Verwaltungsrecht

Verwaltungsgerichte, Flüchtlingseigenschaft, Verfolgungshandlung, Prozeßbevollmächtigter, Rechtsmittelbelehrung, Subsidiärer Schutzstatus, Beachtliche Wahrscheinlichkeit, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Klagefrist, Erlittene Vorverfolgung, mündlich Verhandlung, Erniedrigende Behandlung, Wiedereinsetzungsgrund, Verfolgungsgrund, Prozeßkostenhilfeverfahren, Beweiserleichterung, Rechtsbehelf, Ausreisefrist, Kostenentscheidung, Behördenakten

Aktenzeichen  M 4 K 17.47765

Datum:
3.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 3492
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3d Abs. 2, § 3e Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Mai 2017 wird in den Nrn. 2. – 5. aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägerinnen subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerinnen 2/3, die Beklagte 1/3.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.   

Gründe

Der zulässigen Klage war teilweise stattzugeben.
I.
Die Klage ist zulässig.
Die beim Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg am 1. August 2017 erhobene Klage wahrt die Klagefrist. Die Klagefrist beträgt in Asylstreitigkeiten zwar grundsätzlich zwei Wochen nach Bescheidzustellung (§ 74 Abs. 1 Satz 1, 1. HS AsylG). Die Klagefrist wurde jedoch – selbst bei Annahme einer ordnungsgemäßen Zustellung an die Klägerinnen am 11. Mai 2017 nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG – wegen einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung:nicht in Gang gesetzt, § 58 Abs. 1 VwGO.
Die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf beginnt nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist, § 58 Abs. 1 VwGO. Eine Rechtsmittelbelehrung, die über die Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage belehrt, ist nur dann „richtig“ i. S. d. § 58 Abs. 1 VwGO, wenn das sachlich und örtlich zuständige Gericht benannt wird. Eine Rechtsmittelbelehrung, in der ein örtlich unzuständiges Gericht angegeben wird, setzt die Klagefrist (…) nicht in Lauf (vgl. BVerwG, B.v. 18.05.2009 – 5 B 2/09 – BeckRS Rn. 5 m.w.N.).
Örtlich zuständiges Gericht für einen Rechtsbehelf gegen den streitgegenständlichen Bescheid war angesichts des Zuweisungsbescheids der Regierung von Oberbayern vom 20. Februar 2017 das Bayerische Verwaltungsgericht München, § 52 Nr. 2 Satz 3, 1. HS VwGO i.V.m. Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 AGVwGO Bayern. Die Rechtsbehelfsbelehrung:war demnach fehlerhaft, so dass nicht die zweiwöchige Frist nach § 74 ABs. 1 Satz 1 AsylG, sondern die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 Satz 1, 1. HS VwGO maßgeblich ist. Die Jahresfrist ist offensichtlich eingehalten.
II.
Die Klage ist teilweise begründet.
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist nur hinsichtlich Ziffer 1 rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen insoweit nicht in ihren Rechten, da ihnen kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht. Hinsichtlich der Ziffern 2. bis 5. des Bescheids ist der Bescheid jedoch rechtswidrig und daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 und 5 VwGO. Die Klägerinnen haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG).
1. Die Klägerinnen haben zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
1.1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist – unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben – Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt ist. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer Verfolgungshandlungen aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 19). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen. Auch eine kriminelle Verfolgung muss an ein in § 3 AsylG genanntes Merkmal anknüpfen, um als politische Verfolgung gelten zu können (vgl. OVG NRW, U.v. 28.3.2014 – 13 A 1305/13.A – juris Rn. 21 ff.).
Eine Verfolgung kann dabei gem. § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen, § 3e AsylG.
Maßgeblich ist, ob der Asylsuchende bei Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wäre, wobei auf den Sachstand im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abzustellen ist, § 77 Abs. 1 AsylG. Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 337, S. 9-26) – sog. Qualifikationsrichtlinie – privilegiert dabei den von ihm erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 23).
Der die Flüchtlingsanerkennung Begehrende hat aufgrund seiner Mitwirkungspflicht seine Gründe für eine begründete Furcht vor Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, U.v. 24.03.1987 – 9 C 321/85 – juris Rn. 9; B.v. 26.10.1989 – 9 B 405/89 – juris Rn. 8).
1.2. Nach diesen Grundsätzen droht den Klägerinnen bei einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund einer der in § 3 AsylG aufgezählten Anknüpfungsmerkmale.
Das Gericht bezweifelt hinsichtlich der Klägerin zu 1) nicht das Vorliegen einer konkreten und ausreichend intensiven Vorverfolgung durch den Ex-Mann. Ebenso ist das Gericht nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass beiden Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgungshandlungen im Sinne des 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG durch den Ex-Mann bzw. Vater drohen.
Das Gericht geht jedoch nicht von einer Verfolgungshandlung auf Grund eines enumerativ aufgezählten Verfolgungsgrundes nach § 3b Abs. 1 AsylG aus.
Verfolgungsgründe nach § 3b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AsylG kommen angesichts des Vortrags der Klägerin zu 1) bereits nicht in Betracht.
Die Klägerinnen gehören auch nicht zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Das externe Merkmal nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG setzt voraus, dass die Gruppe aufgrund ihres internen Merkmals (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 a) AsylG) als solche innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft bestimmbar ist und eine fest umrissene Identität aufweist. Die Gruppe muss von der sie umgebenden Gesellschaft deutlich abgegrenzt sein (vgl. Marx, AsylG, 9. Aufl., § 3b Rn. 21). Das selbständige Erfordernis der „deutlich abgegrenzten Identität“ schließt jedenfalls eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG/Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von Verfolgungshandlungen betroffen wird. Nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut greift auch § 3b Abs. 2 AsylG/Art. 10 Abs. 2 RL 2011/95/EU erst bei der zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einem der im jeweiligen Absatz 1 genannten Verfolgungsgründe, nicht für die Konstitution der „sozialen Gruppe“ selbst (BVerwG, B.v. 17.09.2018 – 1 B 45/18 – juris Rn. 10).
Die Gruppe der Frauen, die Opfer von familiärer Gewalt sind, haben im Irak keine deutlich abgrenzbare Identität und ihr wird auch keine solche deutlich abgegrenzte Identität zugeschrieben, da die betroffenen Frauen von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als andersartig und „gesellschaftlicher Fremdkörper“ betrachtet werden (VG Göttingen, U.v. 21.04.2020 – 2 A 917/17 – juris Rn. 28; VG Karlsruhe, U.v. 19.07.2019 – A 10 K 15283/17 – juris Rn. 27; VG Bremen, U.v. 26.8.2020 – 5 K 54/18 – juris Rn. 3; a.A.: VG Berlin, U.v. 22.05.2018 –25 K 22.17 A – juris Rn. 22).
Gegen die Annahme einer abgrenzbaren sozialen Gruppe von Frauen, die häuslicher Gewalt ausgeliefert sind, sprechen gesetzessystematische Gründe, weil ansonsten Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund in unzulässiger Weise miteinander vermischt werden und das externe Tatbestandsmerkmal des § 3b Abs. 4 b) AsylG vernachlässigt wird. Grund für die Abgrenzung der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen von den Frauen innerhalb einer Gesellschaft insgesamt ist die gesellschaftlich verbreitete und akzeptierte Diskriminierung von Frauen im gesamten Gesellschafts- und Rechtssystem eines Staates. Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt werden, werden erst durch diese Gewalt zu einer „sozialen Gruppe“ und damit als solche konstituiert (VG Cottbus, U.v. 18.08.2020 – 9 K 1502/19.A – juris Rn. 22; vgl. auch: OVG NRW, B.v. 18.01.2012 – 13 A 39/12.A – juris Rn. 14). Auch den vorliegenden Erkenntnismitteln lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, das von häuslicher Gewalt betroffene Frauen wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als gesellschaftlicher Fremdkörper betrachtet werden.
Die Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG liegen hinsichtlich der Gruppe der geschiedenen bzw. wiederverheirateten Frauen im Irak zwar vor. Ob für geschiedene bzw. wiederverheiratete Frauen im Irak die Voraussetzungen nach § 3b Abs. 1 Nr. 4b) AsylG vorliegen, kann wegen der Überlegungen im folgenden Absatz im vorliegenden Fall dahinstehend. Jedenfalls bezweifelt das Gericht, dass geschiedene Frauen überhaupt als Fremdkörper in der Gesellschaft wahrgenommen werden, da im Fall der Klägerin zu 1) ihre Scheidungen im Jahr 2004 und 2014 weder ihrer beruflichen, nebenberuflichen, noch ihrer politischen Karriere schadete und sie weiterhin die Unterstützung ihrer Familie genoss und einen weiteren Ehemann fand. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes ist das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen nicht offen repressiv und die geschiedenen Frauen werden üblicherweise in ihre Familie wiedereingegliedert (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 2.3.2020, S. 15). Eine von fünf irakische Ehen wurde zwischen 2004 und 2014 geschieden. Eine gut ausgebildete Frau mit eigenem Einkommen, die in der Stadt lebt, kann nach den Erkenntnismitteln in der Lage sein, allein zu leben, solange sie keinen Ehrenkonflikt mit ihrer Familie hat; aber eine Verschlechterung der finanziellen Lage, gepaart mit den gesellschaftlichen Restriktionen, denen die Frauen im Irak ausgesetzt sind, haben die Möglichkeit der Frauen auf ein eigenständiges Leben eingeschränkt (EASO, Informationsbericht Irak: Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 186). Nach der Erkenntnismittellage, vor allem der hohen Anzahl an geschiedenen Ehen, ist daher fraglich, ob die großstädtische Schicht mit hoher Bildung in der irakischen Gesellschaft, in der sich die Klägerinnen und der Ex-Mann bewegen, geschiedene Frauen noch als „Fremdkörper“ wahrnehmen.
Selbst bei Annahme der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe von geschiedenen Frauen nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, liegt vorliegend zwischen den geltend gemachten Verfolgungshandlungen durch den Ex-Mann und der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe keine Verknüpfung vor. Zwischen den in § 3 Abs. 1 und § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss, wie § 3a Abs. 3 AsylG klarstellt, eine Verknüpfung bestehen (BVerwG, B.v. 05.12.2017 – 1 B 131/17 – juris Rn. 10). Erforderlich ist ein gezielter Eingriff in ein asylrechtlich geschütztes Rechtsgut. Die Zielgerichtetheit bezieht sich dabei nicht nur auf die durch die Handlung bewirkte Rechtsgutsverletzung selbst, sondern auch auf die Verfolgungsgründe, an die die Handlung anknüpfen muss. Maßgebend ist im Sinne einer objektiven Gerichtetheit die Zielrichtung, die der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt, nicht hingegen die subjektiven Gründe oder Motive, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerwG, U.v. 04.07.2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 13; B.v. 19.01.2009 – 10 C 52.07 – juris Rn. 22, 24).
Vom Ex-Mann geht nicht erst seit ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der geschiedenen Frauen – soweit man eine solche annimmt – Verfolgungshandlungen gegenüber der Klägerin zu 1) aus, sondern ausweislich der Ausführungen der Klägerin zu 1) wurde dieser bereits während der Ehezeit ihr gegenüber gewalttätig und bedrohte sie auch in dem Zeitraum zwischen 2007 und 2014, in dem er sich nicht von der Klägerin scheiden lassen wollte, um diese an ihrer Lebensführung zu behindern. Daher ist eine Zielgerichtetheit der Verfolgungshandlungen des Ex-Mannes der Klägerin zu 1) gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der geschiedenen Frauen nicht gegeben. Andere Verfolgungshandlungen, die der im innerirakischen Vergleich gut gebildeten und wirtschaftlich wohl situierten Klägerin aufgrund ihres Status als Geschiedene drohen könnten, sind nicht geltend gemacht oder ersichtlich. Die Bedrohungen durch den Ex-Mann liegen vielmehr auch nach Ansicht des Gerichts in der privaten Beziehung zwischen dem Ex-Mann und der Klägerin zu 1), ggfls. ergänzt durch einen psychisch bedingten Zwang des Ex-Mannes, nicht von der Klägerin zu 1) loslassen zu können bzw. ihr weiterhin das Leben zu erschweren. Solche langwierigen Trennungsfälle, in denen selbst Jahre nach der Trennung noch starke Kontrollimpulse eines Partners bestehen, sind nicht nur mit einem männlichen Dominanzanspruch und einer patriarchalischen Gesellschaft im Irak oder anderen Herkunftsländern zu erklären, sondern liegen ebenso in der psychischen Verfasstheit von Einzelpersonen, wie sich beispielsweise aus der nicht grundlosen Verschärfung des Strafrechts in Deutschland durch die Einfügung des § 238 StGB ersehen lässt. Das Gericht erkennt nichtsdestotrotz an, dass patriarchalische und ehrbasierte Gesellschaftsstrukturen solche psychischen Verfasstheiten unterstützen und daher ein genaues Differenzieren in jedem Einzelfall notwendig ist. Angesichts der in der mündlichen Verhandlung genauer dargelegten Beziehungshistorie geht das Gericht nach der mündlichen Verhandlung im vorliegenden Fall jedoch nicht von einer Verknüpfung der drohenden Verfolgungshandlungen mit der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der geschiedenen Frauen aus.
Eine Verfolgung auf Grund der politischen Einstellung der Klägerin zu 1) ergibt sich weder aus ihrem Vortrag noch den Erkenntnismitteln. Soweit die Klägerin zu 1) auf ihre Verbindungen zur Goran-Partei Bezug nimmt, sind Verfolgungshandlungen deshalb nicht vorgetragen oder nach den aktuellen Erkenntnismitteln ersichtlich.
2. Die Klägerinnen haben einen Anspruch auf die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Es liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass den Klägerinnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Als ernsthafter Schaden gilt hierbei eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.
Nach der durch die Aktenlage und der Anhörung der Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung des Gerichts droht den Klägerinnen bei Rückkehr in den Irak eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch den Ex-Mann der Klägerin zu 1) bzw. den Vater der Klägerin zu 2).
2.1. Hinsichtlich der Klägerin zu 1) ergibt sich dies aus der bereits erlittenen Vorverfolgung durch den Ex-Mann im Irak. Die körperlichen Misshandlungen durch den (oftmals alkoholisierten) Ex-Mann während der Ehezeit sowie die Todesdrohungen, den Anschlag vom 10. August 2016 und die späteren Drohungen gegen den neuen Ehemann der Klägerin zu 1) stellen auch – entgegen der Ansicht der Beklagten – ausreichend intensive, ein Mindestmaß an Schwere erreichende Misshandlungen dar, so dass eine Verletzung der Recht aus Art. 3 EMRK für die Klägerin zu 1) vor ihrer Ausreise vorlag.
Stichhaltige Gründe, die die Wiederholungsträchtigkeit des Eintritts eines solchen Schadens im Fall einer Rückkehr der Klägerin zu 1) in den Irak entkräften, sind nicht ersichtlich, Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EG. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass der Ex-Mann die Klägerin zu 1) nach einer erfolgten Scheidung vom aktuellen Ehemann in Ruhe lassen wird. Dagegen spricht zum einen, dass der Ex-Mann die Klägerin zu 1) auch nach den Trennungen im Jahr 2004 und im Jahr 2007 nicht unbehelligt ließ, sondern weiter erheblich gegen die Klägerin zu 1) gerichtetes Verhalten erkennen ließ. Weiter drohte der Ex-Mann nach den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1) im Rahmen der Vermittlungsversuche gegenüber ihrem Bruder, dass er die Klägerin zu 1) töten werde, egal was passiere. Hintergrund ist, dass die Klägerin zu 1) sich neu verheiratet habe, was der Ex-Mann nicht akzeptieren konnte und als derart ehrverletzend wahrnahm, dass eine (gerade bei Gericht anhängigen) Scheidung der Klägerin zu 1) von ihrem neuen Ehemann die Ehrverletzung nicht wieder gut machen kann. Diese Haltung entspricht ohne weiteres dem Bild des Ex-Mannes, der bereits in den beiden Ehezeiten mit der Klägerin zu 1) stark übergriffig wurde und einen männlichen Dominanzanspruch über die weiblichen Familienmitglieder vorgibt innezuhaben.
2.2. Hinsichtlich der Klägerin zu 2) ist nicht von einer Vorverfolgung auszugehen. Die zwei Schüsse auf das Auto der Klägerin zu 1) am 10. August 2016 stellen für sich alleine genommen keine ausreichend ernsthafte Gefahr dar. Allerdings gab die Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung an, dass sie bereits als junges Kind vor ihrer Ausreise aus dem Irak mitansehen musste, wie ihr Vater ihre älteren Geschwister körperlich misshandelte, wenn er alkoholisiert war oder die Klägerin zu 2) oder ihre Geschwister ihn verärgert hatten. Da die Klägerin zu 2) inzwischen dreizehneinhalb Jahre alt ist, ist davon auszugehen, dass ihr Vater sein Erziehungsrecht an der Tochter – wie früher an den älteren Geschwistern der Klägerin zu 2) – mithilfe körperlicher Gewalt umsetzen wird. Anders als die bereits verheiratete ältere Schwester und dem bereits volljährigen Bruder der Klägerin zu 2) steht die Klägerin zu 2) aktuell in ihren Jugendjahren und ist noch auf die Erziehung und Unterstützung von Erwachsenen angewiesen. Es ist zur Überzeugung des Gerichts daher davon auszugehen, dass der Vater der Klägerin zu 2) – wie bereits vor der Ausreise der Klägerinnen aus dem Irak – Umgangsrechte mit der Klägerin zu 2) wahrnehmen möchte und die Klägerin zu 1) ihn aufgrund des die Frauen benachteiligenden Familienrechts nicht daran hindern können wird. Anhaltspunkte für den Willen des Ex-Mannes, einen Umgang mit der Klägerin zu 2) zu haben, liefern die Angaben der Familie in der ärztlichen Diagnose der … vom … 2018. Weiter ist das Gericht davon überzeugt, dass der Vater der Klägerin zu 2) seine traditionellen, patriarchalischen Vorstellungen hinsichtlich des Verhaltens von Frauen in der irakischen Gesellschaft, die aus seinen Handlungen gegen der Klägerin zu 1) ersichtlich werden, auch bei der Erziehung der Klägerin zu 2) durchsetzen wird, was in Anbetracht der Drohung von Misshandlungen bei einer fehlenden Unterwerfung der Klägerin zu 2) unter die Vorstellungen ihres Vaters eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellt. Mit körperlichen Züchtigungen und Zwangsheirat noch als Jugendliche ist zu rechnen (EASO, Informationsbericht Irak: Gezielte Gewalt gegen Individuen, S. 179 f.). Im Ergebnis ist bei einer Rückkehr in den Irak davon auszugehen, dass auch der Klägerin zu 2) durch ihren Vater die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung droht.
2.3. Der Ex-Mann der Klägerin zu 1) bzw. Vater der Klägerin zu 2) stellt nach § 3c Nr. 3 i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG ein nichtstaatlicher Akteur dar, vor dem der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der tatsächlichen Gefahr zu bieten. Ausweislich der Erkenntnismittel werden familiäre Streitigkeiten von den Sicherheitskräften sowie von der Justiz – insbesondere bei Strafanzeigen und Antragstellungen von Frauen – nicht bearbeitet, sondern als familienintern zu klärende Streitigkeiten angesehen (EASO, Informationsbericht Irak: Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 175 ff., 181 ff.). Weiter ist – selbst bei Aufnahme einer Strafanzeige bzw. einer Klage – aufgrund der chronischen Korruption und Vetternwirtschaft im Irak die Rechtdurchsetzung stark von der Position des Angeklagten abhängig (EASO, Informationsbericht Irak: Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 178 ff., 183 f.). Von daher kann es – je nach Position der Person, vor der Schutz gesucht wird, als auch je nach Schwere und Art des Vorwurfs des Schutzsuchenden – der Zugang zu Schutz nach § 3d Abs. 1 und 2 Satz 1 AsylG im Irak nicht gegeben seien.
Vorliegend konnte die Klägerin zu 1) in ihren Anhörungen beim Bundesamt und bei der mündlichen Verhandlung übereinstimmend mit ihrem Sohn glaubhaft darlegen, dass eine Strafanzeige bei der Polizei gegen den Ex-Mann der Klägerin zu 1), der hochrangiger Offizier beim Peschmerga und bei den Grenzschutzbehörden tätig ist und aufgrund seiner Clanzugehörigkeit enge Verbindungen zum Polizeichef in … aufweist, nicht bearbeitet bzw. die Lage für die Klägerinnen nur verschlimmern würde. Zudem ist zu beachten, dass die Klägerin zu 1) als geschiedene bzw. alleinstehende, aus irakischer Sicht emanzipierte Frau, die zudem journalistisch und politisch in der Gorran-Partei aktiv war, voraussichtlich bereits aus diesen kumulativ zu beachtenden persönlichen Gründen ein wirksamer Schutz durch die Sicherheitskräfte im noch sehr patriarchalisch eingestellten Irak entzogen wird. Ein Schutz vor dem Ex-Mann bzw. Vater der Klägerinnen ist durch den irakischen Staat und möglicher anderer Schutzakteure nicht zu erreichen.
2.4. Den Klägerinnen steht die Möglichkeit, internen Schutz in einem anderen Gebiet im Irak zu erlangen, nicht zu, § 3e AsylG. Es ist nicht ersichtlich, dass die Klägerinnen sich der Verfolgung des Ex-Mannes bzw. Vaters im Irak durch Umzug in eine sichere Region entziehen könnten. Als Umzugsgebiet kommt aufgrund der kurdischen Ethnie und Sprache der Klägerinnen lediglich die Autonome Region Kurdistan in Betracht. Innerhalb der Autonomen Region Kurdistan ist davon auszugehen, dass der Ex-Mann der Klägerin zu 1) die Klägerinnen ausfindig machen können wird. Dies liegt zum einen an seinem hohen Rang im Peschmerga und seiner Stammeszugehörigkeit, die ihm Verfolgungsmöglichkeiten über diese Verbindungen ermöglicht. Das große Interesse des Ex-Mannes an dem Auffinden der Klägerinnen wurde bereits weiter oben dargelegt. Weiter ist die Klägerin zu 1) als journalistisch tätige Lehrerin, die u.a. im Bildungsministerium arbeitete und für die Gorran-Partei kandidierte im Vergleich zu anderen irakischen Frauen zwar in der Lage, ihren Lebensunterhalt ohne Unterstützung ihrer Fmailie zu verdienen; allerdings geht mit dieser Art des Broterwerbs auch eine exponierte Stellung in der Gesellschaft einher, die zu einer erleichterten Auffindbarkeit der Klägerinnen durch den Ex-Mann/Vater führt. Der ihnen drohenden Gefahr können die Klägerinnen mithin nach Überzeugung des Gerichts nicht durch einen zumutbaren Umzug innerhalb des Iraks begegnen, § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
3. Im Ergebnis steht den Klägerinnen ein Anspruch auf die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus zu, § 4 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Nr. 2 AsylG. Der Bescheid war daher in den Ziffern 2. bis 5. rechtswidrig, verletzte die Klägerinnen in ihren Rechten und musste insoweit aufgehoben werden, § 113 Abs. 5 VwGO.
4. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerinnen 2/3 und die Beklagte 1/3, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
5. Die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach den § 167 Abs. 1 S. 1 VwGO i.V.m. §§ 108 ff., 708 Nr. 11, Var. 2, 711 ZPO.


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