Verwaltungsrecht

Unzulässigkeit einer Rücküberstellung eines anerkannten Flüchtlings mit vier minderjährigen Kindern nach Griechenland

Aktenzeichen  W 2 K 18.30717

Datum:
19.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 18118
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Die Rücküberstellung eines Vaters von vier minderjährigen Kindern, darunter ein eineinhalb jähriges Kleinkind, nach Griechenland führt ohne besondere Zusicherung von Seiten der zuständigen griechischen Behörden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Gefahr der Obdachlosigkeit und einer existenzielle Notlage, die nicht aus eigener Kraft abgewendet werden könnte. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 3. April 2018, Az.: 7264555-997, wird die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Griechenland besteht.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 10. Januar 2019 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Juni 2017 vor.
Zu dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist die Klage zulässig und begründet. Dem Kläger steht in Bezug auf Griechenland ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m Art. 3 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) zu. Der streitgegenständliche Bescheid ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Vorliegend droht dem Kläger als Mitglied einer Familie mit vier minderjährigen Kindern, darunter ein Kleinkind, im Falle einer Abschiebung nach Griechenland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK. Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Hieraus folgen neben Unterlassungsauch staatliche Schutzpflichten. Eine Verletzung von Schutzpflichten kommt in Betracht, wenn sich die staatlich verantworteten Lebensverhältnisse von international Schutzberechtigten in Griechenland allgemein als unmenschlich oder erniedrigend darstellen.
Ob einem in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Flüchtling eine unmenschlich oder entwürdigende Behandlung droht, erfordert grundsätzlich, wie die Feststellung systemischer Mängel im Asylsystem, eine aktuelle Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.2016 Az. 2 BvR 273/16 – juris).
Nach der dem Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnisse und auch unter Berücksichtigung der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 -, juris) geht die erkennende Einzelrichterin aufgrund einer Gesamtbewertung der besonderen Umstände des Einzelfalls davon aus, dass der Kläger im Hinblick auf seine Kernfamilie zu der Gruppe der besonders schutzbedürftigen Personen gehört, denen ohne eine konkret-individuelle Zusicherung von Seiten Griechenlands eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzbedürftige in Griechenland grundsätzlich so ausgestaltet sind, dass sie im Fall einer Überstellung bei allen Schutzberechtigten zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. Art. 4 EuGrCh bzw. Art. 3 EMRK führen.
Mit dem oben genannten Urteil vom 19. März 2019 hat der EuGH die Maßstäbe – aufgrund des allgemeinen und absoluten Charakters von Art. 4 EuGRCh für Asylbewerber und Anerkannte in gleicher Weise wie für Rückführungen im Dublinraum präzisiert und partiell verschärft. Hiernach darf ein Asylbewerber aufgrund des fundamental bedeutsamen EU-Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich immer in den Mitgliedstaat rücküberstellt werden, der nach der Dublin III-VO eigentlich für die Bearbeitung seines Antrags zuständig ist oder ihm bereits Schutz gewährt hat, es sei denn, er würde dort ausnahmsweise aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände dem „real risk“ einer Lage extremer materieller Not ausgesetzt, die gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 EuGRCh bzw. Art. 3 EMRK verstößt, d.h. die physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Die Annahme eines solchen Verstoßes gegen Art. 4 EuGRCh bzw. Art. 3 EMRK, d.h. ein diesbezüglicher Stopp der Rücküberstellung ist danach nur zulässig, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles asylrelevante Schwachstellen oder andere Umstände eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Zunächst ist hiernach auf den (Arbeits-)Willen (und reale Arbeitsmöglichkeiten) sowie die persönlichen Entscheidungen des Betroffenen abzustellen. Ein Art. 4 EuGRCh/Art. 3 EMRK-Verstoß kann erst angenommen werden, wenn unabhängig hiervon eine Situation extremer materieller Not einträte, die es nicht erlaubte, die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren und zu waschen (kurz: „Bett, Brot, Seife“). Grundsätzlich irrelevant sei bei gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen sogar, wenn überhaupt keine existenzsichernden staatlichen Leistungen bestünden, soweit dies für Inländer ebenso gelte.
Der EuGH weist aber auch in Übereinstimmung mit der Tarakhel-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12 -juris) darauf hin, dass unterschieden werden muss zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen einerseits, für die diese „harte Linie“ gilt, sowie andererseits Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit, also Vulnerablen, die unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten können. Für Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Kranke bzw. sonstige vulnerable Personen ist im Dublinraum mithin von einem anderen, höheren Schutzstandard auszugehen. (vgl. VGH BW, B.v. 27.5 2019 – A 4 S 1329/19 – juris).
Dabei ist bei der Gefahrenprognose für den Kläger als Vater einer in der Bundesrepublik im Verbund gelebten Kernfamilie von einer gemeinsamen Rückkehr aller Mitglieder der Kernfamilie auszugehen, Art. 6 GG. Dies gilt auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits Abschiebungsschutz zuerkannt worden ist, (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris).
Ausgehend von diesen Vorgaben geht die erkennende Einzelrichterin davon aus, dass der Vater von vier minderjährigen Kindern, darunter ein eineinhalb jähriges Kleinkind, im Falle einer Rücküberstellung nach Griechenland ohne einer besonderen Zusicherung von Seiten der zuständigen griechischen Behörden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Gefahr der Obdachlosigkeit und einer existenzielle Notlage ausgesetzt würde, die er nicht aus eigener Kraft abwenden könnte, weshalb eine Überstellung – wie im vorliegenden Fall – eine menschenrechtswidrige Behandlung darstellt (so auch VG Regensburg, U.v.3.1.2019 – RN 11 K 18.31292 – juris m.w.N; VG München, B.v. 12.1.2018 – M 28 S 17.35846 – juris.; VG Gelsenkirchen, B.v. 21.5.2019 – 5aL 790/19A – juris; VG Düsseldorf, B.v. 8.4.2019 – Az. 22 L 3736/19.A – juris). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Während in Griechenland Schutzberechtigten der Bezug von Sozialleistungen bis Mitte 2018 faktisch kaum möglich war (vgl. Stellungnahme der Stiftung Pro Asyl zu den Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland vom 23. Juni 2017, S. 13 und 27; VG Würzburg, B.v. 12.3.2018 – W 2 S. 18-30408 – juris), sind mittlerweile Zugangshürden entfallen. Rückkehrer sehen sich jedoch im Vergleich zu Personen, die Griechenland nicht verlassen haben, besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Diese liegen in den Leistungsvoraussetzungen des griechischen Sozialstaats, wonach ein dauerhafter und legaler Aufenthalt im Inland Leistungsvoraussetzung ist. Dabei wird der dauerhafte Aufenthalt grundsätzlich mit einer inländischen Steuererklärung des Vorjahrs dokumentiert (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Schwerin vom 26.9.2018, S. 3). In Griechenland ist der grundsätzlich gewährte Zugang zu Sozialleistungen, zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt durch das eigenverantwortliche Handeln des Einzelnen geprägt. Der jeweilige Schutzberechtigte muss daher grundsätzlich befähigt sein, sich den schwierigen Bedingungen zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative selbst für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Bei vulnerablen Personen kann sich daher die Verweigerung staatlicher Hilfeleistungen zu einer existenzbedrohenden Gefahr verdichten. Gerade unter diesem Gesichtspunkt hängt das Ausmaß, in dem der Einzelne von den zweifelsohne harten Lebensbedingungen für anerkannte Schutzberechtigte in Griechenland getroffen wird, von den individuellen Verhältnissen des jeweiligen Einzelnen statt; die Entscheidung über das Vorliegen eines Abschiebungsverbots hat daher immer mit Blick auf diese zu erfolgen (vgl. VG Saarland, B.v. 27.12.2016 Az. 3 L 2691/16 – juris). Insoweit ist auch der Umstand zu berücksichtigen, dass anerkannte Schutzberechtigte, anders als die griechische Bevölkerung, nicht über ein familiäres Netzwerk verfügen, welches in Griechenland bei der sozialen Absicherung eine besondere Rolle spielt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Trier vom 22.12.2016, S. 2). Bei der aktuellen Lage in Griechenland kann aus Sicht des Gerichts nur mit konkret-individuellen Zusicherungen den Vorgaben des EGMR zu vulnerablen Personengruppen entsprochen werden.
Der Kläger als Vater einer sechsköpfigen Familie gehört zu den besonders schutzbedürftigen Personen im obigen Sinne. Hierzu zählen insbesondere auch Familien mit Klein- und Kleinstkindern. Dabei wird dem Umstand Rechnung getragen, dass diese Kinder besondere Bedürfnisse haben, extrem verwundbar sind und besondere Herausforderungen und Schwierigkeiten bei der Befriedigung der existenziellen Grundbedürfnisse bestehen. Sie müssen besonders betreut und versorgt werden. Die Suche nach einer geeigneten menschenwürdigen Unterkunft für eine sechsköpfige Familie wird ohne staatlicher Hilfe und ohne Einkommen überaus schwierig bis aussichtslos sein. Eine Überstellung nach Griechenland verstößt daher nur dann nicht gegen Art. 3 EMRK, wenn die griechischen Behörden für den Kläger eine individuelle Garantieerklärung abgeben, wonach der Kläger und seine Familie eine Unterkunft erhalten und ihre elementaren Bedürfnisse abgedeckt sind. Die vom EGMR in der „Tarakhel“-Entscheidung dargelegten Grundsätze sind auch auf Personen anzuwenden, die mit einem Schutzstatus in den diesen gewährenden Drittstaat rücküberstellt werden sollen (vgl. VG Regensburg, U.v. 3.1.2019 – RN 11 K 18.31292- juris; VG Göttingen, B.v. 26.4.2017 Az. 3 B 267/17 – juris).
Das Bundesamt wäre deshalb verpflichtet gewesen, konkrete Zusagen zur Unterbringung des Klägers und seiner Familie einzuholen oder zumindest auf andere Weise sicher zu stellen, dass der speziellen Situation des Klägers und seiner Familie Rechnung getragen wird. Eine solche individuelle Zusicherung der zuständigen griechischen Stellen ist nach Aktenlage aber bisher nicht erteilt worden und auch nicht mehr zu erwarten.
Der Klage war daher insgesamt stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.


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