Verwaltungsrecht

Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung

Aktenzeichen  20 ZB 16.30113

Datum:
23.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 132570
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 101 Abs. 2, § 138
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3, Abs. 4 S. 4
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

1. Die Feststellung, ob ein behauptetes traumatisierendes Ereignis tatsächlich stattgefunden hat und damit die tatsächliche Grundlage einer PTBS-Diagnose bilden kann, ist Gegenstand der gerichtlichen Sachverhaltswürdigung und unterliegt der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine das rechtliche Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung einen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt zugrunde gelegt hat, der dem Prozess eine so überraschende Wendung gegeben hat, dass auch ein sorgfältiger Prozessbeteiligter damit nicht rechnen musste. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Einführung von Erkenntnismitteln stellt eine wesentliche Änderung des Prozessstoffs dar, die dazu führt, dass der vorher erklärte Verzicht auf mündliche Verhandlung verbraucht ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 2 K 16.30369 2016-04-28 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 28. April 2016 bleibt ohne Erfolg. Der Antrag ist zwar zulässig, die den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegten Zulassungsgründe liegen jedoch nicht vor.
1. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn für die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung war sowie ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist – Klärungsfähigkeit – und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist – Klärungsbedürftigkeit (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36). Klärungsbedürftig sind nur Fragen, die nicht ohne weiteres aus dem Gesetz zu lösen sind oder durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts oder des Berufungsgerichts geklärt sind (Happ, a.a.O., Rn. 38). Darüber hinaus muss der Frage eine über den Einzelfall hinausreichende allgemeine Bedeutung zukommen.
a) Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
ob die Vorgaben zu den qualitativen Anforderungen an eine ärztliche Bescheinigung in der Neuregelung des § 60a Abs. 2c AufenthG auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Anwendung finden.
Diese Frage wäre in einem Berufungsverfahren nicht klärungsfähig, weil sie für das Verwaltungsgericht nach seinem insoweit maßgeblichen Standpunkt nicht entscheidungserheblich war. Das Verwaltungsgericht hat ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint, weil die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen nach Satz 2 derselben Vorschrift nicht vorlägen. Hierzu führt das Verwaltungsgericht aus, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in der maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2017 (BGBl. I, S. 390 – sog. Asylpaket II), in Kraft getreten am 17. März 2016, konkretisiere die Anforderungen an eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/7538, Seite 18) könnten lediglich lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, die Abschiebung des Ausländers hindern. Mit dieser Präzisierung werde klargestellt, dass nur äußerst gravierende Erkrankungen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben nach Satz 1 derselben Vorschrift darstellten. Eine solche schwerwiegende Erkrankung könne hingegen z.B. in Fällen von PTBS regelmäßig nicht angenommen werden; in solchen Fällen sei die Abschiebung regelmäßig möglich, es sei denn die Abschiebung führe zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung. Die Abschiebung dürfe nicht dazu führen, dass sich die schwerwiegende Erkrankung des Ausländers mangels Behandlungsmöglichkeit in einem Ausmaß verschlechtern werde, dass ihm eine individuell konkrete, erhebliche Gefahr an Leib oder Leben drohe. Im Lichte dieser Neuregelung seien zudem die Vorgaben zu den qualitativen Anforderungen nach § 60a Abs. 2c AufenthG zu sehen. Danach werde gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer müsse eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Insofern habe, wie das Verwaltungsgericht in Rn. 30 seines Urteils ausführt, der Gesetzgeber ebenfalls im Wesentlichen die obergerichtliche Rechtsprechung (unter Verweis auf BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251; U.v. 11.9.2007 – 10 C 17.07 – juris Rn. 15) nachvollzogen, wonach zur Substantiierung des Vorbringens einer Erkrankung an Posttraumatischer Belastungsstörung (sowie eines entsprechenden Beweisantrags) angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptomatik regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attestes gehört. Sodann führt das Verwaltungsgericht (Rn. 31 des Urteilsabdrucks) aus, dass die vom Kläger vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen diese Anforderungen nicht erfüllten. Insofern nimmt das Gericht zunächst nach § 77 Abs. 2 AsylG Bezug auf die Begründung im streitgegenständlichen Bundesamtsbescheid, zu der sich die Klagebegründung nicht verhalte. Auch im jüngst vorgelegten Attest betreffend das Gespräch vom 7. März 2016 werde auf die Einwendungen im Bescheid nicht eingegangen. Vielmehr nehme der Arzt erneut Bezug auf seine vorhergehenden Stellungnahmen, mache sich diese also weiterhin zu Eigen. Da die Diagnose auf der Grundlage nicht weiter überprüfter und hinterfragter Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal beruhe, die dieser erstmals dem Arzt gegenüber gemacht habe, denen der Arzt ohne weiteres Glauben geschenkt habe und die in wesentlichen Aspekten nicht mit den Angaben im Asylverfahren übereinstimmten, fehle es weiterhin bereits an einer ausreichenden Exploration. Des Weiteren habe die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose) mangels Angabe der ICD-10-Schlüssel nur geringe Aussagekraft, auch wenn sie verbal umschrieben sei. Ferner falle auf, dass der Kläger sich nach Angaben seines Arztes seit 10. September 2013 in psychotherapeutischer Behandlung befinden solle, wohingegen er nach dem Ermittlungsbericht der Bundespolizeidirektion erst am 11. September 2013 in Leer wegen des Verdachts der unerlaubten Einreise in Gewahrsam genommen und am Tag darauf entlassen worden sei (unter Verweis auf Blatt 6 – 13 der Bundesamtsakte).
Aus diesen Ausführungen des Verwaltungsgerichtes folgt, dass die (umstrittene) Frage, ob die in erster Linie auf die Feststellung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse bezogenen Kriterien des § 60a Abs. 2c AufenthG auf die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG anwendbar sind, für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich war. Zwar trifft die Rechtsauffassung des Bundesamtes im streitgegenständlichen Bescheid sowie – diese bestätigend – des Verwaltungsgerichtes nicht zu, dass der die Bescheinigung ausstellende Arzt die Angaben des Klägers zu dem traumatisierenden Ereignis auf ihren Wahrheitsgehalt bzw. auf Übereinstimmung mit den vorherigen Angaben im Asylverfahren zu überprüfen habe, auf die der Arzt jedoch regelmäßig keinen Zugriff haben wird. Denn nach ständiger Rechtsprechung ist die Feststellung, ob ein behauptetes traumatisierendes Ereignis tatsächlich stattgefunden hat und damit die tatsächliche Grundlage einer PTBS-Diagnose bilden kann, Gegenstand der gerichtlichen Sachverhaltswürdigung und unterliegt der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO (BayVGH, B.v. 15.2.2017 – 9 ZB 14.30433 – juris Rn. 12 ff.; B.v. 4.11.2016 – 9 ZB 16.30468 – juris Rn. 18 m.w.N.; OVG NW, B.v. 28.11.2007 – 5 A 2544/07.A – juris). Diese Rechtsfrage ist jedoch bereits geklärt und hat deshalb keine grundsätzliche Bedeutung. Dagegen stellen gegebenenfalls bestehende ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach der abschließenden Vorschrift des § 78 Abs. 3 AsylG im Asylprozess keinen Zulassungsgrund dar.
b) Des Weiteren hält der Kläger für grundsätzlich bedeutsam die Frage,
ob eine ausreichende Versorgungs- und Behandlungsmöglichkeit für Personen mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen in Somalia gegeben ist.
Auch diese Frage führt jedoch nicht zur Zulassung der Berufung. Das Verwaltungsgericht hat in Rn. 34 und 35 des angegriffenen Urteils zwar unter Verweis auf verschiedene Erkenntnismittel selbständig tragend darauf abgestellt, dass die Behandelbarkeit einer PTBS nicht von vorneherein ausgeschlossen sei. Daher sei angesichts der strengen Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG kein Abschiebungsverbot festzustellen. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung somit kumulativ auf zwei Begründungsstränge gestützt, nämlich zum einen auf die fehlende Substantiierung der PTBS-Erkrankung und zum anderen auf die – nach seiner Einschätzung zumindest nicht ausgeschlossene – Behandelbarkeit von PTBS im Herkunftsland des Klägers. Bei einer sogenannten kumulativen Mehrfachbegründung muss jedoch hinsichtlich jedes Begründungsstranges ein Zulassungsgrund dargelegt sein und vorliegen, um dem Antrag auf Zulassung der Berufung zum Erfolg zu verhelfen (Berlit in GK-AsylG, § 78 m.w.N. Rn. 580 ff.). Hier liegt jedoch schon hinsichtlich des ersten vom Verwaltungsgericht herangezogenen Begründungsstranges, dem Nichterfüllen der Anforderungen der ständigen Rechtsprechung an die Substantiierung einer PTBS, wie ausgeführt kein Zulassungsgrund vor.
2. Auch die geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO) liegen nicht vor bzw. führen nicht zur Zulassung der Berufung.
a) Ein nach § 138 VwGO beachtlicher Verfahrensmangel in der Form der Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen der Ablehnung eines Beweisantrags mit fehlerhafter Begründung liegt nicht vor. Der Kläger hat schon keinen formellen Beweisantrag gestellt. Er hat mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 7. April 2016 (Blatt 37 der Gerichtsakte des erstinstanzlichen Verfahrens) und damit vor seinem Verzicht auf mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 VwGO den Antrag gestellt, zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger an einer reaktivierten Posttraumatischen Belastungsstörung sowie an einer Panikstörung, sozialen Phobie und Schlaflosigkeit leide, weiterer psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung bedürfe und dass sich sein Gesundheitszustand bei einem Abbruch der Behandlung wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern könne, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen. Das Verwaltungsgericht hatte zwar bereits mit Schreiben vom 6. April 2016 (ausgelaufen am gleichen Tag) angefragt, ob Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 VwGO bestehe (Blatt 36 der Akte des erstinstanzlichen Verfahrens). Erst mit Schriftsatz vom 19. April 2016 (Blatt 40 der Gerichtsakte des erstinstanzlichen Verfahrens) hat aber der Kläger sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt, ohne den (angekündigten) Beweisantrag förmlich zu stellen bzw. zu wiederholen. Zwar gebietet es der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, auch im Falle einer vorangegangenen Verzichtserklärung gemäß § 101 Abs. 2 VwGO einen neuen Beweisantrag entsprechend einem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag zu behandeln und über ihn vor der Sachentscheidung zu entscheiden. Anders verhält es sich jedoch, wenn der Beweisantrag vor (oder gleichzeitig) mit dem Verzicht auf mündliche Verhandlung gestellt worden ist, sowie bei einem Beweisantrag in einem nachgelassenen Schriftsatz, der nur Anlass geben kann, die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen, wenn sich aus ihm die Notwendigkeit weiterer Aufklärung des Sachverhalts ergibt (BVerwG, B.v. 10.10.2013 – 1 B 15.13 – juris Rn. 7 m.w.N.). Nach diesen Grundsätzen handelte es sich bei dem vor dem Übergang in das schriftliche Verfahren angekündigten Beweisantrag lediglich um eine Beweisanregung, der das Verwaltungsgericht jedoch nach seinem Rechtsstandpunkt nicht zu folgen brauchte. Denn es hat die Beweisaufnahme mit der Begründung abgelehnt, dass es bereits an der Substantiierung einer PTBS-Erkrankung fehle.
b) Es liegt auch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung vor, weil das Gericht entgegen seinem Hinweis im Schreiben vom 6. April 2016, dass es maßgeblich auf die vorgelegten Atteste ankomme, die neue Vorschrift des § 60a Abs. 2c AufenthG angewendet habe. Denn wie bereits unter 1. a) ausgeführt, hat das Verwaltungsgericht gerade nicht entscheidend auf die Anwendbarkeit des § 60a Abs. 2c AufenthG bei der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG abgestellt.
c) Eine Überraschungsentscheidung und damit eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt auch nicht darin, dass das Gericht nach Auffassung des Klägers seine Rechtsmeinung abweichend von den eingeführten Erkenntnismitteln geändert hat. Eine das rechtliche Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung einen tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt zugrunde gelegt hat, der dem Prozess eine so überraschende Wendung gegeben hat, dass auch ein sorgfältiger Prozessbeteiligter damit nicht rechnen musste (Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 283 ff.). Bei den Erkenntnismitteln handelt es sich um tatsächliche Grundlagen der Entscheidung. Rechtliches Gehör ist zu den tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen zu gewähren, nicht jedoch zu deren voraussichtlicher Bewertung durch das Gericht (Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 341). Das Verwaltungsgericht hat mit der Einführung der beiden als Erkenntnismittel eingeführten Entscheidungen des Österreichischen Verwaltungsgerichtshofs nicht die darin vertretenen Rechtsstandpunkte übernommen, sondern hat sich lediglich die dort getroffenen Tatsachenfeststellungen zu Eigen gemacht und (unter anderem) auf dieser Grundlage seine eigene Rechtsüberzeugung gebildet. Ferner hat es seine Entscheidung auch nur auf die eingeführten und nicht auf andere, nicht in das Verfahren eingeführte Erkenntnismittel gestützt. Somit hat das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung keinen überraschenden tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkt zugrunde gelegt, zu dem sich der Kläger nicht hätte äußern können, weshalb eine das rechtliche Gehör verletzende Überraschungsentscheidung insoweit nicht vorliegt.
d) Im Ergebnis führt auch der Umstand, dass der Kläger keine zumutbare Möglichkeit hatte, zu den in den Prozess eingeführten Erkenntnismitteln Stellung zu nehmen, nicht zur Zulassung der Berufung.
Der Kläger hat auf Anfrage des Verwaltungsgerichts durch seine Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 19. April 2016 sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt und eine – ausdrücklich als solche bezeichnete – „abschließende“ Stellungnahme abgegeben. Mit – offenbar nicht per Telefax vorab übersendetem – Schreiben vom 21. April 2016 hat das Verwaltungsgericht jedoch die Liste der Erkenntnismittel übersendet und weitere, nicht auf der Liste aufgeführte Dokumente als Erkenntnismittel in das Verfahren eingeführt. Des Weiteren wurde angekündigt, „spätestens“ Ende der 17. Kalenderwoche (Montag, 25. April bis Sonntag, 1. Mai 2016) entscheiden zu wollen. Mit einem laut Posteingangsstempel am 27. April 2016 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers um eine Fristverlängerung bis 2. Mai 2016 gebeten, um zu den eingeführten Erkenntnismitteln Stellung nehmen zu können. Am 28. April 2016 erging jedoch bereits das angefochtene Urteil, das der Klägerbevollmächtigten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 2. Mai 2016 zugestellt wurde. Aus einem Aktenvermerk (Blatt 62 Rückseite der Gerichtsakte des erstinstanzlichen Verfahrens) geht hervor, dass das Urteil „laut Geschäftsstelle bereits vor Erhalt des Schreibens bzw. Vorlage zum Berichterstatter ausgelaufen und statistisch erfasst“ worden sei.
Aus diesem zeitlichen Ablauf geht hervor, dass der Kläger keine zumutbare Möglichkeit hatte, zu den eingeführten Erkenntnismitteln Stellung zu nehmen. Zwar ist das Verwaltungsgericht nicht verpflichtet, nach dem Verzicht auf mündliche Verhandlung gemäß § 101 Abs. 2 VwGO eine Frist zu bestimmen, bis zu deren Ablauf Schriftsätze eingereicht werden können (BVerwG, U.v. 10.10.2013 – 1 B 15.13 – juris Rn. 5). Die Einführung von Erkenntnismitteln stellt aber eine wesentliche Änderung des Prozessstoffs dar, die dazu führt, dass der vorher erklärte Verzicht auf mündliche Verhandlung verbraucht ist. Die Verzichtserklärung bedeutet jedenfalls nicht den „Verzicht“ auf die Gewährung rechtlichen Gehörs zu solchen, die Entscheidung tragenden Umständen, die bislang nach übereinstimmender Auffassung aller Verfahrensbeteiligter nicht entscheidungserheblich waren (Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 328; BVerfG, B.v. 31.5.1995 – 2 BvR 736/95 – NVwZ-Beilage 1995, 66 f.). Für den Zeitpunkt der Einführung der Erkenntnismittel gilt, dass ein gewissenhafter Verfahrensbeteiligter die realistische Chance haben muss, die eingeführten Erkenntnismittel einzusehen und sich sachgerecht zu äußern (Berlit, a.a.O., Rn. 340). Dafür war der dem Kläger faktisch zur Verfügung stehende Zeitraum von weniger als einer Woche bis zur gerichtlichen Entscheidung nicht mehr angemessen.
Dies führt jedoch nicht zur Zulassung der Berufung, weil die Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensmangel nicht beruht. Ein Verfahrensfehler kann nur dann zur Zulassung der Berufung führen, wenn die angegriffene Entscheidung auf dem geltend gemachten Gehörsverstoß auch beruhen kann. Der Verweis auf § 138 VwGO in der im Asylprozess maßgeblichen Vorschrift des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG betrifft lediglich die Bezeichnung der rügefähigen Verfahrensmängel; er umschließt aber nicht die revisionsrechtliche (unwiderlegliche) Vermutung, dass bei Vorliegen eines der in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmängel die Entscheidung gegen Bundesrecht verstößt und der vorliegende Verfahrensverstoß ursächlich für das Urteil ist, dieses also auf dem Verfahrensverstoß beruht (Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 82). Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor, wenn – nach Maßgabe der Rechtsmeinung des erkennenden Verwaltungsgerichts – auszuschließen ist, dass bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs eine dem Kläger günstigere Entscheidung ergangen wäre (Berlit in GK-AsylG, § 78 Rn. 635 m.w.N.). Da das Verwaltungsgericht hier seine Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Gründe gestützt hat (kumulative Mehrfachbegründung), hätten Darlegungen des Klägers zu den eingeführten Erkenntnismitteln nichts daran geändert, dass das Verwaltungsgericht das Substantiierungserfordernis durch die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen als nicht erfüllt angesehen hat. Deshalb wäre auch bei ordnungsgemäßer Gewährung rechtlichen Gehörs zu den eingeführten Erkenntnismitteln keine für den Kläger günstigere Entscheidung ergangen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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