Verwaltungsrecht

Vorläufige Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft

Aktenzeichen  M 22 E 17.3770

Datum:
23.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 123 Abs. 1 S. 2
LStVG LStVG Art. 6, Art. 7 Abs. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

Es ist aus sicherheitsrechtlicher Sicht nicht zu prüfen, ob und inwieweit der Zustand der Obdachlosigkeit auf einem Verschulden des Betroffenen beruht (vgl BayVGH BeckRS 2015, 54329 Rn. 2). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller zur Behebung seiner Obdachlosigkeit ein Einzelzimmer in einer Unterkunft zuzuweisen und ihm vorläufig bis einschließlich 23. Oktober 2017 zur Verfügung zu stellen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wurde durch Urteil des Landgerichts … vom 24. Juni 1998 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Der Maßregelvollzug wurde durch das Landgericht … am 5. November 2013 zur Bewährung ausgesetzt. Zu Beginn des Jahres 2016 bezog der Antragsteller eine Übergangswohngruppe des Trägers … … im Gemeindegebiet des Antragsgegners. Diese Wohngruppe musste der Antragsteller am 7. August 2017 verlassen, da er die Entbindung von der Schweigepflicht der für ihn zuständigen Betreuerin widerrief.
Der Antragsgegner, an den sich die für den Antragsteller zuständige Sozialpädagogin gewandt hatte, lehnte eine Unterbringung des Antragstellers im Rahmen der Obdachlosenfürsorge ab (zuletzt mit E-Mail vom 8.8.2017). Der Antragsteller ist seit seinem Auszug aus der Wohngruppe vorübergehend bei seinen Eltern untergekommen.
Mit am … August 2017 bei Gericht eingegangenen Schreiben beantragte der Antragsteller sinngemäß, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ein Einzelzimmer oder eine Sozialwohnung zuzuweisen und zur Verfügung zu stellen.
Zur Begründung trägt der Antragsteller vor, er sei obdachlos und verfüge mit Ausnahme der Grundsicherung über keinerlei finanzielle Mittel. Er habe dringende Arztbesuche in … und im Landkreis … Der Antragsteller legte eine fachärztliche Stellungnahme vor, aus der diverse diagnostizierte Krankheitsbilder (u.a. paranoide Schizophrenie und multipler Substanzmissbrauch) und die medizinische Indikation einer Unterbringung in einem Einzelzimmer hervorgehen.
Seine betreuende Sozialpädagogin entband der Antragsteller mit Schreiben vom … August 2017 von ihrer Schweigepflicht. Nach telefonischer Auskunft der Sozialpädagogin sei ein weiteres Unterkommen bei den Eltern auch vorübergehend nicht möglich, da sich der Antragsteller aufgrund einer Bewährungsauflage nur am Wochenende bei den Eltern aufhalten dürfe, da die Mutter Opfer einer Straftat des Antragstellers sei. Er bemühe sich sowohl privat als auch mit Hilfe des Sozialamtes bislang erfolglos um eine eigene Wohnung bzw. ein Pensionszimmer.
Der Antragsgegner beantragte mit Schriftsatz vom 18. August 2017, den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führt der Antragsgegner aus, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller nicht weiterhin bei seinen Eltern bleiben könne. Er sei in der Lage, sich mit Hilfe des Sozialleistungsträgers eine angemessene Unterkunft zu beschaffen, da er bereits eine Grundsicherung beziehe. Der Antragsteller habe die Obdachlosigkeit durch sein eigenes Verhalten herbeigeführt, da er aufgrund des Widerrufs der Entbindung von der Schweigepflicht aus der Übergangsgemeinschaft ausziehen musste. Auch habe er in der Folge ein Wohnungsangebot in … ohne erkennbaren Grund abgelehnt. Zudem sei der Antragsteller aufgrund seines problematischen Sozialverhaltens und seiner psychischen Erkrankungen nicht unterbringungsfähig. Vielmehr bedürfe es einer speziellen Betreuung, die der Antragsgegner im Rahmen der sicherheitsrechtlichen Maßstäbe nicht leisten könne. Schließlich stehe dem Antragsteller auch kein Einzelzimmer zu, da die Antragsgegnerin im Rahmen der Obdachlosenunterbringung lediglich eine den Mindestanforderungen genügende Unterkunft zur Verfügung stellen müsse. Über die bloße Gefahrenabwehr hinausgehende Ansprüche habe der Antragsgegner nicht zu erfüllen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus sonstigen Gründen nötig erscheint. Dabei hat der Antragsteller sowohl den (aus dem streitigen Rechtsverhältnis abgeleiteten) Anspruch, bezüglich dessen die vorläufige Regelung getroffen werden soll (Anord-nungsanspruch), wie auch die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungs-grund) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Maßgeblich für die Beurteilung sind dabei die rechtlichen und tatsächlichen Ver-hältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
2. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung liegen hier vor.
2.1 Der Antragsgegner hat als örtlich zuständige Sicherheitsbehörde (Art. 6 LStVG) die Aufgabe der Gefahrenabwehr. Hierzu zählt auch die Beseitigung einer – unfrei-willigen – Obdachlosigkeit (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.1995 – 4 CE 95.1023 – BayVBl 1995, 729), wobei ein Tätigwerden nicht den Eintritt der Obdachlosigkeit voraussetzt, sondern schon im Vorfeld, wenn eine solche unmittelbar bevorsteht, veranlasst ist. Aus dieser gesetzlichen Verpflichtung ergibt sich ein Anspruch des Betroffenen (zumindest) auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Unterbringung durch die Behörde. Ein solcher Anspruch kann allerdings nur dann angenommen werden, soweit und solange der Betroffene die Gefahr nicht selbst aus eigenen Kräften oder mit Hilfe der Sozialleistungsträger beheben kann (vgl. BayVGH, B.v. 21.9.2006 – 4 CE 06.2465 – BayVBl 2007, 439).
Die von der Sicherheitsbehörde zu leistende Obdachlosenfürsorge dient dabei nicht der „wohnungsmäßigen Versorgung“, sondern der Verschaffung einer vorüber-gehenden Unterkunft einfacher Art (vgl. BayVGH, B.v. 3.8.2012 – 4 CE 12.1509 – juris Rn. 5). Auch unter Berücksichtigung der humanitären Zielsetzung des Grundgesetzes ist es ausreichend, wenn obdachlosen Personen eine Unterkunft zugewiesen wird, die vorübergehend Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet und Raum für die notwendigen Lebensbedürfnisse lässt. Obdachlose Personen müssen, weil ihre Unterbringung nur eine Notlösung sein kann, eine weitgehende Einschränkung ihrer Wohnansprüche hinnehmen, wobei freilich die Grenze zumutbarer Einschränkungen dort liegt, wo die Anforderungen an eine menschenwürdige, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit achtende Unterbringung nicht mehr eingehalten sind (ständige Rechtsprechung, vgl. BayVGH, B.v. 3.8.2012 – 4 CE 12.1509 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 14.7.2005 – 4 C 05.1551).
2.2 Den sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Darlegung eines Anordnungs-anspruchs wie auch eines Anordnungsgrundes ist vorliegend Genüge getan.
Es ist davon auszugehen, dass dem Antragsteller unmittelbar ein Obdachloswerden droht. Dass dieser nach dem Auszug aus dem Übergangswohnheim bei seinen Eltern untergekommen ist, steht dieser Annahme nicht entgegen. Zwar führt die Bereitschaft von Angehörigen oder etwa Bekannten, einen Obdachlosen aufzunehmen, grundsätzlich dazu, dass ein behördliches Tätigwerden zur Gefahrenabwehr entbehrlich wird und der Betroffene regelmäßig im Rahmen der Selbsthilfeverpflichtung darauf verwiesen werden kann, ein entsprechendes Angebot anzunehmen (wenn dieses nach den Umständen zumutbar ist). Ein Verweisen des Antragstellers auf eine Unterkunftnahme bei seinen Eltern verbietet sich hier aber (unabhängig davon, ob diese bereit wären, ihn längerfristig aufzunehmen), da nach Auskunft der den Antragsteller betreuenden Sozialpädagogin dem Antragsteller im Rahmen des Maßregelvollzugs bzw. der Regelungen zur Bewährung zur Auflage gemacht wurde, sich nur über das Wochenende bei seinen Eltern aufzuhalten. Ein längerfristiger Verbleib dort, der aktuell wohl nur mit Blick auf die ansonsten gegebene Obdachlosigkeit geduldet wird, kann dem Antragsteller daher nicht angesonnen werden, da der Antragsteller hierdurch praktisch dazu genötigt würde, gegen die rechtlich verpflichtende Auflage zu verstoßen.
Mit Blick auf die Umstände des Verlassens der Übergangseinrichtung durch den Antragsteller ist weiter anzumerken, dass aus sicherheitsrechtlicher Sicht nicht zu prüfen ist, ob und inwieweit der Zustand der Obdachlosigkeit auf einem Verschulden des Betroffenen beruht (vgl. BayVGH, B.v. 9.10.2015 – 4 CE 15.2102 – juris Rn. 2). Inwiefern die Obdachlosigkeit daher vom Verhalten des Antragstellers beeinflusst war – sei es durch den Widerruf der Entbindung von der Schweigepflicht und dem damit verbundenen Auszug aus der Übergangswohngemeinschaft oder durch das Ablehnen einer Wohnung in … – spielt für die Frage, ob ein behördliches Einschreiten zur Gefahrenabwehr erforderlich erscheint, daher keine Rolle.
Auf der Grundlage der vorliegenden Informationen vermag die Kammer auch nicht zu erkennen, dass der Antragsteller ungeachtet des Umstands, dass er unter Bewährung steht (vorläufige Entlassung aus dem Maßregelvollzug) und krankheitsbedingt einer laufenden ärztlichen Betreuung bedarf, nicht unterbringungsfähig wäre. Konkrete Umstände, die Zweifel an der Unterbringungsfähigkeit aufkommen lassen würden, gehen aus den zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht hervor. Gegen die Annahme einer fehlenden Unterbringungsfähigkeit spricht insbesondere auch, dass soweit ersichtlich seitens der Übergangseinrichtung bzw. der den Antragsteller betreuenden Sozialpädagogin Versuche unternommen wurden, dem Antragsteller eine Mietwohnung zu vermitteln.
Der Antragsteller hat weiter auch glaubhaft gemacht, dass er nicht über Mittel verfügt, aufgrund derer es ihm möglich wäre, sich, wenn auch nur vorübergehend, eine geeignete Unterkunft anderweitig zu beschaffen. Er erhält lediglich eine Grundsicherung zur Deckung des Lebensbedarfs, mit Hilfe derer eine kurzfristige Behebung der Obdachlosigkeit nicht möglich erscheint.
Im Ergebnis ist damit festzustellen, dass sowohl ein Anordnungsanspruch – An-spruch auf behördliches Tätigwerden wegen drohender Obdachlosigkeit, die nicht durch zumutbare Selbsthilfemaßnahmen abgewendet werden kann – wie auch ein Anordnungsgrund – Eilbedürftigkeit, weil ein weiterer Aufenthalt bei den Eltern nicht in Betracht kommt – dargetan sind.
Was die Art und Weise der Unterbringung angeht, ist schließlich festzustellen, dass der Antragsteller mit Blick auf die grundrechtlichen Anforderungen auch die Unterbringung in einem Einzelzimmer beanspruchen kann. Hierzu wird auf die fachärztliche Stellungnahme vom … Juli 2017 hingewiesen, in der festgestellt wird, dass aufgrund der multiplen Erkrankungen aus medizinischer und therapeutischer Sicht eine entsprechende Unterbringung notwendig erscheint.
Abschließend sei bemerkt, dass unzweifelhaft auch von einer örtlichen Zuständigkeit des Antragsgegners auszugehen ist, auch wenn der Antragsteller sich gegenwärtig in … aufhält, da die abzuwehrende Obdachlosigkeit dem Antragsteller während seines Aufenthalts im Gebiet des Antragsgegners drohte und der Antragsteller seinerzeit beim Antragsgegner auch einen Antrag auf Unterbringung gestellt hat.
3. Im Hinblick darauf, dass es im vorliegenden Verfahren nur um eine vorläufige Rechtschutzgewährung geht, wird die Anordnung befristet, wobei darauf hinzuweisen ist, dass der Antragsteller, gehalten ist, sich ggf. unter Inanspruchnahme der ihm zustehenden Beratungs- und Hilfsangebote um eine anderweitige Unterkunft zu bemühen. Die sicherheitsrechtliche Unterbringung stellt keine dauerhafte Lösung dar, sondern dient vielmehr als Notmaßnahme zur kurzfristigen Beseitigung der Obdachlosigkeit. Bei Ablauf der Frist ist von der Antragsgegnerin erneut zu prüfen, ob dem Antragsteller weiterhin Obdachlosigkeit droht und eine Verlängerung der Unterbringung veranlasst ist.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 sowie Ziffer 35.3 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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