Verwaltungsrecht

Vorschriftsmäßige Besetzung der Kammer in Asylstreitverfahren

Aktenzeichen  9 ZB 20.31989

Datum:
26.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30475
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78
GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
VwGO § 86 Abs. 1, § 88, § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 138

 

Leitsatz

1. Ein erstinstanzliches Gericht ist nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn das Urteil von Richtern erlassen worden ist, die nach den Vorschriften über die gerichtsinterne Zuständigkeit nicht zuständig waren (vgl. VGH München BeckRS 2009, 37343). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein (behaupteter) Verstoß gegen die umfassende Aufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts (§ 86 Abs. 1 S. 1 VwGO) ist kein in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG iVm § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel und vermag somit die Zulassung der Berufung nicht zu rechtfertigen (vgl. VGH München BeckRS 2019, 13844). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein beachtlicher Verfahrensfehler kann ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (vgl. VGH München BeckRS 2020, 4576). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 21b K 17.44694 2020-09-01 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Kläger ist nach seinen eigenen Angaben Staatsangehöriger der Demokratischen Republik Kongos und begehrt die Anerkennung als Asylberechtigter, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes sowie die Feststellung von Abschiebungshindernissen. Er wendet sich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 30. Mai 2017, mit dem seine Anträge abgelehnt wurden und ihm die Abschiebung nach A. angedroht wurde. Die Klage hiergegen hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 1. September 2020 abgewiesen. Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt erfolglos. Der vom Kläger geltend gemachte Gesetzes- und Verfahrensverstoß, weil die 21b. Kammer des Verwaltungsgerichts München unzuständig sei, liegt nicht vor.
1. Soweit sich der Kläger auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts wegen Verstoßes gegen die Zuständigkeitsregeln beruft, liegt bereits kein im Asylverfahrensrecht vorgesehener Zulassungsgrund vor. Im Gegensatz zu § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kennt das Asylverfahrensrecht in § 78 Abs. 3 AsylG den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung nicht (vgl. BayVGH, B.v. 3.4.2020 – 9 ZB 20.30794 – juris Rn. 3).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen eines Verfahrensmangels (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO) zuzulassen.
Nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG ist die Berufung zuzulassen, wenn ein in § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt. Der Kläger ist der Ansicht, die 21b. Kammer des Verwaltungsgerichts München sei unzuständig, weil dieser zwar nach der Geschäftsverteilung des Verwaltungsgerichts München A. zugeteilt sei, der Bundesamtsbescheid vom 30. Mai 2017 aber fehlerhaft von einer angolischen Staatsangehörigkeit des Klägers ausgehe, während der Kläger tatsächlich Staatsangehöriger der Demokratischen Republik Kongo sei und auch das Verwaltungsgericht in den Urteilsgründen von einer kongolesischen Staatsangehörigkeit des Klägers ausgehe. Für die Demokratische Republik Kongo sei nach dem Geschäftsverteilungsplan des Verwaltungsgerichts München für Asylverfahren jedoch eine andere Kammer zuständig. Das Urteil der Einzelrichterin der 21b. Kammer verstoße daher gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (§ 138 Nr. 1 VwGO, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
Nach § 138 Nr. 1 VwGO ist ein Urteil stets auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Ein erstinstanzliches Gericht war nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn das Urteil von Richtern erlassen worden ist, die nach den Vorschriften über die gerichtsinterne Zuständigkeit nicht zuständig waren (vgl. BayVGH, B.v. 7.7.2006 – 9 ZB 06.30089 – juris Rn. 3). Ein solcher Fehler liegt hier aber nicht vor; die Entscheidung ist von der Einzelrichterin (§ 76 AsylG) erlassen worden, die der nach dem Geschäftsverteilungsplan für das Verwaltungsgericht München (§ 4 Satz 1 VwGO i.V.m. § 21e GVG) für dieses Verfahren zuständigen Kammer angehört.
Die Bestimmung des gesetzlichen Richters erfolgt durch das Gerichtsverfassungsgesetz, die Prozessordnungen sowie die Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des jeweiligen Gerichts (BayVGH, B.v. 6.6.2019 – 8 ZB 19.30033 – juris Rn. 9 m.w.N.). Maßgebend ist der Geschäftsverteilungsplan zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG, U.v. 30.10.1984 – 9 C 67.82 – juris Rn. 9). Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Verwaltungsgerichts München für das Geschäftsjahr 2020 ist beim Vollzug des Asylgesetzes für die Bestimmung der zuständigen Kammer das Land maßgeblich, das in der Abschiebungsandrohung als erstes benannt worden ist. Hier wurde dem Kläger in dem Bescheid des Bundesamts vom 30. Mai 2017 die Abschiebung nach A. angedroht, so dass sich danach die Zuständigkeit der 21b. Kammer des Verwaltungsgerichts München ergibt. Dass das Verwaltungsgericht im Rahmen der rechtlichen Prüfung des Klagebegehrens von einer kongolesischen Staatsangehörigkeit des Klägers (vgl. UA S. 7) ausgeht, ist unerheblich. Denn die Frage der Staatsangehörigkeit des Klägers beim Vollzug des Asylgesetzes ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des Verwaltungsgerichts München nur relevant, wenn eine Abschiebungsandrohung fehlt, in der Abschiebungsandrohung als Zielstaat „Herkunftsstaat“ genannt ist oder der Zielstaat ein Staat der Europäischen Union ist, was hier jeweils nicht der Fall ist. Ebenso ist unerheblich, dass das Verwaltungsgericht den Klageantrag des Klägers dahingehend ausgelegt hat (§ 88 VwGO), dass er auch die Feststellung von Abschiebungshindernissen betreffend die Demokratische Republik Kongo begehrt. Insoweit prüft die nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständige Kammer des Verwaltungsgerichts die Rechtssache zu Recht unter allen materiell-rechtlichen Gesichtspunkten, ohne dadurch für einzelne materiell-rechtliche Aspekte oder Rechtsfragen die Zuständigkeit zu verlieren. Dass das einmal zuständige Gericht eine Streitsache unter allen, dem Prüfungsmaßstab unterfallenden rechtlichen Gesichtspunkten prüft (vgl. auch § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG) – und nicht nur den die Zuständigkeit begründenden Aspekten – führt zu keinem Verstoß gegen den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Der Sache nach rügt das Zulassungsbegehren eine fehlende Sachkunde der zuständigen Kammer des Verwaltungsgerichts betreffend die Demokratische Republik Kongo. Soweit hierin die Geltendmachung einer Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) gesehen werden kann, führt diese aber ebenfalls nicht zum Erfolg. Ein (behaupteter) Verstoß gegen die umfassende Aufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ist kein in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel und vermag somit die Zulassung der Berufung nicht zu rechtfertigen (vgl. BayVGH, B.v. 22.5.2019 – 9 ZB 19.31904 – juris Rn. 3). Ein beachtlicher Verfahrensfehler kann ausnahmsweise zwar dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2020 – 9 ZB 20.30296 – juris Rn. 12). Derartiges lässt sich dem Zulassungsvorbringen aber nicht entnehmen (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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