Verwaltungsrecht

Unzulässigkeitsentscheidung bei Gewährung von Flüchtlingsschutz in einem anderen EU-Mitgliedstaat

Aktenzeichen  20 ZB 18.32692

Datum:
19.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4620
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 3
GrCH Art. 4
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 lit. a

 

Leitsatz

1. Nach der Rechtsprechung des EuGH darf die Unzulässigkeitsentscheidung in Bezug auf die Personengruppe der in einem Mitgliedstaat anerkannten Flüchtlinge  durch einen Mitgliedstaat nur dann nicht ergehen, wenn systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit i.S.d. Art. 3 EMRK und des Art. 4 GrCH erreichen (EuGH BeckRS 2019, 3603; BeckRS 2019, 28304). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit kann dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind.  (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 11 K 17.33277 2018-09-05 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts wird abgelehnt, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) nicht vorliegt oder schon nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Weise dargelegt wurde.
1.
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten (Klärungsfähigkeit) und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist (Klärungsbedürftigkeit, vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 36). Diese Voraussetzungen liegen bezüglich der von den Klägern aufgeworfenen Frage jedoch nicht vor.
Die Kläger halten die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
ob ein Mitgliedstaat unionsrechtlich gehindert ist, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat in Umsetzung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU bzw. der Vorgängerreglung in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG als unzulässig abzulehnen, wenn die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge, in dem anderen Mitgliedstaat, der dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt hat, den Anforderungen der Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EG nicht genügt, ohne bereits gegen Art. 4 GrCH bzw. Art. 3 EMRK zu verstoßen.
Diese Frage, die das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 27. Juni 2017 (BVerwG 1 C 26.16) dem Europäischen Gerichtshof in Bezug auf die Unzulässigkeitsentscheidung bei in einem anderen Mitgliedstaat als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Antragstellern vorgelegt hat, wurde mittlerweile mit Urteilen des EuGH vom 19. März 2019 (EuGH Az.: C 297/17, C 318/17, C 319/17 und C 438/17, ECLI:ECLI:EU:C:2019:219, „Ibrahim u.a.“ – BeckRS 2019, 3603 – unter Bezugnahme auf EuGH Az.: 163/17, ECLI:ECLI:EU:C:2019:218, „Jawo“ – NVwZ 2019, 712) und vom 13. November 2019 (EuGH Az.: C-540/17 und 541/17, ECLI:ECLI:EU:C:2019:964, „Hamed und Omar“ – NVwZ 2020, 137) beantwortet.
Ein Klärungsbedarf besteht infolgedessen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1) nicht mehr.
Nach der Rechtsprechung des EuGH darf die Unzulässigkeitsentscheidung durch einen Mitgliedstaat nur dann nicht ergehen, wenn systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit i.S.d. Art. 3 EMRK und des Art. 4 GrCH erreichen (EuGH, U.v. 19.3.2019, ECLI:ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 88-90). Dieser Maßstab wird im Urteil vom 13. November 2019 auch auf die Personengruppe der in einem Mitgliedstaat anerkannten Flüchtlinge übertragen (EuGH, U.v. 13.11.2019 a.a.O. Rn. 43).
Die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit kann dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Auch das Fehlen der Rückgriffsmöglichkeit für den Betroffenen auf familiäre Strukturen und Solidarität (wie sie für Angehörige des Mitgliedstaates regelmäßig bestehen dürften) ist kein Grund für eine derartige Annahme. Nach dieser Rechtsprechung rechtfertigt weder ein fehlender Zugang zu Integrationsprogrammen noch bessere Sozialhilfestandards oder Lebensbedingungen im überstellenden Mitgliedstaat die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Möglich ist aber der Nachweis durch den Betroffenen, dass in seiner Person außergewöhnliche Umstände vorliegen, sodass er sich nach Gewährung internationalen Schutzes aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Wollen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U.v. 19.3.2019, ECLI:ECLI:EU:C:2019:218, Rn. 92-97). Dies ist immer eine Frage des Einzelfalls.
2.
Mit ihrer Grundsatzrüge haben die Kläger auch keine Divergenz nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG dargelegt (BVerfG, B.v. 21.1.2000 – 2 BvR 2125/97 – NVwZ-Beil. 2000, 33). Aus ihrem Vortrag im Antrag auf Zulassung der Berufung ist nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht von gänzlich anderen Maßstäben für die Beurteilung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgegangen sei. Vielmehr machen sie mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung geltend, das Verwaltungsgericht sei unzutreffend davon ausgegangen, dass anerkannten Flüchtlingen in Rumänien generell keine mit Art. 3 EMRK nicht zu vereinbarende Behandlung drohe und formulieren damit ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Diese bilden jedoch nach § 78 Abs. 3 AsylG keinen Zulassungsgrund.
3.
Auf die weiteren mit dem Zulassungsantrag als grundsätzlich bedeutsam erachteten Fragen kam es nicht an, da diese nur für den Fall formuliert wurden, dass die unter 1. erörterte Frage positiv – wie nicht – zu beantworten gewesen wäre.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit dieser Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.


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