Verwaltungsrecht

Unzulässige Ablehnung eines Beweisantrags wegen eines krankheitsbedingten individuellen Abschiebungsverbots

Aktenzeichen  13a ZB 17.31153

Datum:
16.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
InfAuslR – 2018, 38
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1

 

Leitsatz

Das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ist ein prozessuales Grundrecht und außerdem ein rechtsstaatliches konstitutives Verfahrensprinzip, das mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG in funktionalem Zusammenhang steht. Es sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbes. dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG BeckRS 2003, 22030). (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 8 K 16.31337 2017-07-21 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Berufung wird hinsichtlich des Begehrens nach Feststellung eines national begründeten Abschiebungsverbots zugelassen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Kostenentscheidung hinsichtlich des zugelassenen Teils bleibt der Entscheidung im Berufungsverfahren vorbehalten. Im Übrigen hat der Kläger die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 21. Juli 2017 ist nach Maßgabe der Nr. I der Beschlussformel teilweise zuzulassen. Da Zulassungsgründe nur hinsichtlich eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, war der Antrag im Übrigen abzulehnen.
Hinsichtlich des krankheitsbedingten individuellen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist der Antrag auf Zulassung der Berufung begründet (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO). Dem Kläger war das rechtliche Gehör durch die nicht von der Prozessordnung gedeckte Ablehnung eines Beweisantrags versagt (Art. 103 Abs. 1 GG). Das Verwaltungsgericht hat den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 21. Juli 2017 gestellten Beweisantrag auf Einholung eines psychiatrisch-psychologischen Sachverständigengutachtens aus mehreren Gründen abgelehnt. Die nach der Rechtsprechung erforderlichen Mindestanforderungen an ein ärztliches Attest würden durch die vorgelegten Atteste/Unterlagen nicht erfüllt. Im Übrigen würden keine Tatsachen unter Beweis gestellt, sondern teils prognostische, teils auch rechtliche Schlussfolgerungen, die dem Beweis nicht zugänglich seien, sondern der rechtlichen Beurteilung unterlägen. In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils werden die Ablehnungsgründe weiter erläutert. Die fachärztlichen Stellungnahmen würden einer Abklärung entbehren, ob die geschilderten Erlebnisse auf wirklich Erlebten beruhten. Sie entsprächen zudem nicht den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Anforderungen zum Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Diese seien auch auf andere psychische Krankheiten zu übertragen.
Das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ist ein prozessuales Grundrecht und außerdem ein rechtsstaatliches konstitutives Verfahrensprinzip, das mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in funktionalem Zusammenhang steht. Es sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409). Die Ablehnung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfG, B.v. 30.1.1985 – 1 BvR 393/84 – BVerfGE 69, 141/144 = NJW 1986, 833; BVerfG, B.v. 18.6.1993 – 2 BvR 1815/92 – NVwZ 1994, 60 = BayVBl 1993, 562; BayVerfGH, E.v. 26.4.2005 – Vf. 97-VI-04 – VerfGH 58, 108 = BayVBl 2005, 721).
Das Verwaltungsgericht hat den Beweisantrag zum krankheitsbedingten individuellen Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) primär unter dem Gesichtspunkt der Anforderungen an einen substantiierten Vortrag für das Krankheitsbild PTBS gewürdigt. Die ärztlichen Stellungnahmen attestieren u.a. aber auch eine „schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome“ und eine „rezidivierende depressive Störung“. Bereits indem das Verwaltungsgericht die hohen Anforderungen an die Diagnose bei PTBS auf diese Krankheitsbilder übertragen und die gleichen Mindestanforderungen gestellt hat (UA S. 10), hat es das allgemeine Substanziierungserfordernis bezüglich Krankheiten (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 17.07 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 31 Rn. 17) überspannt. Zudem hat es die Diagnosen der Fachärzte in Zweifel gezogen, weil darin die klägerischen Angaben als wahr unterstellt worden seien. Damit hat es in Ermangelung der hierfür erforderlichen eigenen Sachkunde unzulässigerweise eine eigene medizinische Bewertung von Schwere und Ausmaß der Erkrankung vorgenommen (BVerwG, B.v. 28.3.2006 – 1 B 91.05 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 12 = NVwZ 2007, 346). Abgesehen davon lassen sich aus den vorgelegten Attesten in einer Gesamtschau ausreichend Anhaltspunkte für das Vorliegen einer psychischen Erkrankung herleiten, um eine weitere Abklärung für notwendig zu halten.
Im Übrigen – und damit hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG und des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG – war der Antrag auf Zulassung der Berufung abzulehnen. Insbesondere ist die Ablehnung der weiteren Beweisanträge nicht zu beanstanden. Soweit beantragt wurde (Beweisantrag A), ein Gutachten einzuholen zum Beweis, dass mit wissenschaftlichen Methoden für Afghanistan von einer tatsächlichen Zivilopferzahl auszugehen wäre, die im Bereich des Zehnfachen der von UNAMA dokumentierten Fälle liege, hat das Verwaltungsgericht auf die zum Gegenstand des Verfahren gemachten Erkenntnismittel verwiesen. Der Gefahrendichte kommt zwar eine für die wertende Gesamtbetrachtung einer Gefährdung im Sinn von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht unwesentliche Bedeutung zu. Abzustellen ist aber letztlich auf die Sicherheitslage. Diese wird in den aus unterschiedlichen (Regierungs- und Nichtregierungs-)Quellen stammenden Stellungnahmen und Berichten nicht einheitlich bewertet. Dass ein weiteres Gutachten hierzu abschließende Erkenntnisse bringen würde, ist nicht ersichtlich. Im Übrigen würde selbst bei einer (wie vom Kläger für möglich erachteten) Verzehnfachung der Opferzahlen nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im Jahr 2017 prognostisch das Risiko für Zivilpersonen, in der Provinz Daykundi durch militante Gewalt Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, lediglich 0,01 % pro Person und Jahr betragen (42 Opfer auf 470.000 Einwohner). Ein Risiko in dieser Größenordnung läge weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und einer hohen Gefahrendichte entfernt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454).
In der Ablehnung der Beweisanträge, Sachverständigen-Gutachten einzuholen zu den Fragen (Beweisantrag C), ob der Kläger bei einer Rückkehr ohne unterstützendes Netzwerk in der Lage wäre, sein Existenzminimum zu sichern und/oder in den Genuss einer ärztlichen oder therapeutischen Behandlung zu gelangen, liegt keine Vorwegnahme der Hauptsache. Vielmehr ist das Gericht davon ausgegangen, der Kläger verfüge über ausreichend familiären Rückhalt. Auf das Beweisthema kommt es damit nicht an. Die Ablehnung des Beweisantrags (D) auf Einholung eines ärztlichen Gutachtens zum Beweis, dass die Knieverletzung des Klägers durch eine Schussverletzung verursacht wurde, als unerheblich entspricht ebenfalls dem Prozessrecht. Aus dem Vorliegen einer Schussverletzung ließen sich keine Anhaltspunkte herleiten, warum und von wem diese erfolgte.
Soweit der Kläger die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör deswegen rügt, weil ein bestimmtes Vorbringen vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt worden wäre, ist bereits unklar, um welchen Vortrag es sich handeln soll. Weder ist eine Klagebegründung vom 26. Juni 2017 ersichtlich (die entsprechenden Schriftsätze datieren auf den 16.5.2017 und 3.7.2017) noch findet sich ein Vortrag, wonach der Kläger von einer Familienfehde betroffen sein soll. Zudem enthält das angegriffene Urteil auf S. 10 nicht die beanstandeten Passagen.
Ebenso wenig stellt die Ablehnung der Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung mit Beschluss vom 21. Juli 2017 eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Beantragt war eine Terminsverlegung, weil eine angemessene Schriftsatzfrist nach Bekanntgabe der neuen Lagebeurteilung durch das Auswärtige Amt nicht mehr gewährt werden könne. Nachdem diese aber auch am Verhandlungstag noch nicht veröffentlicht war (sie wurde dann mit Datum vom 28.7.2017 bekannt gegeben), war bereits deswegen eine Schriftsatzfrist oder eine sonst etwaig erforderliche Vorbereitung für die mündliche Verhandlung nicht notwendig. Nicht ersichtlich ist, welche vom Kläger zur Einsicht beantragten Behördenakten durch die Beklagte nicht vorgelegt worden sein sollen, so dass bereits deswegen kein Verstoß gegen § 100 Abs. 1 VwGO anzunehmen sein könnte.
Auch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG liegt nicht. Insoweit bedürfte es der Darlegung einer konkreten Rechts- oder Tatsachenfrage, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten wäre und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukäme (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Der Kläger führt diesbezüglich aus: „Grundsätzliche Bedeutung hat folgender vom angegriffenen Urteil im letzten Absatz auf Seite 7 implizit aufgestellte Rechtssatz: Die Anzahl der von UNAMA nicht belastbar ermittelten Opfer ist bei der quantitativen Erfassung der allgemeinen Gefährdungslage mit Null anzusetzen“. Welche Frage hier gestellt werden sollte, erschließt sich bereits deswegen nicht, da das Verwaltungsgericht diesen Rechtssatz so nicht aufgestellt hat.
Die Kostenentscheidung beruht, soweit der Antrag abgelehnt wurde, auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Insoweit ist der Beschluss unanfechtbar und das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig geworden (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG). Soweit dem Antrag stattgegeben wurde, wird das Verfahren als Berufungsverfahren fortgesetzt (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG); der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht. 


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