Verwaltungsrecht

Verlustfeststellung aus zwingenden Gründen, sexueller Missbrauch von Kindern, Wiederholungsgefahr

Aktenzeichen  AN 11 K 20.00972

Datum:
18.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 601
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EUF § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.     
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.     
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid vom 21. April 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes, § 113 Abs. 5 VwGO.
Die in Ziffer I verfügte Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland ist ebenso wenig zu beanstanden, wie die in Ziffer III und IV verfügten Annexentscheidungen. Auch begegnet die unter Ziffer II verfügte Befristung der Wirkungen der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts auf die Dauer von acht Jahren ab Ausreise/Abschiebung derzeit keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
I. Zu dem hier für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/17 – juris Rn. 91 ff.; BayVGH, U.v. 21.12.2011 – 10 B 11.182 – VGH n.F. 64, 263, juris Rn. 18; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Ls 2.) liegen die Voraussetzungen für die von der Beklagten verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt beim Kläger vor. Die Kammer ist dabei zu der Überzeugung gelangt, dass die Beklagte ihre Entscheidung zu Recht auf § 6 Abs. 1 i.V.m Abs. 5 FreizügG/EU gestützt hat (1.), dessen Tatbestand erfüllt ist, wobei insbesondere von einer Wiederholungsgefahr auszugehen ist (2.) und die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat (3.).
1. Das Gericht geht mit der Beklagten zu Gunsten des Klägers, ohne die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU im Einzelnen zu prüfen, davon aus, dass der Kläger schon auf Grund seiner griechischen Staatsangehörigkeit ein freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ist und dass die Verlustfeststellung ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 FreizügG/EU findet, da sich der Kläger zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Verlustfeststellung (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/16 – juris Rn.88; BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 40) mit Zustellung des streitgegenständlichen Bescheides am 28. April 2020 länger als zehn Jahre in der der Bundesrepublik aufgehalten hat.
Dabei verkennt die Kammer nicht, dass § 6 FreizügG/EU ein dreistufiges, am Maß der Integration des Betroffenen orientiertes System aufeinander aufbauender Schutzstufen bei Ausweisungen normiert (vgl. BayVGH, U.v. 21.12.2011 – 10 B 11.182 – juris Rn. 37). Für das Erreichen der höchsten Schutzstufe genügt deshalb ein rein tatsächlicher Aufenthalt im Bundesgebiet bzw. Aufnahmemitgliedstaat von zehn Jahren – unabhängig von seiner Rechtmäßigkeit – nicht (vgl. BayVGH, U.v. 21.12.2011 – 10 B 11.182 – juris Rn. 39). Insbesondere können zuvor geknüpfte Integrationsverbindungen durch die Verbüßung einer Freiheitsstrafe abreißen, mit der Folge, dass kein ununterbrochener Aufenthalt von zehn Jahren im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a Freizügigkeits-RL vorliegt und damit kein besonderer Schutz vor Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU besteht (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 40). Voraussetzung ist, dass eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte zu dem Schluss führt, dass die Integrationsbande, die ihn mit dem Aufnahmemitgliedstaat verbinden, durch die Haft abgerissen sind. Zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art der haftbegründenden Straftat und die Umstände ihrer Begehung sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/16 – juris Rn. 70 ff.).
Bei dieser Bewertung erkennt die Kammer, dass sich der Kläger bereits seit 1991 in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und hier auch kontinuierlich einer Erwerbstätigkeit – zunächst als Monteur von Bildschirmen und Kabeln anschließend als Sicherheitsdienstmitarbeiter – nachgegangen ist. Auch die gesamte Familie des Klägers lebt ausweislich der Aktenlage und der Angaben in der mündlichen Verhandlung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Kammer erkennt zwar, dass sich der Kläger aufgrund einer schweren Straftat seit 13. Juli 2017 in staatlichem Gewahrsam befindet. Gleichwohl hat dies nicht dazu geführt, dass sich der Kläger von seinen Kontakten in der Bundesrepublik abgewandt hat. Denn ausweislich des Berichts der Justizvollzugsanstalt vom 13. Dezember 2021 wird der Kläger regelmäßig von seinen Eltern und seinem Bruder in dieser besucht. Auch ist der Kläger vor den verfahrensgegenständlichen Anlasstaten in der Bundesrepublik noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten. Unter Berücksichtigung dieser Gesamtumstände geht die Kammer zu Gunsten des Klägers davon aus, dass durch seine Inhaftierung seine Integrationsbande in der Bundesrepublik nicht abgerissen sind.
2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 i.V.m Abs. 5 FreizügG/EU sind erfüllt.
a) Eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU darf nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden, § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe vom mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherheitsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht, § 6 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU. Der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU, der der Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der RL 2004/38/EG dient, setzt nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist. Eine Ausweisungsmaßnahme ist hier auf außergewöhnliche Umstände begrenzt (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 40,41). Sie muss auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden und kann nur dann mit zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt werden, wenn sie angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Bedrohung für den Schutz der Interessen, die mit ihr gewahrt werden sollen, erforderlich ist; Voraussetzung ist weiter, dass dieses Ziel unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers und insbesondere der schweren negativen Folgen, die eine solche Maßnahme für Unionsbürger haben kann, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, nicht durch weniger strikte Maßnahmen erreicht werden kann. Dabei ist insbesondere der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person, die zu der Zeit, zu der die Verfügung ergeht, zu beurteilen ist, nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung, gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Aufnahmemitgliedsstaat, in den er vollständig integriert ist, zu gefährden (vgl. EuGH – U.v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 49,50). Im Falle einer Verurteilung wegen Straftaten ist § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU im Übrigen dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 d AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann, mit denen eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist. Zudem setzt eine Verlustfeststellung voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (vgl. EuGH, U.v. 22.5.2012 – C-348/09 – juris Rn. 33,34).
Nach diesen Grundsätzen rechtfertigt das sich in den Anlasstaten gezeigte persönliche Verhalten des Klägers die Verlustfeststellung aus zwingen Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Denn die der Verurteilung des Klägers vom 20. Juli 2018 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei tatmehrheitlichen Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Herstellung kinderpornographischer Schriften, und der versuchten Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten zu Grunde liegenden Umstände lassen ein persönliches Verhalten erkennen, das eine schwerwiegende gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellt. Nach den Feststellungen des Landgerichts … hatte der Kläger – wie im Tatbestand ausführlich dargestellt – mit der zum Tatzeitpunkt zwölfjährigen Tochter einer Freundin in drei nachgewiesenen Fällen Geschlechtsverkehr. In zwei dieser Fälle hat er die Handlungen mit seiner Handykamera gefilmt. Nachdem die Mutter der Geschädigten von dem Verhältnis zwischen dem Kläger und ihrer Tochter erfahren hatte, drohte der Kläger der Mutter mit dem Tod der Geschädigten, wenn die Mutter ihn wegen der Taten bei der Polizei anzeigen werde. Die Kammer erkennt zwar, dass der Kläger die Taten bis heute leugnet, gleichwohl ist diese – wie auch die Strafkammer – davon überzeugt, dass der Kläger die rechtskräftig abgeurteilten Straftaten begangen hat. Soweit es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Verlustfeststellung etwa auf die Umstände der Tatbegehung ankommt (z.B. im Rahmen der Feststellung einer Wiederholungsgefahr oder bei der Ermessensausübung) besteht für die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte zwar keine strikte Bindung an eine rechtskräftige Verurteilung (vgl. insoweit auch Ziff. 6.2.2.1.5 AVV FreizügG/EU). Es ist aber geklärt, dass die Ausländerbehörden – und demzufolge auch die zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung berufenen Gerichte – in dieser Beziehung ohne weiteres in aller Regel von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen können und die darin getroffenen Feststellungen ihrer Entscheidung zugrunde legen dürfen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn ein Verfahrensbeteiligter die Richtigkeit der vom Strafgericht getroffenen Feststellungen unter Darlegung konkreter Anhaltspunkte beanstandet und diese Anhaltspunkte nach Auffassung des Verwaltungsgerichts tatsächlich geeignet sind, die dort gezogenen Schlüsse zu erschüttern, sodass sich dem Verwaltungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2018 – 10 ZB 18.1121 – juris Rn. 6; OVG Hamburg, U.v. 15.6.2015 – 1 Bf 163/14 – juris Rn. 44). Solche konkreten Anhaltspunkte sind für die Kammer nicht ersichtlich. Diese hat zwar erkannt, dass im Rahmen der strafgerichtlichen Verurteilung anthropologische Gutachten im Hinblick auf die Täterschaft des Klägers zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind. Gleichwohl hat sich das Strafgericht ausweislich seiner Feststellungen ausführlich mit den Gutachten auseinandergesetzt und auch für die Kammer überzeugend begründet, warum die Taten aufgrund von Zeugenaussagen, des Chatverkehrs und der Videoaufnahmen dem Kläger nachgewiesen werden können. Diese Überzeugung konnte der Kläger auch im ausländerrechtlichen Verfahren nicht erschüttern. Die Angaben des Klägers im Rahmen der Anhörung, sind dabei bereits widersprüchlich gegenüber seinen eigenen Einlassungen vor dem Strafgericht. So gab der Kläger vor dem Strafgericht beispielsweise an, dass er sich das Video auf dem Handy damit erkläre, dass er der Mutter der Geschädigten sein Handy von Mai bis Oktober 2016 überlassen habe (vgl. Bl. 10 des Strafurteils) und diese das Handy an einen weiteren Mann weitergegeben habe müsse, der sich und die Geschädigte beim Geschlechtsverkehr gefilmt habe. Im Rahmen der Anhörung gab der Kläger nunmehr an, dass er der Mutter der Geschädigten das Handy geschenkt habe. Auch gab der Kläger im Rahmen der Anhörung erstmalig an, dass die Geschädigte und ihre Mutter im Hotel nicht gemeldet gewesen seien, obwohl dieser Gesichtspunkt – soweit nach Aktenlage ersichtlich – im strafgerichtlichen Verfahren überhaupt nicht strittig war. Die übrigen Ausführungen des Klägers in seinem Anhörungsschreiben sind im Wesentlichen als Angriff auf die strafgerichtliche Beweiswürdigung zu verstehen. Mit diesen Gesichtspunkten hat sich das Strafgericht in seinem rechtskräftigem Urteil jedoch wertend – und auch für die Kammer überzeugend – auseinandergesetzt. Lediglich ergänzend ist anzumerken, dass auch das von dem Kläger in die Wege geleitete strafrechtliche Wiederaufnahmeverfahren nach den Angaben des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung letztinstanzlich abgeschlossen wurde, ohne dass es zu einer Abänderung der rechtskräftigen Entscheidung gekommen ist. Nach alldem ist die Kammer von der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen überzeugt.
Den Straftaten des Klägers – aufgrund derer dieser entsprechend des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden ist – liegt ein persönliches Verhalten zu Grunde, das eine Aberkennung des Freizügigkeitsrechts aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtfertigt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gehört nach Art. 83 I AEUV die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu den Bereichen besonders schwerer Kriminalität, die eine grenzüberschreitende Dimension haben und für die ein Tätigwerden des Unionsgesetzgebers vorgesehen ist. Im ersten Erwägungsgrund der RL 2011/93/EU wird dieses Ziel zum Ausdruck gebracht und hervorgehoben, dass sexueller Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern schwere Verstöße gegen die Grundrechte darstellen, insbesondere gegen die im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgelegten Rechte des Kindes auf Schutz und Fürsorge, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind (vgl. EuGH, U.v. 22.5.2012 – C-384/09 – juris Rn. 25 ff.). Bei den Straftaten handelt es sich auch um eine besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses und diese weisen auch im vorliegenden Einzelfall durch die Art und Weise ihrer Begehung besonders schwerwiegende Merkmale auf. Dabei erkennt die Kammer zwar, dass das Strafgericht zu Gunsten des Klägers angenommen, dass die Geschädigte dem Kläger ein Gefühl von „Liebe“ entgegengebracht habe. Gleichwohl wiegt schwer, dass der 38-jährige Kläger ein zum Tatzeitpunkt zwölfjähriges Kind über ein halbes Jahr lang sexuell missbraucht hat und dabei auch die Vertrauensstellung zur Mutter der Geschädigten in erheblichem Maße ausgenutzt hat. Auch die Folgen der Tat – insbesondere für die Geschädigte, die sich seitdem in psychologischer Behandlung befindet und deren schulische Leistungen sich verschlechtert haben – wiegen im Einzelfall schwer.
b) Diese Gefährdung ist auch gegenwärtig im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU, da aufgrund der Gesamtumstände des Einzelfalls entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten von einer Wiederholungsgefahr auszugehen ist. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben insoweit nach ständiger Rechtsprechung bei der Prüfung, ob im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch ein persönliches Verhalten des Betroffenen zu erkennen ist, ebenso wie bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung, eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2015 – 1 B 39/15 – InfAuslR 2016, 1; BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 19 ZB 19.914 – juris Rn. 9 m.w.N.). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 19 ZB 19.914 – juris Rn. 9).
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes geht die Kammer davon aus, dass von dem Kläger auch weiterhin die Gefahr von der Verwirklichung einschlägiger Sexualdelikte ausgeht. Insoweit erkennt die Kammer zwar, dass entsprechend der Ausführungen des Klägerbevollmächtigten die sexuelle Beziehung mit der Geschädigten die insoweit einzigen (einschlägigen) strafrechtlichen Handlungen des Klägers waren. Hieraus jedoch ableiten zu wollen, dass der Kläger im Allgemeinen keine Neigungen zu „Beziehungen“ mit Kindern hat, ist rein spekulativ. Denn der Kläger hatte aufgrund seiner Vertrauensstellung zu der Mutter der Geschädigten dieser gegenüber eine besondere Stellung inne, die ihm die Ermöglichung der strafrechtlich verurteilten Taten unter Ausnutzung des Vertrauensverhältnisses deutlich erleichtert hat. Es erscheint somit wahrscheinlich, dass der Kläger bei Eingang einer erneuten – gleichsam vertrauensvollen – Nähebeziehung diese wieder entsprechend zur Begehung weiterer Taten ausnutzt. Auch aus dem von der Beklagten vorgelegten Bericht der Justizvollzugsanstalt vom 16. Dezember 2021 geht hervor, dass bei dem Kläger eigentlich die Durchführung einer Sexualtherapie intendiert sei, er eine solche aber weder begonnen noch abgeschlossen habe. Im Rahmen einer solchen Therapie könnte sich der Kläger auch hinreichend mit seinen Straftaten auseinandersetzen und seine Neigungen hinterfragen. Da der Kläger seine Tat leugnet, kann er sich jedoch auch auf die notwendige sozialtherapeutische Aufarbeitung seiner in den Anlasstaten gezeigten Persönlichkeitsdefizite nicht einlassen. Deshalb besteht auch die Persönlichkeitsproblematik des Klägers unbehandelt fort. Gerade diese Problematik steht hier einer positiven Prognose entgegen, da auch nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die Annahme des Wegfalls einer Wiederholungsgefahr erst dann gerechtfertigt ist, wenn eine indizierte Therapie abgeschlossen ist und sich der Ausländer für eine gewisse Zeit in Freiheit bewährt hat (vgl. insoweit auch BayVGH, U.v. 20.3.2008 – 10 BV 07.1856 – juris Rn. 22; BayVGH, B.v. 24.3.2020 – 10 ZB 20.138 – juris Rn. 10). Für die verwaltungsgerichtliche Annahme der Wiederholungsgefahr spricht auch, dass – wie der Klägerbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat – zwischenzeitlich der sog. Zweidrittelzeitpunkt der Strafverbüßung verstrichen ist, ohne dass durch die Strafvollstreckungskammer die Verbüßung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auch sind dem Kläger bislang keine Vollzugslockerungen in Form von Ausgängen gewährt worden.
Der durch den Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung gestellte Beweisantrag war abzulehnen, da die Kammer die Wiederholungsgefahr auf Grund einer eigenen Prognoseentscheidung zu treffen vermochte. Nach ständiger Rechtsprechung bewegt sich die Kammer als Tatsachengericht bei der Gefahrenprognose im Fall der Freizügigkeitsaberkennung eines strafgerichtlich verurteilen Ausländers, regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2015 – 1 B 39/15 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – juris Rn. 8). Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose auf Grund besonderer Umstände nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende, fachliche Erkenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 5). Im Übrigen kann auch ein Sachverständigengutachten die Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern nur eine Hilfestellung anbieten (vgl. BayVGH, B. v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – juris Rn. 8). Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass im Fall des Klägers die Prognoseentscheidung nicht ohne weiteres Sachverständigengutachten hätte getroffen werden können, liegen nach Ansicht der in Fragen des Ausländerrechts erfahrenen Kammer nicht vor.
Angesichts der hohen Bedeutung der bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgüter und des Ausmaßes des dadurch eintretenden Schadens rechtfertigt die vom Kläger immer noch ausgehende Rückfallgefahr die verfahrensgegenständliche Verlustfeststellung.
3. Die Beklagte hat bei Erlass der Verlustfeststellung das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung ist abzuwägen, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris Rn. 27). Es ist insoweit der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienfriedens zu Gunsten des Unionsbürgers zu beachten. Hierbei sind gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
Das Gericht kann die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO lediglich daraufhin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden.
Die Beklagte hat erkannt, dass die Entscheidung über die Verlustfeststellung in ihrem Ermessen liegt (vgl. S. 9 f. des Bescheides) und die tatbezogenen Umstände eingehend gewürdigt (vgl. S. 10 des Bescheides). Dabei hat die Beklagte berücksichtigt, dass der Kläger sich lange im Bundesgebiet aufhält und in diesem Zeitraum beachtliche Beziehungen aufgebaut haben dürfte, jedoch über keine schützenswerten familiären Bindungen wie beispielsweise Kinder verfügt. Kontakt zu volljährigen Familienangehörigen könne mittels Telekommunikation oder gelegentlichen Besuchen im gemeinsamen Heimatland aufrechterhalten werden. Diese Bindungen müssten überdies aufgrund der Wiederholungsgefahr zurücktreten. Weiterhin hat die Beklagte sich auch mit der Rückkehrsituation des Klägers auseinandergesetzt und in Anlehnung an das Strafurteil festgestellt, dass die Familie des Klägers in Griechenland ein Haus besitze und der Kläger in Griechenland über einen Freundes- und Bekanntenkreis verfüge.
In der mündlichen Verhandlung wurden weder durch den Klägerbevollmächtigten noch durch die anwesende Familie des Klägers Gesichtspunkte vorgetragen, die durch die Beklagte nicht bereits im Rahmen ihres Bescheides Berücksichtigung gefunden haben. Die ausgeführten Erwägungen der Beklagten sind durch das Gericht nicht zu beanstanden, sodass die Ermessensentscheidung der Beklagten, dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unter Berücksichtigung der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr den Vorrang zukommen zu lassen, keinen rechtlichen Bedenken begegnet.
II. Auch eine Verkürzung des im Bescheid vom 21. April 2020 verfügten Einreise und Aufenthaltsverbotes von acht Jahren kommt vorliegend nicht in Betracht.
Rechtsgrundlage ist insoweit § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Dabei ist jeweils auf die aktuelle Tatsachenlage im Zeitpunkt der Überprüfungsentscheidung abzustellen (vgl. EuGH, U.v. 17.7.1997 – C-65/95, C-111/95 – juris Rn. 39 ff.). Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU – wie hier – überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU). Eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht vorgesehen (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 – juris Rn. 23). Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs handelt es sich bei der Entscheidung über die Befristung einschließlich der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbotes um eine gerichtlich voll kontrollierbare, gebundene Entscheidung, woran auch die Neufassung des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberecht und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 nichts geändert habe, da der Wortlaut des § 7 Abs. 2 FreizügG/EU in diesem Zusammenhang nicht verändert worden sei (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 50; VGH BW, U.v. 24.3.2016 – 11 S 992/15 – juris Rn. 23).
Bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Dauer der Befristung sind das Gewicht des Grundes der Verlustfeststellung und der mit ihr verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das die Verlustfeststellung rechtfertigt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Zweckes der Aufenthaltsbeendigung orientierende Höchstfrist muss sich dann in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 2, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 der EU-Grundrechte-Charta, Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. zu § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG: BVerwG, U. v. 10.7.2012 – 1 C 19/11 – juris Rn. 42).
Nimmt man den hohen Rang der durch das Verhalten des Klägers geschädigten und im Wiederholungsfall bedrohten Rechtsgüter und die oben dargelegte ungünstige Prognose in den Blick, so käme durchaus eine längere als die nunmehr verfügte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Dauer von acht Jahren in Betracht. Gleichwohl sind bei der Bemessung der Frist in der zweiten Stufe der langjährige – straffreie – Aufenthalt des Klägers und seine Bindungen im Bundesgebiet (die gesamte Familie des Klägers lebt im Bundesgebiet) reduzierend in den Blick zu nehmen. Dies zugrundegelegt ist die Befristung der Verlustfeststellung durch die Beklagte auf die Dauer von acht Jahren nicht zu beanstanden.
Einer künftigen positiven Entwicklung des Klägers im Sinne einer gefestigten Verhaltensänderung kann ggf. durch eine nachträgliche Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU Rechnung getragen werden (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – DVBl 2015, 780 Rn. 22 ff.).
III. Gegen die Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Nr. III und IV des Bescheids) bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken (§ 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Die Frist, das Bundesgebiet innerhalb von einem Monat nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu verlassen, erscheint angemessen.
IV. Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ZPO.


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