Verwaltungsrecht

Wegfall einer ladungsfähigen Anschrift im Dublin III-Verfahren

Aktenzeichen  M 1 S 18.52726

Datum:
2.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 12092
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 82 Abs. 1 S. 1
AsylG § 81 S. 1

 

Leitsatz

Aus dem Untertauchen eines Antragstellers im asylrechtlichen Eilverfahren, dessen Antrag darauf gerichtet ist, weiter im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, ist der Schluss zu ziehen, dass er an der Weiterverfolgung des gerichtlichen Verfahrens kein Interesse mehr hat (Rn. 17). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung der Abschiebung nach It. im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Die am … 2000 geborene Antragstellerin ist nach eigenen Angaben nigerianische Staatsangehörige und reiste am 19. Juni 2018 in die Bundesrepublik D. ein. Am 7. August 2018 stellte die Antragstellerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.
Nachdem eine EURODAC-Abfrage vom 20. Juni 2018 ergab, dass die Antragstellerin bereits zuvor einen Asylantrag in It. gestellt hatte, richtete das Bundesamt gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) (im Folgenden: Dublin III-VO) am 8. August 2018 ein Übernahmeersuchen an It., welches von den italienischen Behörden nicht innerhalb der Frist des Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO beantwortet wurde.
Mit Bescheid vom 23. August 2018, zugestellt am 28. August 2018, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach It. an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 6 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4).
Am 3. September 2018 hat die Antragstellerin Klage (M 1 K 18.52725) zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben. Gleichzeitig beantragt sie in diesem Verfahren,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheides vom 23. August 2018 anzuordnen.
Nachdem das Bundesamt mit Schreiben vom 18. Februar 2020 im Klageverfahren mitteilte, dass die Antragstellerin nach unbekannt verzogen sei, forderte das Gericht diese mit Schreiben vom 30. März 2020, zugestellt am 6. April 2020, nach § 81 AsylG auf, ihre derzeitige Anschrift mitzuteilen.
Mit Schreiben vom 6. April 2019 teilte die Antragsbevollmächtige im Klageverfahren mit, dass ihr die derzeitige Anschrift der Antragstellerin nicht bekannt sei und seit längerem kein Kontakt bestehe.
Ein Auszug aus dem Ausländerzentralregister (AZR) vom 2. Juni 2020 ergab, dass die Antragstellerin seit dem 6. Februar 2020 nach unbekannt verzogen ist.
Mit Beschluss vom 2. Juni 2020 hat das Gericht das Klageverfahren gemäß § 81 Satz 1 AsylG eingestellt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in beiden Verfahren sowie die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) unzulässig.
Das Hauptsacheverfahren wurde mit deklaratorischem Beschluss vom heutigen Tag nach § 81 Satz 1 AsylG eingestellt. Das Klageverfahren ist durch die fiktive Klagerücknahme formell abgeschlossen (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 81 AsylG Rn. 18). Für das Eilverfahren fehlt es somit an einer Klage, deren aufschiebende Wirkung angeordnet werden kann. Da dies jedoch im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag Voraussetzung für dessen Zulässigkeit ist (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 81 m.w.N.), ist ihr Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bereits deshalb unzulässig.
Dem Antrag fehlt darüber hinaus das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Antragstellerin unbekannten Aufenthalts ist.
In Fällen, in denen ein Ausländer untergetaucht ist, fehlt – ungeachtet der jeweiligen Gründe für das Untertauchen – das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag (vgl. BayVGH, B.v. 6.6.2006 – 24 CE 06.1102 – juris Rn 14 m.w.N.; B.v. 10.12.2001 – 21 B 00.31685 – juris Rn 19 ff.).
In Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraus. Nur derjenige, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtsschutzwürdiges Interesse verfolgt, hat einen Anspruch auf die gerichtliche Sachentscheidung. Fehlt es daran, so ist das prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen (vgl. BVerfG, B.v. 27.10.1998 – 2 BvR 2662/95 – juris Rn. 16 m.w.N.).
Das erforderliche Rechtsschutzinteresse kann auch im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens entfallen. Vom Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzbedürfnisses kann das Gericht im Einzelfall ausgehen, wenn das Verhalten eines rechtsschutzsuchenden Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an der Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG, B.v. 27.10.1998 – 2 BvR 2662/95 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 20.12.1999 – 10 ZC 99.1418 – juris Rn. 3; OVG NRW, B.v. 1.2.2002 – 21 A 1550/01.A – juris Rn. 5). Aus dem Untertauchen eines Antragstellenden, dessen Antrag darauf gerichtet ist, weiter im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, ist der Schluss zu ziehen, dass er an der Weiterverfolgung des gerichtlichen Verfahrens kein Interesse mehr hat (vgl. BayVGH, B.v. 6.3.2014 – 10 ZB 13.1862 – juris Rn. 4 m.w.N.).
So verhält es sich hier. Die Antragstellerin ist ausweislich eines Auszugs aus dem AZR seit dem 6. Februar 2020 nach unbekannt verzogen. Des Weiteren hat die Antragsbevollmächtigte mit Schreiben vom 6. April 2020 im Klageverfahren mitgeteilt, dass ihr die derzeitige Anschrift der Antragstellerin nicht bekannt sei und zu dieser schon seit längerem kein Kontakt mehr bestehe. Da die Antragstellerin somit seit fast vier Monaten untergetaucht ist, hat sie zu erkennen gegeben, dass sie an einer gerichtlichen Entscheidung nicht (mehr) interessiert ist.
Im Übrigen stellt das Fehlen einer ladungsfähigen Anschrift einen Verstoß gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 82 Abs. 1 Satz 1, § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 130 Nr. 1 ZPO dar, wonach dem Gericht zur Bezeichnung des Antragstellenden dessen aktuelle ladungsfähige Anschrift bekannt sein muss (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2007 – 19 ZB 06.2329 – juris Rn. 6 m.w.N.). Die Vorschrift ist auch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren anwendbar (vgl. VGH BW, B.v. 25.10.2004 – 11 S 1992/04 – juris Rn. 4; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 82 Rn. 1) und gilt selbst dann, wenn der Antragstellende anwaltlich vertreten ist (vgl. BVerwG, U.v. 13.4.1999 – 1 C 24/97 – juris, Rn. 39; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 82 Rn. 3).
Der Pflicht zur Mitteilung einer ladungsfähigen Anschrift ist die Antragstellerin im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt nicht nachgekommen. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Pflicht ausnahmsweise entfallen sein könnte, weil sie der Antragstellerin unmöglich oder unzumutbar ist (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 82 Rn. 4). Die Antragstellerin hat sich ihrer Pflicht aus § 10 Abs. 1 AsylG, wonach sie den Wechsel ihrer Anschrift dem angerufenen Gericht unverzüglich anzuzeigen und sich für dieses als stets erreichbar zu zeigen hat, entzogen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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