dollar an Hilfsgeldern allein von deutscher Seite geleistet wurden. Die äthiopische Wirtschaft ist anscheinend nach wie vor widerstandsfähig und intakt (https://allafrica.com/stories/202010271018.html).
c) Dem Kläger steht nach den Umständen des Einzelfalls auch kein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG zu. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Insbesondere darf gemäß Art. 3 EMRK niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
aa) Bezüglich der „Corona-Pandemie“ und der „Heuschreckenplage“ in Äthiopien, spricht nach Auffassung des Gerichts bereits vieles dafür, dass § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG bezüglich allgemeiner Gefahren aufgrund der unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat als lex specialis anzusehen ist und daher insoweit auch im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG Sperrwirkung entfaltet. Bei den nationalen Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG handelt es sich nämlich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand. (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris). Eine zusätzliche Würdigung allgemeiner Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit im Zielstaat der Abschiebung im Rahmen und am Maßstab des § 60 Abs. 5 AufenthG würde die gesetzgeberischen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot bei allgemeinen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit konterkarieren (so auch BayVGH, B.v. 12.03.2020 – 23 ZB 20.30943 – im Hinblick auf das Verhältnis von § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG zu § 60 Abs. 5 AufenthG bei der Geltendmachung gesundheitlicher Gründe).
bb) Selbst wenn man der Auffassung folgt, dass der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG auch bei einer allgemeinen Gefahrenlage, insbesondere bei einer schlechten allgemeinen Situation mit unzumutbaren Lebensbedingungen eröffnet sein soll, da schon von der Gesetzessystematik her der Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG nicht herangezogen werden kann (so BayVGH, U.v.21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris), ist bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes aus humanitären Gründen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG ein „sehr hohes Niveau“ anzulegen und eine „besondere Ausnahmesituation“ erforderlich. Nur in „ganz außergewöhnlichen Fällen“, nämlich wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind, sind liegen bei den Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG vor (BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris m.w.N.; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris).
Gemessen an diesem Maßstab ist bei dem Kläger auch ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Hinblick auf die schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien zu verneinen. Die obigen Ausführungen zu § 60 Abs. 7 AufenthG gelten insoweit entsprechend, selbst wenn man im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG nicht den Maßstab der „Extremgefahr“ anlegt. Im Falle des hiesigen Klägers handelt es sich jedenfalls auch nicht um einen „ganz außergewöhnlichen“ Fall, in dem humanitäre Gründe der Abschiebung „zwingend“ entgegenstehen. Es ist nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass dem Kläger und seiner Familie in Äthiopien eine Unterschreitung des Existenzminimums drohen würde.
Hierzu wird auf die Ausführungen im Urteil B 7 K 17.31824 und B 7 K 17.32611 hinsichtlich der Familie des Klägers verwiesen. Der Prognosemaßstab ist insoweit einheitlich, weil von einer Rückkehr der gesamten Kernfamilie, bestehend aus dem Kläger, seinen Eltern und seiner Schwester, auszugehen ist. Seit Ergehen dieser Urteile hat sich die Lage in Äthiopien nicht in entscheidungserheblichem Maße geändert; vielmehr ist nach wie vor davon auszugehen, dass die Eltern eine Erwerbstätigkeit und die Kinderbetreuung gemeinsam werden bewältigen können, wobei ggf. auf die Hilfe der Familie zurückgegriffen werden kann.
Das gilt auch in Anbetracht der erneuten Schwangerschaft der Mutter des Klägers. Jedenfalls der Vater ist voll erwerbsfähig und könnte ohne Weiteres in seinen früheren Beruf als Kraftfahrer zurückkehren. Überdies bestehen in Äthiopien auch Möglichkeiten der Kinderfremdbetreuung, namentlich Kindergärten, die die älteren Kinder besuchen könnten. Die von den Eltern des Klägers vorgetragene gesundheitliche Einschränkung der Mutter seit der letzten Schwangerschaft ändert hieran in entscheidungserheblicher Weise nichts. Zum einen fehlt es an jedwedem ärztlichen Nachweis hierfür, zum anderen hat die Mutter auch in der mündlichen Verhandlung nicht den Eindruck erweckt, zur Betreuung der Kinder außerstande zu sein. Trotz gegenteiliger Angaben konnte sie während der Verhandlung ohne fremde Hilfe vom Stuhl aufstehen, mit den beiden Kindern den Saal verlassen und sie eine Zeitlang draußen allein betreuen.
cc) Entgegen dem klägerischen Vortrag, wonach der Tatbestand des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sein solle, weil dem Kläger Körperstrafen in Äthiopien drohen würden, sind die Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK insoweit nicht gegeben. Es besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Äthiopien im Elternhaus oder zu einem späteren Zeitpunkt in der Schule Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung im Sinne des § 3 EMRK unterworfen sein wird. Insoweit wird vollumfänglich auf die obigen Ausführungen verwiesen.
Die hohen Anforderungen an ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind daher trotz der aktuellen Lage in Äthiopien im Falle des Klägers nicht erfüllt.
3. Nach alledem ist die Klage insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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