Verwaltungsrecht

Wegen fehlenden Gehörsverstoßes erfolgloses Berufungszulassungsbegehren eines irakischen Asylbewerbers

Aktenzeichen  4 ZB 17.31557

Datum:
11.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 136980
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 103
VwGO § 138 Nr. 3
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3

 

Leitsatz

1. Für einen Gehörsverstoß müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen wurde. (Rn. 2 – 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn das Gericht einen nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. (Rn. 6 – 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 3 K 17.31864 2017-08-25 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG wegen eines Verfahrensmangels in Gestalt der – allein erhobenen – Gehörsrüge nach § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
Das rechtliche Gehör als „prozessuales Urrecht“ des Menschen sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden. Ein Gehörsverstoß liegt deshalb nur vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerfG, B.v. 29.10.2015 – 2 BvR 1493/11 – NVwZ 2016, 238/241). Mit Kritik an der tatrichterlichen Sachverhalts- und Beweiswürdigung kann die Annahme eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör grundsätzlich nicht begründet werden (BVerfG, E.v. 19.7.1967 – 2 BvR 639/66 – BVerfGE 22, 267/273; BVerwG, B.v. 30.7.2014 – 5 B 25.14 – juris; BVerwG, B.v. 15.5.2014 – 9 B 14.14 – juris Rn. 8).
Hieran gemessen liegt ein Verfahrensmangel im Sinn des § 138 Nr. 3 VwGO wegen eines Gehörsverstoßes nicht vor. Der Kläger trägt vor, er habe in der mündlichen Verhandlung berichtet, dass ihm Verfolgung bis hin zum Tod drohe, weil er einem IS-Kämpfer geholfen habe, statt ihn zu töten. Das Verwaltungsgericht habe diesen Vortrag als abenteuerlich bezeichnet, weil sich der Kläger nach allgemeinem Völkerrecht richtig verhalten habe. Dabei übergehe das Gericht, dass es in Kriegssituationen nicht unüblich sei, dass es zu Verstößen gegen das allgemeine Völkerrecht komme. Weshalb das hier absolut ausgeschlossen sein solle, lasse das Gericht nicht erkennen. Es stütze sich lediglich darauf, dass der Kläger im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt hierzu keine Ausführungen gemacht habe und die Steigerung des Sachvortrags nicht schlüssig zu erklären sei. Der Kläger sei jedoch in der Anhörung gehalten gewesen, sich knapp zu halten. Mangels gerichtlichen Hinweises oder einen entsprechenden Nachfrage hierzu sei für den Kläger auch nicht erkennbar gewesen, dass das Verwaltungsgericht Zweifel an seinem Sachvortrag habe. Weil diese spezifische Beweiswürdigung den Kläger überrascht habe, habe er in der mündlichen Verhandlung keine geeigneten prozessualen Gegenmaßnahmen treffen können. Dadurch werde das rechtliche Gehör des Klägers verletzt.
Dieser Vortrag geht ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 14. August 2017 insoweit von einem falschen Sachverhalt aus, als der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht von einer Todesgefahr gesprochen hat. Der Kläger hat dort geäußert, er sei bei den Peschmerga als Fahrer für Verletztentransporte zuständig gewesen und habe einen 17-jährigen IS-Mann, der festgenommen worden sei, zu einer medizinischen Station gebracht, wo er ärztlich versorgt worden sei. Später sei der IS-Mann von jemand anderem nach Dohuk gefahren worden, wo er festgenommen worden sei. Als sein Schwiegervater davon erfahren habe, habe er ihm vorgeworfen, dass er den IS-Mann nicht sofort getötet habe. Er habe erwidert, dass jener doch noch ein Kind gewesen sei und er aus humanitären Gründen ihn nicht habe töten wollen. Deshalb habe er sogar vors Militärgericht gestellt werden sollen, wo er mindestens drei Jahre Haft bekommen hätte. Auf Vorhalt des Gerichts, warum er von der Forderung des Schwiegervaters und dem Militärgericht bei seiner Anhörung nichts gesagt habe, antwortete der Kläger, dass er nicht danach gefragt worden sei.
Warum die Wertung dieses Vortrags durch das Verwaltungsgericht als unglaubwürdig das rechtliche Gehör des Klägers verletzen soll, ist nicht ersichtlich. Der Kläger hat sich rechtmäßig verhalten, der IS-Kämpfer wurde nach ärztlicher Versorgung festgenommen. Warum der Kläger deshalb vor ein Militärgericht gestellt werden sollte, ist nicht ersichtlich, zumal sich der Vorfall nach Angaben des Klägers bereits am 15. Januar 2016 ereignet haben soll, der Kläger aber bis zu seiner Ausreise am 10. September 2016 unbehelligt blieb. Selbst wenn rechtswidrige Tötungen in Kriegssituationen vorkommen mögen, ist nicht anzunehmen, dass jemand, der sich rechtmäßig verhält, vor ein Militärgericht gestellt wird. Deswegen und auch im Hinblick darauf, dass der Kläger auf die Frage des Gerichts, warum er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hierzu nichts gesagt habe, lapidar geantwortet hat, man habe ihn danach nicht gefragt, verletzt die Bewertung dieser Schilderungen des Klägers durch das Verwaltungsgericht als „abenteuerlich“ weder Beweiswürdigungsgrundsätze noch das rechtliche Gehör.
Das Verwaltungsgericht musste auf seine Beweiswürdigung auch nicht bereits in der mündlichen Verhandlung hinweisen. Die Hinweispflicht des § 86 Abs. 3 VwGO konkretisiert den Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen. Eine solche Überraschungsentscheidung liegt aber nur vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht (BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986.91 – BVerfGE 86, 133 = juris Rn. 36; B.v. 31.5.1995 – 2 BvR 736.95 – juris Rn. 27; BVerwG, B.v. 1.2.1999 – 10 B 4.98 – juris Rn. 6; B.v. 26.2.2013 – 4 B 53.12 – juris Rn. 4; B.v. 1.7.2013 – 8 BN 1.13 – juris Rn. 10; B.v. 15.5.2014 – 9 B 57.13 – NVwZ-RR 2014, 657 Rn. 19).
Eine solche Überraschungsentscheidung liegt hier ersichtlich nicht vor. Dass das Verwaltungsgericht von einer Steigerung des Vorbringens des Klägers ausgehen und damit seine Angaben für unglaubhaft halten könnte, ergibt sich bereits aus der Nachfrage in der mündlichen Verhandlung. Im Übrigen folgt aus dem Prozessgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts (vgl. BVerwG, B.v. 15.7.2016 – 5 P 4.16 – juris Rn. 3 m.w.N.; B.v. 16.8.2011 – 6 B 18.11 – juris Rn. 9). Insbesondere muss ein Gericht die Beteiligten grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (BVerwG, B.v. 15.7.2016 a.a.O. Rn. 3 m.w.N.).
Letztlich macht der Kläger im Gewande einer Gehörsrüge ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO – hier an der Beweiswürdigung – geltend. Dieser Zulassungsgrund ist jedoch in asylrechtlichen Streitigkeiten gemäß § 78 Abs. 3 AsylG gerade nicht gegeben und vermag daher dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg zu verhelfen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
3. Da der Antrag auf Zulassung der Berufung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Erfolg haben kann, ist auch der für das Zulassungsverfahren gestellte Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen. Ungeachtet der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers bietet die von ihm beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht die nach § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg.
4. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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