Verwaltungsrecht

Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei Wegfall des Schutzes des UNRWA

Aktenzeichen  M 22 K 14.30971

Datum:
18.8.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 133219
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 3 S. 2
Qualifikations-RL Art. 12 Abs. 1 lit. a

 

Leitsatz

1 Hat das Bundesamt einen Asylantrag in der Sache entschieden ohne sich auf die Unbeachtlichkeit zu berufen, bleibt bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für eine materiell-rechtliche Subsidarität des Flüchtlingsschutzes kein Raum mehr (BVerwG BeckRS 2012, 58532). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 § 3 Abs. 2 AsylG ist im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 lit. a Qualifikations-RL unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass bei Wegfall des Schutzes des UNRWA unter bestimmten Voraussetzungen ipso facto von einer Flüchtlingseigenschaft auszugehen ist, es dann folglich einer Prüfung des Abs. 1 des § 3 AsylG nicht mehr bedarf, und einer beantragten Zuerkennung in einem solchen Fall daher nur sonstige Ausschlussgründe entgegen gehalten werden könnten. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. August 2014 wird in den Nr. 1 und 5 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 18. August 2016 entschieden werden, obwohl die Beklagte zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen war. Denn in der Ladung, die der Beklagten am 1. August 2016 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt wurde, war darauf hingewiesen worden, dass bei Nichterscheinen eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die als Untätigkeitsklage erhobene Klage, die unter Einbeziehung des streitgegenständlichen Bescheids vom 27. August 2014 innerhalb offener Klagefrist als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage fortgeführt wurde, ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes ist – soweit angefochten – rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter entsprechender Aufhebung des entgegenstehenden Bescheids (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Die Beklagte ist zu Unrecht von einer Subsidarität der Flüchtlingszuerkennung wegen anderweitig erlangter Sicherheit vor Verfolgung ausgegangen. Ob ein Asylbewerber bereits in einem anderen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war, ist bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dem in § 29 AsylG umgesetzten unionsrechtlichen Konzept des ersten Asylstaats (Art. 33 und 35 der Richtlinie 2013/32/EU; vormals Art. 25 und 26 der Richtlinie 2005/85/EG) nur für die Beachtlichkeit des Asylantrags von Bedeutung. Hat das Bundesamt hingegen – wie vorliegend geschehen – in der Sache entschieden ohne sich auf die Unbeachtlichkeit zu berufen, bleibt bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für eine materiell-rechtliche Subsidarität des Flüchtlingsschutzes kein Raum mehr (vgl. BVerwG, U.v. 04.09.2012 – 10 C 13/11; überholt insoweit BVerwG U.v. 08.02.2005- 1 C 29.03).
2. Der Kläger hat als Mandatsflüchtling des UNRWA Anspruch auf die Anerkennung als Flüchtling, ohne dass es der Erfüllung der allgemeinen Flüchtlingsmerkmale des § 3 Abs. 1 AsylG bedarf.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention/ GFK), wenn er sich
a. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,
b. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
aa) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
bb) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurück-kehren will.
§ 3 Abs. 2 und 3 AsylG beinhalten ebenso wie § 3 Abs. 4 AsylG Ausschlussgründe, bei deren Vorliegen der Betroffene nicht als Flüchtling gilt bzw. von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgesehen wird, auch wenn die Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sein sollten.
Absatz 2 betrifft dabei Fälle, bei denen aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass der Antragsteller eine der dort aufgeführten Straftaten begangen hat (u.a. Kriegsverbrechen und schwere nichtpolitische Straftaten).
Nach Abs. 3 Satz 1 ist auch kein Flüchtling im Sinne des Absatz 1, wer den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR nach Art. 1 Abschnitt D GFK genießt. Die Regelung bezieht sich auf die Palästina-Flüchtlinge, die in Jordanien, Syrien, im Libanon und im Gaza-Streifen leben und von dem UNRWA betreut werden. Abs. 3 Satz 2 bestimmt, dass aber auch in Bezug auf diese Personengruppe die Abs. 1 und 2 des § 3 AsylG anwendbar sind – diese also Flüchtlinge im Sinne der GFK sein können –, wenn ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist.
Diese Regelung ist im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Qualifikationsrichtlinie wie auch deren Neufassung (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011) dabei unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass bei Wegfall des Schutzes des UNRWA unter bestimmten Voraussetzungen ipso facto von einer Flüchtlingseigenschaft auszugehen ist, es dann folglich einer Prüfung des Abs. 1 des § 3 AsylG nicht mehr bedarf, und einer beantragten Zuerkennung in einem solchen Fall daher nur sonstige Ausschlussgründe entgegen gehalten werden könnten (vgl. hierzu EuGH, U.v. 19.12.2012 – C-364/11 – juris; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Stand Jan. 2014, § 3 Rn. 17). Insbesondere kommt eine solche Beurteilung in Betracht (vgl. EuGH, U.v. 19.12.2012 Rn. 63), wenn der Betroffene das Einsatzgebiet des UNRWA gezwungenermaßen verlässt, was auch dann bejaht werden kann, wenn Anlass hierfür der Umstand ist, dass er sich in „einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dieser Organisation unmöglich ist, ihm in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe in Einklang stehen“.
Diese Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG sind vorliegend erfüllt: Das Gericht ist aufgrund der im Verfahren vorgelegten Bescheinigung des UNRWA und des detailreichen, substantiierten Vorbingens des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass es sich bei dem Kläger – ebenso wie bei seinem zunächst in Jordanien lebenden und deshalb dort von dem UNRWA registriertem Vater – um einen staatenlosen Palästinenser handelt, der unter dem Schutz des UNRWA stand und sich zuletzt langjährig in Syrien aufhielt. Da gegenwärtig ein faktisch verfolgungshindernder Schutz oder Beistand für palästinensische Flüchtlinge durch das UNRWA in Syrien offenkundig nicht gewährleistet ist und auch der Schutz des UNRWA in einem Nachbarstaat Syriens, insbesondere in Jordanien, für den Kläger faktisch nicht erreichbar ist (siehe hierzu neben den Erkenntnismitteln zur allgemeinen Situation in Syrien auch die Antwort der Bundesregierung vom 20.04.2016 auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten … … … … … … …, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Linke „Zur Situation des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten und der aus Syrien geflüchteten Palästinenserinnen und Palästinenser“ – BT-Drs. 18/8201 sowie UNRWA, FAQs und „Syria Regional Crisis Emergency Appeal“ und Deutsche Welle v. 06.04.2015: UNRWA „Jarmuk ist ein Höllenloch“ (Interview) sowie zur Frage der Schutzgewährung in Nachbarländern ACCORD, Anfragebeantwortung vom 13.05.2014 sowie Human Rights Watch vom 07.08.2014: „Jordanien: Aus Syrien fliehende Palästinenser abgewiesen“) ist nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG die Ausschlussklausel des Satzes 1 der Bestimmung nicht anwendbar.
Da auch keiner der übrigen Ausschlussgründe in § 3 Abs. 2 und § 3 Abs. 4 AsylG ersichtlich ist, lebt der dem Kläger in väterlicher Linie vererbte Flüchtlingsschutz für palästinensische Flüchtlinge folglich automatisch und ohne das Erfordernis einer erneuten Prüfung der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft (ipso facto) wieder auf, mit der Folge, dass dem Kläger auf seinen Antrag hin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu gewähren ist. Der Klage war daher unter entsprechender Aufhebung des entgegenstehenden Bescheids (Nr.1 und 5) stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vor-läufigen Vollstreckbarkeit des Kostenausspruchs folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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