Verwaltungsrecht

Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung)

Aktenzeichen  M 10 E 20.6175

Datum:
3.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38355
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
FreizügG/EU § 11 Abs. 2
AufenthG § 50 Abs. 1, §51 Abs. 1 Nr. 5, § 58, § 60a

 

Leitsatz

Dass ein Ausländer noch persönliche Gegenstände in seiner Wohnung hat, führt die nicht zu einer tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung iSd § 11 Abs. 2 FreizügG/EU iVm § 60a Abs. 2 S 1 AufenthG. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der slowakische Antragsteller begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Aussetzung seiner Abschiebung in die Slowakei.
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 7. Februar 2017 wurde der Verlust des Rechts des Antragstellers auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt und der Antragsteller insbesondere verpflichtet, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Bestandskraft des Bescheids zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise oder einer Unmöglichkeit der (freiwilligen) Ausreise aufgrund von Inhaftierung wurde die Abschiebung des Antragstellers in die Slowakei nach Bestandskraft des Bescheids angedroht. Dieser Bescheid ist nach Ausschöpfung des Rechtsweges zwischenzeitlich bestandskräftig (vgl. hierzu: VG München, U.v. 8.11.2018 – M 10 K 17.852; BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 10 ZB 19.31).
Der Antragsteller befindet sich derzeit in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) … … …; nach Aktenlage ist das Haftende für den 4. Januar 2021 vorgesehen (Bl. 239 Behördenakte).
Aufgrund der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Augsburg – Strafvollstreckung vom 11. November 2020 wurde von der weiteren Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 456a Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) zum Zeitpunkt der Abschiebung des Antragstellers aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland abgesehen.
Nach Aktenlage ist demgemäß die Abschiebung aus der Haft für den 23. Dezember 2020 geplant.
Mit Schreiben vom 23. November 2020, bei der Antragsgegnerin eingegangen am 24. November 2020, beantragte der Antragsteller, nicht aus der Haft abgeschoben zu werden, da er in diesem Fall seine persönlichen Sachen, wie Dokumente und Kleidung, nicht mitnehmen könne. Er wolle das Bundesgebiet innerhalb von 24 Stunden nach der Haftentlassung mit seinen Sachen freiwillig verlassen.
Mit Schriftsatz vom 20. November 2020, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am 30. November 2020, stellt der Antragsteller einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der Ausweisung bzw. Abschiebung in die Slowakei für 34 Tage bzw. bis zum 23. Dezember 2020 in Form einer einstweiligen Anordnung.
Zur Begründung wird vorgetragen, wegen einer sogenannten Weihnachtsamnestie werde der Antragsteller voraussichtlich am 21. oder 22. Dezember 2020 aus der Haft entlassen. Aufgrund der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Augsburg vom 11. November 2020 müsse er damit rechnen, dass er noch vor Strafende aus der JVA in die Slowakei abgeschoben werde. Dies sei für ihn nicht zumutbar, da sich in seiner Wohnung in …, aber auch in … persönliche Gegenstände befänden. Im Fall einer Abschiebung direkt aus der Haft habe er keine Möglichkeit, seine persönlichen Sachen in die Slowakei mitzunehmen. Er solle als EU-Bürger die Möglichkeit bekommen, die Bundesrepublik Deutschland freiwillig (mit seinen Sachen) zu verlassen. Er habe keine Möglichkeit, eine andere Person damit zu beauftragen.
Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2020,
den Eilantrag abzulehnen.
Die Abschiebung des Antragstellers sei nach wie vor beabsichtigt. Nach telefonischer Auskunft der Staatsanwaltschaft Augsburg sei der Antrag des Antragstellers auf Aufhebung des Bescheids gemäß § 456a StPO mit Schreiben vom 27. November 2020 abgelehnt worden.
Der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Es sei dem Antragsteller zumutbar, seine Habe von Dritten in sein Heimatland schicken bzw. transportieren zu lassen. Der Antragsteller habe ausreichend Zeit gehabt, seine Abschiebung auch schon während der Inhaftierung mit Unterstützung von Freunden, Bekannten oder vom Sozialdienst vorzubereiten. Der Gesetzgeber habe die Abschiebung aus der Haft vorgesehen (§ 11 Abs. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU – FreizügG/EU i.V.m. § 58 Abs. 1 und 3 Aufenthaltsgesetz – AufenthG).
Die Antragsgegnerin hat dem Gericht am 1. Dezember 2020 auf telefonische Nachfrage mitgeteilt, dass ihr die „Weihnachtsamnestie“ nicht bekannt gewesen sei und eine Abschiebung des Antragstellers aus der Haft geplant sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
1. Der vom Antragsteller gestellte Antrag ist nach dem erkennbaren Rechtsschutzbegehren (§ 122 Abs. 1, § 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) als Antrag nach § 123 VwGO auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zu verstehen.
2. Der so verstandene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ist zulässig, aber unbegründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden.
a) Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig.
Insbesondere ist das Rechtsschutzbedürfnis für den gestellten Antrag gegeben. Unabhängig davon, ob die vorherige Antragstellung bei der Behörde im konkreten Fall hierfür erforderlich ist, hat der Antragsteller einen entsprechenden Antrag bei der Antragsgegnerin jedenfalls (am 24.11.2020) gestellt. Im Übrigen ist zwar dem Rechtsschutzbegehren des Antragstellers derzeit nach Aktenlage dadurch Rechnung getragen, dass die Abschiebung – wie vom Antragsteller gewünscht – erst am 23. Dezember 2020 und damit – den Sachvortrag des Antragstellers zugrunde gelegt – nach der Haftentlassung erfolgen soll. Die Planung dieses Abschiebungstermins basiert allerdings auf der Annahme der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller erst am 4. Januar 2021 aus der Haft entlassen werde. Nach Aktenlage sowie der telefonischen Auskunft der Antragsgegnerin vom 1. Dezember 2020 soll eine Abschiebung des Antragstellers aus der Haft erfolgen; der Antragsgegnerin war zu diesem Zeitpunkt die „Weihnachtsamnestie“, verbunden mit einer Haftentlassung spätestens am 22. Dezember 2020, nicht bekannt. Da aufgrund dieser Umstände eine Vorverlegung des Abschiebungstermins zur Realisierung der Abschiebung aus der Haft nicht auszuschließen ist, hat der Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis für den gestellten Antrag. Angesichts der noch im Dezember 2020 drohenden Abschiebung aus der Haft ist auch eine besondere Dringlichkeit gegeben.
b) Der Antrag nach § 123 VwGO ist aber unbegründet, da der Antragsteller keinen nach § 123 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a AufenthG glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO).
aa) Der Antragsteller ist gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG abzuschieben, da er nach bestandskräftigem Abschluss seines Ausweisungsverfahrens vollziehbar zur Ausreise verpflichtet ist (§§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Nr. 5, 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), die einmonatige Ausreisefrist aus dem Bescheid vom 7. Februar 2017 erfolglos verstrichen ist und aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint, da der Antragsteller sich auf richterliche Anordnung in Haft befindet (§ 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG).
bb) Die Abschiebung ist auch durchführbar. Abschiebungshindernisse sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Eine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist nach Aktenlage und dem Vortrag des Antragstellers nicht gegeben. Insbesondere führt es nicht zu einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung, dass der Antragsteller noch persönliche Gegenstände in München und Augsburg hat. Es ist dem Antragsteller zumutbar, über Freunde, Bekannte, den Sozialdienst oder möglicherweise auch den Vermieter seiner Wohnung zu organisieren, dass seine persönlichen Sachen in die Slowakei geschickt werden. Nach Aktenlage hatte der Antragsteller auch ausreichend Zeit, dies vorzubereiten, da der Antragsteller seit Anfang August 2020 über die geplante Abschiebung informiert ist (Bl. 205 Behördenakte).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nrn. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs 2013.


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