Verwaltungsrecht

Verlust des Freizügigkeitsrechts wegen Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft

Aktenzeichen  10 C 19.1081

Datum:
6.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 13738
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 4a, § 6 Abs. 1, § 7 Abs. 1 S. 1, § 11 Abs. 2
AufenthG § 59 Abs. 3 Satz 1, § 60 Abs. 7, § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

1 Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (BayVGH BeckRS 2019, 3421; BeckRS 2019, 7299). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2 Zeiträume, in denen der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat eine Freiheitsstrafe verbüßt (hat), können nicht für die Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 10 K 18.1011 2019-05-02 Ent VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Mit ihrer Beschwerde verfolgt die am 31. August 1979 geborene Klägerin ungarischer Staatsangehörigkeit ihren in erster Instanz erfolglos gebliebenen Antrag weiter, ihr für die Klage gegen die von der Beklagten ausgesprochene Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten zu gewähren.
Gegenstand der Klage ist der Bescheid der Beklagten vom 7. Februar 2018, mit dem der Verlust des Rechts auf Freizügigkeit festgestellt (Nr. 1), die Einreise und der Aufenthalt für sieben Jahre untersagt (Nr. 2) sowie die Klägerin zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland binnen einer Frist von einem Monat nach Bestandskraft des Bescheids aufgefordert und ihr für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Ungarn angedroht wurde (Nr. 3). Die Klägerin beantragte für die hiergegen erhobene Klage Prozesskostenhilfe, was das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 2. Mai 2019 mangels hinreichender Erfolgsaussichten ablehnte.
Die hiergegen am 15. Mai 2019 erhobene Beschwerde der Klägerin ist zulässig aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt, weil die Voraussetzungen dafür nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht vorlagen.
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags, hier nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 C 18.2522 – juris Rn. 17; B.v. 8.2.2019 – 10 C 18.1641 – juris Rn. 4 m.w.N.), hat die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die im angegriffenen Bescheid der Beklagten getroffene Verlustfeststellung des Rechts auf Freizügigkeit bei summarischer Prüfung rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt.
Die Verlustfeststellung findet ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU. Danach kann die zuständige Behörde den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit feststellen. Bei einer strafrechtlichen Verurteilung muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Entscheidung sind die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Belange zu berücksichtigen.
Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass bei der Klägerin prognostisch von einer Wiederholungsgefahr auszugehen sei, begegnet auch unter Berücksichtigung ihres Beschwerdevorbringens keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (siehe z.B. BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würden (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; B.v. 18.4.2019 – 10 ZB 18.2660 – juris Rn. 4). Das Verwaltungsgericht hat insofern zu Recht darauf verwiesen, dass die Klägerin trotz begonnener Therapiemaßnahmen ihre Suchtproblematik noch nicht abschließend (erfolgreich) bearbeitet hat. Insofern räumt die Klägerin selbst ein, dass sie eine nach Haftentlassung begonnene Therapie aus Kostengründen wieder habe abbrechen müssen. Ausweislich einer Stellungnahme der die Klägerin behandelnden Ärzte sei diese „noch abstinent, dies kann sie jedoch außerhalb eines geschützten Kliniksettings nach unserer Einschätzung kaum aufrechterhalten“ (Stellungnahme v. 27.2.2018, Bl. 278 der Behördenakten). Entsprechendes gilt, soweit sich die Klägerin darauf beruft, „dabei zu sein“, ihre Schuldensituation, welche die Begehung weiterer Straftaten möglicherweise begünstigt, zu regeln. Es ist nach Aktenlage nichts dafür ersichtlich, dass ihr dies mittlerweile mit Erfolg gelungen wäre. Nach den im Prozesskostenhilfeverfahren vorgelegten Unterlagen übt die Klägerin derzeit keine Erwerbstätigkeit aus, sondern bezieht Arbeitslosengeld II.
Zutreffend hat das Erstgericht im Rahmen der vorläufigen Prüfung ferner festgestellt, dass zugunsten der Klägerin die Einschränkung des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU mangels Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts im Sinne des § 4a FreizügG/EU nicht greift. Bei dieser Prüfung ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass Zeiträume, in denen der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat eine Freiheitsstrafe verbüßt (hat), nicht für die Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden können, weil der Unionsgesetzgeber die Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EU von der Integration des Unionsbürgers in den Aufnahmemitgliedstaat abhängig macht, diese Integration nicht nur auf territorialen und zeitlichen Faktoren, sondern auch auf qualitativen Elementen im Zusammenhang mit dem Grad der Integration im Aufnahmemitgliedstaat beruht, und die Verhängung einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung durch ein nationales Gericht dazu angetan ist, deutlich zu machen, dass der Betroffene die von der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates in dessen Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte nicht beachtet, so dass die Berücksichtigung von Zeiträumen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für die Zwecke des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts dem mit der Einführung dieses Aufenthaltsrechts verfolgten Ziel eindeutig zuwider laufen würde (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2014 – Onuokwere, C-378/12 – juris Rn. 25 und 26; BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – juris Rn. 23). Gemessen an diesen Kriterien erfüllen die Aufenthaltszeiten der Klägerin im Bundesgebiet nicht die Kriterien eines rechtmäßigen Aufenthalts i.S. von Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EU. Die Klägerin reiste am 18. September 2011 nach Deutschland ein, befand sich aber ab 13. April 2016 und damit vor Ablauf des Fünfjahreszeitraums in Haft.
Schließlich ist auch die von der Beklagten nach § 6 Abs. 1 und Abs. 3 FreizügG/EU zu treffende Ermessensentscheidung (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 46; B.v. 27.3.8.2019 – 10 ZB 19.68 – juris Rn. 13) nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat erkannt, dass die Entscheidung über die Verlustfeststellung in ihrem Ermessen liegt, und die tatbezogenen Umstände eingehend gewürdigt. Sie hat auch hinreichend die gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU zu berücksichtigenden Belange abgewogen und dabei insbesondere die Dauer des Aufenthalts, den Integrationsstand und die familiäre Situation bewertet. Die Beklagte hat die spezielle Situation der Klägerin hinreichend in den Blick genommen und angemessen gewürdigt. Auch die familiären Bindungen sowie der gesundheitliche Aspekt wurden ausreichend berücksichtigt.
Die Nrn. 2 und 3 des angefochtenen Bescheids sind voraussichtlich ebenso wenig zu beanstanden. Die Ausreisepflicht ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU; danach sind Unionsbürger ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde – wie vorliegend – festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Die hierfür gesetzte Frist ist angemessen. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU soll in dem Bescheid die Abschiebung angedroht und eine Ausreisefrist von mindestens einem Monat gesetzt werden. Nachdem das Freizügigkeitsgesetz/EU keine eigenen Regelungen zur Durchsetzung der Ausreise enthält, ist gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz anwendbar. Dem Erlass einer Abschiebungsandrohung unter Bestimmung einer Ausreisefrist stand nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG das Vorliegen von Abschiebungsverboten nicht entgegen (BayVGH, B.v. 16.10.2017 – 19 C 16.1719 – juris Rn. 23).
Ungeachtet dessen wird, soweit die Klägerin insofern rügt, dass bei Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage insbesondere im Hinblick auf das Vorliegen eines Abschiebungsverbots „keine überspannten Anforderungen gestellt werden“ dürften, verkannt, dass das Verwaltungsgericht zu Recht (lediglich) auf die gesetzlichen Anforderungen aus § 60a Abs. 2c AufenthG abgestellt hat, welche an ein ärztliches Attest zu stellen sind, mit denen eine krankheitsbedingte Unmöglichkeit einer Abschiebung glaubhaft gemacht werden soll. Diesen Anforderungen werden die vorgelegten ärztlichen Unterlagen, auch das zuletzt im Klageverfahren eingereichte fachärztliche Attest vom 22. Mai 2019, nicht gerecht. Ohnehin liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es muss sich um „äußerst gravierende“, insbesondere lebensbedrohliche Erkrankungen handeln (BVerwG, B.v. 12.7.2016 – 1 B 85.16 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 19.3.2019 – 10 ZB 18.33190 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 27.1.2015 – 13 A 1201/12.A – juris Rn. 28 ff.; Koch in BeckOK Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 15.8.2016, § 60 Rn. 40 m.w.N.). Zwar gelangt das Attest vom 22. Mai 2019 zu dem Ergebnis, dass im Falle einer Abschiebung nach Ungarn „unmittelbare Suizidalität“ drohe. Allerdings wird unterstellt, dass „eine adäquate fachärztliche psychiatrische Versorgung in Ungarn nicht gewährleistet“ sei. Diese nicht weiter belegte Annahme entspricht aber nicht der vorliegenden Erkenntnislage, wonach die Versorgung in Ungarn auch im Krankheitsfall gesichert ist, ungarische Staatsbürger im Bedarfsfall Anspruch auf Kostenübernahme hierfür haben und lebensrettende Versorgung sowie Notfallversorgung in Ungarn gewährleistet werden (vgl. VG Cottbus, B.v. 7.5.2019 – 5 L 658/18.A – juris Rn. 17 f.; VG Berlin, B.v. 19.12.2018 – 23 L 708.18A – juris Rn. 16). Nicht verlangt werden kann jedoch, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG); ein Ausländer muss sich vielmehr auf den Standard der Gesundheitsversorgung in seinem Heimatland verweisen lassen (vgl. BayVGH, B.v. 9.5.2016 – 10 ZB 15.677 – juris Rn. 13 m.w.N.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine Festgebühr anfällt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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