Verwaltungsrecht

Verfahrensmangel, Berufung, Zulassungsverfahren, Zulassungsgrund, Somalia, Zulassung, Zulassungsvorbringen, Verletzung, Kenntnis, Christentum, Bedeutung, Entscheidungsdatum, Gefahr, Vorbringen, Zulassung der Berufung, Antrag auf Zulassung der Berufung, Bedeutung der Rechtssache

Aktenzeichen  23 ZB 21.30723

Datum:
9.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 24971
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 11 K 17.43380 2020-12-22 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg, da kein Zulassungsgrund gemäß § 78 Abs. 3 AsylG dargelegt ist (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG). Das Zulassungsvorbringen legt weder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG noch einen Verfahrensmangel gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG dar.
1. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ist im Sinne von § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG dargelegt, wenn der Rechtsmittelführer erstens eine konkrete und gleichzeitig verallgemeinerungsfähige Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, zweitens ausführt, aus welchen Gründen diese klärungsfähig ist, diese also für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblich war, und drittens erläutert, aus welchen Gründen sie klärungsbedürftig ist, mithin aus welchen Gründen die ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2019 – 13a ZB 17.31832 – juris Rn. 3; B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 17.30487 – juris Rn. 2; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 36. EL, Februar 2019, § 124a Rn. 102 ff.). Die Grundsatzfrage muss zudem anhand des verwaltungsgerichtlichen Urteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig, dass der Rechtsmittelführer die Materie durchdringt und sich mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzt (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2019 – 13a ZB 17.31832 – juris Rn. 3; B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4).
Hiervon ausgehend ist eine grundsätzliche Bedeutung nicht dargelegt. Der Kläger wirft die Frage auf,
“inwiefern einem somalischen Staatsangehörigen Verfolgung bzw. menschenunwürdige Behandlung droht, soweit dieser sich zum Christentum bekennt.”
Diese Frage ist allerdings nicht klärungsfähig, da sie für das Verwaltungsgericht bereits nicht entscheidungserheblich war. Das Verwaltungsgericht ist im angegriffenen Urteil davon ausgegangen, dass die behauptete Konvertierung zum Christentum nicht der Wahrheit entspricht (UA Rn. 15 ff.), weil es die Aussagen des Klägers für unglaubhaft hielt, und hat bereits deshalb die Gefahr asylerheblicher Repressalien im Falle der Rückkehr nach Somalia verneint.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – BVerwGE 146, 67=juris Rn. 25 ff.) und des Bundesverfassungsgerichts (Nichtannahmebeschluss v. 3.4.2020 – 2 BvR 1838/15 – juris) ist bei der Frage, ob ein Eingriff in die Religionsfreiheit eine hinreichend schwere Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 darstellt, durch das Tatsachengericht festzustellen, ob die Befolgung einer als verfolgungsträchtig bestimmten Glaubenspraxis ein zentrales Element für die religiöse Identität des Schutzsuchenden und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar ist. Maßgeblich ist dabei, wie der Einzelne seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Beide Prüfungsschritte unterliegen der eigenständigen tatrichterlichen Würdigung der Verwaltungsgerichte.
Die innere Tatsache, dass die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für die religiöse Identität des Betroffenen zentrale Bedeutung hat, muss zur Überzeugung der Gerichte feststehen (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO; BVerfG, a.a.O., Rn. 27 ff.).
Diese erforderliche Überzeugung konnte sich das Verwaltungsgericht ausweislich des angegriffenen Urteils vorliegend nicht bilden, da der Kläger die Taufe, die dem vorgelegten Taufschein zufolge am 1. April 2006 stattgefunden und die nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung sein damaliger Lehrer durchgeführt habe, in der Anhörung beim Bundesamt nicht erwähnt habe. Auch habe der Kläger bereits vor der Anhörung durch das Bundesamt kurz nach seiner Einreise am 5. Oktober 2015 im Rahmen der Registrierung seiner persönlichen Daten ein Blatt unterschrieben, auf dem sich unter der Rubrik “Konfession (Diintada): Catholic, Protestant, Muslim, other” der Eintrag “Muslim” findet (Bl. 37 d. A.). Selbst wenn man zugunsten des Klägers davon ausgehe, dass beim Ausfüllen dieses Blattes kein Dolmetscher anwesend gewesen sei, könne man aufgrund des Bildungsstandes des Klägers, der nach seinen Angaben in Addis Abeba studiert und zudem beim späteren Asylantrag als zweite Sprache Englisch angegeben habe, nicht annehmen, dass der Kläger nicht gewusst habe, was der Eintrag “Muslim” bedeutete. Ferner finde sich in dem von ihm und vom Dolmetscher unterschriebenen Asylantrag vom 10. März 2016 unter der Rubrik Religion der Eintrag “Islam”. Zu beachten sei insoweit auch, dass nach den später behaupteten Fluchtgründen die Angaben zur Religion aus der Sicht des Klägers ein ganz wesentliches persönliches Merkmal bezeichneten (UA Rn. 15 ff.). Vor diesem Hintergrund ging das Verwaltungsgericht nicht von einem asylrechtlich relevanten Bekenntnis zum Christentum im Sinne einer für den Kläger identitätsprägenden Hinwendung zum christlichen Glauben aus. Die Frage, ob eine solche gegeben ist, ist aber – wie vorstehend dargelegt – nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung allein Sache des Verwaltungsgerichts als Tatsachengericht. Das Zulassungsvorbringen zeigt mithin die Klärungsbedürftigkeit (Entscheidungserheblichkeit) der aufgeworfenen Frage nicht auf.
2. Soweit man das Vorbringen des Klägers, das Verwaltungsgericht habe die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen zur Begründung der Fluchtgründe, auch das Vorbringen zu den Abschiebungsverboten, nicht berücksichtigt und unbeachtet gelassen, dass der Kläger ausweislich des vorgelegten Taufscheines seinen Glauben nach außen hin dokumentiert habe und alleine deshalb unter besonderem gerichtlichen Schutz stehe, als Geltendmachung eines Verfahrensmangels in Gestalt der Verletzung rechtlichen Gehörs gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO verstehen wollte, wird ein solcher nicht dargelegt bzw. liegt nicht vor.
Das prozessuale Grundrecht auf rechtliches Gehör, das verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 91 Abs. 1 BV sowie einfachgesetzlich in § 108 Abs. 2 VwGO garantiert ist, sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung, so dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Es soll insbesondere gewährleisten, dass die Beteiligten mit ihren Ausführungen und Anträgen vor Gericht gehört werden. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs hat eine zweifache Ausprägung: Zum einen gibt es den Beteiligten Anspruch darauf, dass rechtzeitiges und möglicherweise erhebliches Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung in Erwägung gezogen wird, soweit es aus verfahrens- oder materiell-rechtlichen Gründen nicht ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben muss oder kann. Zum anderen untersagt es dem Gericht, der Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde zu legen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten (vgl. BayVGH, B.v. 9.8.2018 – 8 ZB 18.31801 – juris Rn. 12 m.w.N.).
Das rechtliche Gehör ist allerdings erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist, weil es Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder es bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat. Grundsätzlich ist deshalb davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Das Gericht ist auch nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen.
Das Gericht muss die Parteien auch nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung ihres Vortrags hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt nur dann vor, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage der Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. Aus dem Prozessgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG folgt dagegen keine allgemeine Frage-, Hinweis und Aufklärungspflicht des Gerichts.
Weiter ist die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG nur dann hinreichend substantiiert, wenn dem Vorbringen auch entnommen werden kann, was die Partei bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte, denn nur dann kann geprüft und entschieden werden, ob die angegriffene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht.
Abzugrenzen ist der Anspruch auf rechtliches Gehör von dem Gebot rechtsfehlerfreier Überzeugungsbildung bzw. ordnungsgemäßer Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Einwände gegen die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt können die Annahme eines Gehörsverstoßes grundsätzlich nicht begründen. Das rechtliche Gehör ist auch nicht schon dann verletzt, wenn das Gericht zu einer unrichtigen Tatsachenfeststellung gekommen ist. Auch die bloße Behauptung, das Gericht habe einem Umstand nicht die zutreffende Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Schlussfolgerungen beigemessen oder es habe es versäumt, Beweis zu erheben, vermag einen Gehörsverstoß nicht zu begründen (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 24.3.2021 – 23 ZB 21.30191).
Aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht die Vorlage des Taufscheins tatsächlich zur Kenntnis genommen und gewürdigt hat (Tatbestand UA Rn. 9, Entscheidungsgründe UA Rn. 17). Gleiches gilt für den – auch in dem im Zulassungsverfahren nachgereichten Schreiben des Pfarrers enthaltenen – Vortrag, dass der Kläger nach wie vor regelmäßig Gottesdienste besuche (UA, Tatbestand Rn. 9). Weitere Anforderungen an die Begründung der gerichtlichen Entscheidung lassen sich dem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs im vorliegenden Fall nicht entnehmen. Wie bereits ausgeführt ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen nicht jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Das Berufungsgericht kann nur dann feststellen, dass das Erstgericht seine Pflicht, den Vortrag der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, verletzt hat, wenn sich dies aus den besonderen Umständen des Falles ergibt (vgl. BVerfG, U.v. 8.7.1997 – 1 BvR 1621/94 – NJW 1997, 2310, stRspr). Solche besonderen Umstände liegen hier nicht vor.
Im Übrigen lässt das Zulassungsvorbringen nicht erkennen, welche konkreten vom Kläger vorgetragenen Tatsachen zur Begründung der Fluchtgründe und welches Vorbringen zu den Abschiebungsverboten das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt haben soll. Dass das Verwaltungsgericht die bei der Beurteilung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche Würdigung der individuellen Umstände des Schutzsuchenden (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 Rn. 38) nicht vorgenommen hätte, ist auch unabhängig hiervon für den Senat nicht ersichtlich (vgl. UA Rn. 30, wo das Verwaltungsgericht die familiäre Situation und den Bildungsstand des Klägers in seine Betrachtung einstellt).
Letztlich greift die Klagepartei mit ihrer Rüge, das Verwaltungsgericht habe sich nicht hinreichend mit den Fluchtgründen des Klägers, insbesondere der Existenz des Taufscheins, auseinandergesetzt, der Sache nach die Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht an (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und macht geltend, das Verwaltungsgericht habe diesen Umständen nicht die zutreffende Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Schlussfolgerungen beigemessen. Damit wird jedoch kein Verfahrensmangel i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO geltend gemacht, sondern allenfalls (ernstliche) Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung vorgetragen. Diese stellen jedoch keinen Zulassungsgrund i.S.d. § 78 Abs. 3 AsylG dar (vgl. BayVGH, B.v. 5.7.2019 – 23 ZB 18.32580 – Rn. 10; B.v. 27.2.2017 – 20 ZB 17.30078 – juris Rn. 3).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts gemäß § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG rechtskräftig.


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