Verwaltungsrecht

Verwaltungsgerichte, Abschiebungsverbot, Qualifikationsrichtlinie, Mitgliedstaaten, Erniedrigende Behandlung, Prozeßkostenhilfeantrag, Zusicherung, Höchstrichterliche Rechtsprechung, Untersuchungsgrundsatz, Bundsverwaltungsgericht, Überstellungsentscheidung, Kostenentscheidung, Rechtsprechung des EGMR, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Rückführung, Schutzberechtigter, Grundsatzrüge, Außergewöhnliche Umstände, Nationales Recht, Zulassungsantrag

Aktenzeichen  23 ZB 19.30405

Datum:
1.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 7443
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1 und 3
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Verfahrensgang

B 8 K 18.30983 2019-01-18 GeB VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts ist unbegründet, da die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 VwGO) nicht vorliegt.
Die Beklagte wirft in ihrem Zulassungsantrag die Frage auf,
ob es im Rahmen des asylrechtlichen Verfahrens bei im Sinne der sog. Tarakhel-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als problematisch eingestuften Verhältnissen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, der Zielstaat der Überstellung ist, für den Erlass der Überstellungsentscheidung einer einzelfallbezogenen von diesen Mitgliedstaat abzugebenden Zusicherung bezüglich adäquater (Wieder-)Aufnahmebedingungen bedarf
und
welche Mindestanforderungen eine solche Zusicherung erfüllen muss
sowie die Tatsachenfrage,
ob die durch Griechenland mit Schreiben vom 8. Januar 2018 abgegebene Erklärung diese Mindestanforderungen erfüllt.
Die von der Beklagten aufgeworfenen Fragen können anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung beantwortet werden und sind folglich nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Was die Beklagte bei einer Rückführung eines Flüchtlings in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union im Hinblick auf Art. 3 EMRK zu beachten hat, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Gerichtshofs der Europäischen Union, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts geklärt (so auch BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 20 ZB 19.31553 – juris; B.v. 24.6.2019 – 20 ZB 19.31555; B.v. 18.6.2019 – 20 ZB 18.33154; B.v. 6.6.2019 – 20 ZB 19.30505).
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 EMRK auch durch den rückführenden Staat darstellen – und somit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründen – kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 EMRK verstoßende Bedingungen herrschen, mithin der Flüchtling einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S. gg. Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413, vgl. auch BVerfG, B.v. 31.7.2018 – 2 BvR 714/18 – NVwZ-RR 2019, 209).
Das setzt allerdings voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere („minimum level of severity“) erreicht wird. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist nach der Rechtsprechung des EGMR, der das Bundesverwaltungsgericht folgt (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – NVwZ 2019, 61 m.w.N. zur Rechtsprechung von EuGH und EGMR), relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenden körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen. Ein derartiger Schweregrad kann demnach erreicht sein, wenn der Betroffene seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält.
Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61).
Auch in seiner Entscheidung vom 19. März 2019 – C-163/17 – (EuGRZ 2019, 230) zum Vorliegen einer Verletzung des Art. 3 EMRK bei Abschiebung von Asylantragstellern aufgrund der Lebensbedingungen für die Betroffenen in EU-Mitgliedstaaten bestätigt der EuGH (GK) diese Rechtsprechung („extreme materielle Not“). Demnach führen zwar nach den Maßgaben der Inländergleichbehandlung grundsätzlich weder große Armut noch eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse zu einer Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK infolge der Abschiebung. Auch das Fehlen der Rückgriffsmöglichkeit für den Betroffenen auf familiäre Strukturen und Solidarität – wie sie für Angehörige des Mitgliedstaates regelmäßig bestehen dürften – ist kein Grund für eine derartige Annahme. Nach dieser Rechtsprechung rechtfertigt auch weder ein fehlender Zugang zu Integrationsprogrammen noch bessere Sozialhilfestandards oder Lebensbedingungen im überstellenden Mitgliedstaat die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK (EuGH GK, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – EuGRZ 2019, 230 insbes. Rn. 92 ff.). Möglich ist aber der Nachweis durch den Betroffenen, dass in seiner Person außergewöhnliche Umstände vorliegen, so dass er sich nach Gewährung internationalen Schutzes aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH a.a.O. Rn. 95).
Für die Prüfung, ob im Einzelfall das dargestellte Mindestmaß an Schwere erreicht ist und daher die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen, ist nach § 24 Abs. 2 und § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG das Bundesamt zuständig. Aus dem Untersuchungsgrundsatz des § 24 Abs. 1 AsylG ergibt sich, dass das Bundesamt den Sachverhalt klärt und die erforderlichen Beweise erhebt. Für das hier relevante Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bedeutet dies, dass alle für die Beurteilung des Vorliegens einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung relevanten Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung zu ermitteln und zu würdigen sind. Dafür ist unter anderem auch von Bedeutung, ob der rückkehrende Ausländer eine Unterkunft finden kann (BVerwG, B.v. 21.8.2018 – 1 B 40.18 – juris Rn 14).
Das Verwaltungsgericht war unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe der Ansicht, dass die Rückführung des Klägers, allerdings ohne Würdigung der Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61), eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle, weil keine Feststellungen zu konkreten Integrationsmaßnahmen gemäß Art. 34 der RL 95/2011/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikations-/Anerkennungsrichtlinie) getroffen worden seien. Darüber hinaus sei die Versorgung mit Wohnraum so defizitär, dass angesichts der lediglich zur Verfügung stehenden 63.700 Plätze keinesfalls alle Asylsuchenden und anerkannten „international Schutzberechtigten“ eine Unterkunft finden könnten.
Ob diese Einschätzung des Verwaltungsgerichts zutreffend ist, kann hier dahin gestellt bleiben, weil sie durch die Grundsatzrüge der Beklagten nicht in Frage gestellt wird.
Insoweit ist die von der Beklagten aufgeworfene Frage zweideutig, denn die Klärung problematisch eingestufter Verhältnisse im Zielstaat der Rückführung ist gerade ihre Aufgabe und gegebenenfalls die der Gerichte. Entweder liegen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor oder nicht. Bei der Klärung dieser Frage mag die von der Beklagten angeführte allgemeine Zusicherung des griechischen Innenministeriums (Hellenic Republic, Ministry for Migration Policy, General Secretariat of Migration Policy, Ref. No. 006/080118) vom 8. Januar 2018 ein Indiz dafür sein, dass die Anforderungen an die Aufnahmebedingungen nach Art. 3 EMRK weitgehend erfüllt sind. Eine abschließende Beantwortung dieser Frage ist allerdings allein aufgrund dieser Zusicherung nicht möglich. Für das Verwaltungsgericht war jedenfalls auch ausschlaggebend, dass dem Kläger in Griechenland die Obdachlosigkeit drohte.
Im vorliegenden Verfahren geht es aber, auch wenn die aufgeworfenen Fragen diese Thematik betreffen, nicht um die Einholung einer Zusicherung, sondern allgemein um die Verfügbarkeit einer Unterkunftsmöglichkeit. Hierbei handelt es sich um eine zielstaatsbezogene Tatsache, die, wie ausgeführt, das Bundesamt aufzuklären hat. In diesem Zusammenhang kann es gegebenenfalls auch zu der Feststellung gelangen, dass es zur Beseitigung eines ansonsten bestehenden Abschiebungsverbots einer konkreten Zusicherung bedarf, um den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen. Etwas anderes gilt nur für Umstände, die Gefahren betreffen, die sich im Einzelfall im Zusammenhang mit der Durchführung einer Abschiebung ergeben. Hierzu zählt jedoch die Frage, ob Flüchtlinge im Zielstaat Obdach finden können (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61 = juris Rn. 15) nicht.
Dass die Erklärung des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 nicht als konkrete Zusicherung im Sinne der Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 – (NVwZ 2017, 1196) und vom 31. Juli 2018 – BvR 714/18 – (NVwZ-RR 2019, 209) verstanden werden kann, ergibt sich bereits aus ihrem Wortlaut und bedarf keiner Klärung in einem Berufungsverfahren. Denn sie beschränkt sich auf die Feststellung, dass die Qualifikationsrichtlinie in nationales Recht umgesetzt worden sei und sichert eine richtlinienkonforme Behandlung der Rückkehrer zu. Eine – im Sinn der dargestellten Rechtsprechung bei Bestehen eines Abschiebungsverbotes notwendige – Einzelfallregelung wird darin jedenfalls nicht getroffen.
Soweit die Beklagte darauf verweist, dass bei von Rechtsstaaten abgegebenen Zusicherungen nach der Rechtsprechung des EGMR abgesenkte Anforderungen gelten und sich dazu auf dessen Entscheidung vom 4. Oktober 2016 – 30474/14, Jihana Ali and others against Switzerland and Italy – (juris) bezieht, trägt diese Argumentation schon deshalb nicht, weil Italien dort Garantieerklärungen für die Zuweisung einer Unterkunft bei Überstellung von Rückkehrerfamilien abgegeben hatte, Griechenland in der Erklärung vom 8. Januar 2018 hingegen lediglich darauf verweist, EU-Recht in nationales Recht umgesetzt zu haben und zurückkehrende Flüchtlinge entsprechend der Qualifikationsrichtlinie zu behandeln. Beides ist nicht vergleichbar (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 20 ZB 19.31553 – juris Rn. 21).
Angesichts des Verfahrensausgangs zugunsten des Klägers und der Unanfechtbarkeit der Entscheidung ist eine Entscheidung über den gestellten Prozesskostenhilfeantrag entbehrlich.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.


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