Verwaltungsrecht

Widerruf der Anerkennung eines ehemaligen Mitglieds der HADEP in der Türkei

Aktenzeichen  AN 1 K 15.30199

Datum:
18.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 21473
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 73 Abs. 1, Abs. 2a S. 5
AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1

 

Leitsatz

1 Für die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG ist es bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe erforderlich, dass zumindest eine der Einzelstrafen eine wenigstens dreijährige Freiheitsstrafe ist. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2 Vermerke über strafrechtliche Vorwürfe bleiben bei den türkischen Behörden uU über mehrere Jahrzehnte bestehen, sodass ein Flüchtling befürchten muss, weiterhin wegen des Vorwurfs der Unterstützung der PKK/HADEP in den Computersystemen der Sicherheitsbehörden in der Türkei gespeichert zu sein. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
3 Wegen PKK-Verbindungen Verhaftete können keine fairen Verfahren erwarten und es besteht für sie ein erhebliches Risiko, in Haft misshandelt zu werden. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 11. Februar 2015, Az. …, wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Bezüglich der Kosten ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zunächst Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 11. Februar 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
1. Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2a S. 5 AsylG für einen Widerruf der mit Bescheid vom 9. Dezember 1999 ausgesprochenen Asylanerkennung und der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in Bezug auf die Türkei vorliegen, lagen zu dem gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vor.
Das Bundesamt ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylG nicht vorliegen Zwar ist der Kläger mit Urteil des Landgerichts … vom 07. Juli 2014 wegen Raubes mit gefährlicher Körperverletzung sowie Diebstahl in 12 Fällen, davon 2 Fälle zugleich mit einer vorsätzlichen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 11 Monaten verurteilt worden. Dabei belief sich aber die höchste Einzelstrafe auf 2 Jahre und 6 Monate. Für die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 8 S. 1, 1. Alt. AsylG ist es jedoch bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe erforderlich, dass zumindest eine der Einzelstrafen eine wenigstens dreijährige Freiheitsstrafe ist (BeckOK AuslR/Koch, 18. Ed. 15.8.2016, AufenthG § 60 Rn. 54).
Auch hat das Bundesamt nicht nach § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen.
Im Übrigen würde es zur Verwirklichung des § 60 Abs. 8 S. 1, 1. Alt. AsylG an einer vom Kläger ausgehenden konkreten, ernsthaft drohenden Gefahr für Allgemeinheit fehlen. Die diesbezüglich anzustellende Prognose hat auch die zwischenzeitlich eingetretenen zu Gunsten des Ausländers sprechenden Umstände, wie eine Strafaussetzung auf Bewährung oder eine positive Sozialisation nach Vollzug einer Freiheitsstrafe zu berücksichtigen (BeckOK AuslR, a.a.O., AufenthG § 60 Rn. 5). Hierzu hat das Landgericht … im Urteil vom 07. Juli 2014 bzgl. des Klägers im Rahmen der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 64 S. 2 StPO gegeben sind, festgestellt, dass aufgrund der Taten der letzten Jahre mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, dass auch in Zukunft ein Hang des Klägers, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, dazu führen werde, dass dieser erhebliche rechtswidrige Straftaten begehe, dass aber bei dem Kläger eine hinreichend konkrete Aussicht bestünde, ihn durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf seinen Hang zurückgingen, da der Kläger ausreichend therapiemotiviert sei. Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen fehlt es nach Auffassung der Kammer zum jetzigen Zeitpunkt an einer ernsthaft drohenden Gefahr für die Allgemeinheit.
2. Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG (seinerzeit Feststellung der Voraussetzung des § 51 Abs. 1 AuslG) unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß Satz 2 der Vorschrift insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigten oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Die Norm knüpft ihrem Wortlaut nach an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) an. Auf die nach altem Recht getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, ist sie entsprechend anzuwenden (OVG Schleswig-Holstein, U.v. 16.11.2017 – 4 LB 30/14, juris Rn. 22).
Maßgebend für die Beurteilung, ob eine entscheidungserhebliche Änderung vorliegt, ist der Vergleich der dem Ausgangsbescheid zugrunde gelegten Tatsachenlage – unabhängig davon, ob diese den wahren Tatsachen entsprach – mit derjenigen zum Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Entscheidung über den Widerruf (OVG Schleswig-Holstein, U.v. 16.11.2017, a.a.O., Rn. 23 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 22.11.2011 – 10 C 29/10 –, juris Rn. 19).
Die Widerrufsvoraussetzungen in § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG sind unionsrechtskonform auszulegen, da der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Buchst. e und f der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl EU Nr. L 304 vom 30.09.2004 S. 12; berichtigt ABl EU Nr. L 204 vom 05.08.2005 S. 24) über das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Wegfall der die Anerkennung begründenden Umstände umgesetzt hat. Bei der Prüfung des Erlöschensgrundes haben die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie zu untersuchen, ob die Veränderung der Umstände erheblich und nicht nur vorübergehend ist, so dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie regelt die Beweislastverteilung dahingehend, dass der Mitgliedsstaat in jedem Einzelfall nachzuweisen hat, dass die betreffende Person nicht länger Flüchtling ist oder es nie gewesen ist. Die unionsrechtlichen Vorgaben für ein Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 11 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG hat der EuGH weiter konkretisiert.
Eine erhebliche Veränderung der der Anerkennung zugrunde liegenden Umstände setzt voraus, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Herkunftsland deutlich und wesentlich geändert haben (EuGH, U.v. 02.03.2010, Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. -, NVwZ 2010, 505). Des Weiteren darf die Veränderung der der Flüchtlingsanerkennung zugrunde liegenden Umstände nicht nur vorübergehender Natur sein. Vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründeten und zur Flüchtlingsanerkennung geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Veränderungen im Heimatland sind nur dann hinreichend erheblich und dauerhaft, wenn sie dazu führen, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann. Die Prüfung einer derartigen Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland ist untrennbar mit einer individuellen Verfolgungsprognose verbunden. Diese hat anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (BVerwG, U.v. 1.3.2012, a.a.O. Rn. 11 f.). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 –, juris Rn. 32; OVG Schleswig-Holstein, U.v. 16.11.2017, a.a.O., Rn. 26 ff.; VGH Bad.-Württ. U.v. 27.08.2013, – A 12 S 561/13 -, juris; VG Freiburg (Breisgau), U.v. 13.3.2017 – A 6 K 661/16, juris Rn. 21).
3. Hiervon ausgehend erweist sich der Bescheid des Bundesamtes vom 14. Februar 2015 als rechtswidrig.
a) Einem Widerruf würde dabei nicht bereits die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 29. Oktober 1999, Az. A 3 K 14223/97, entgegenstehen. Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet, wenn sich die zur Zeit des Urteils maßgebliche Sach- oder Rechtslage nachträglich verändert – sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft – (stRspr; vgl. BVerwG U.v 23.11.1999 – 9 C 16.99, BVerwGE 110, 111; U.v. 24.11.1998 – 9 C 53.97, BVerwGE 108, 30; U.v. 8.12.1992 – 1 C 12.92 – BVerwGE 91, 256; U.v. 4.6.1970 – 2 C 39.68, BVerwGE 35, 234; B.v. 18.3.1982 – 1 WB 41.81. BVerwGE 73, 348; U.v. 30.8.1962 – 1 C 161.58, BVerwGE 14, 359).
Zwar kann nicht jegliche nachträgliche Änderung der Verhältnisse die Rechtskraftwirkung eines Urteils entfallen lassen (BVerwG, B.v. 3.11.1993 – 4 NB 33.93, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 66 = NVwZRR 1994, 236; vgl. auch Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 121 Rn. 72). Gerade im Asylrecht liefe ansonsten die Rechtskraftwirkung nach § 121 VwGO weitgehend leer. Sofern es nämlich auf die allgemeinen politischen Verhältnisse im Heimatland des Asylbewerbers ankommt, sind diese naturgemäß ständigen Änderungen unterworfen. Eine Lösung der Bindung an ein rechtskräftiges Urteil kann daher nur eintreten, wenn die nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage entscheidungserheblich ist (BVerwG, U.v. 18.9.2001, a.a.O.; U.v. 8.12.1992, a.a.O.; U.v. 23.11.1999, a.a.O.; B.v. 3.11.1993, a.a.O.; U.v. 4.6.1970, a.a.O.). Dies ist jedenfalls im Asylrecht dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (VG Freiburg (Breisgau), U.v. 13.3.2017 a.a.O., juris Rn 22; VG Ansbach U.v. 10.3.2009 – AN 1 K 08.30328).
b) Allerdings fehlt es vorliegend an einer wesentlichen und dauerhaften Veränderung der Sachlage im Verhältnis zu den dem Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart zugrunde gelegten Tatsachen.
Dahinstehen kann, ob dem Kläger aufgrund seiner damaligen Aktivitäten für die PKK/HADEP bei einer Rückkehr in die Türkei eine Strafverfolgung droht, ob insoweit von einer Verjährung auszugehen ist bzw. ob das Amnestiegesetz 4616 vom 21. Dezember 2000 für vor dem 23. April 1999 begangene Straftaten noch Anwendung findet, da beachtlich wahrscheinlich davon auszugehen ist, dass der Kläger weiterhin wegen des Vorwurfs der Unterstützung der PKK/HADEP in den Computersystemen der Sicherheitsbehörden in der Türkei gespeichert ist.
Vermerke über strafrechtliche Vorwürfe bleiben bei den türkischen Behörden u.U. über mehrere Jahrzehnte bestehen. Kamil Taylan hatte im Jahr 2013 die Möglichkeit, während eines Interviews mit einem Verantwortlichen bei der Polizei in einer südöstlichen Provinz die Einträge zu seinem Namen im Computersystem der Sicherheitskräfte in Augenschein zu nehmen. Dort waren noch die Ermittlungsverfahren aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verzeichnet (Taylan, Auskunft vom 15. Dezember 2015 an das VG Karlsruhe – A 7 K 2542/14 –, S. 5 – 6). Im Übrigen existiert keine Möglichkeit, Ermittlungen zu der Frage anzustellen, ob eine Registrierung mittlerweile beseitigt ist. Aufgrund eines Runderlasses des Innenministeriums vom 18. Dezember 2004 dürfen keine Suchvermerke mehr in das Personenstandsregister eingetragen werden. Sie kennzeichneten bis dahin Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen. Angaben türkischer Behörden zufolge wurden Mitte Februar 2005 alle bestehenden Suchvermerke in den Personenstandsregistern gelöscht. Somit besteht für das Auswärtige Amt keine Möglichkeit mehr, das Bestehen von Suchvermerken zu verifizieren, auch nicht über die bisher damit befassten Vertrauensanwälte (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 19. Februar 2017, S. 29).
Da demnach davon ausgegangen werden muss, dass der Kläger weiterhin in den Computersystemen erfasst ist, muss er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, bei der Einreise festgenommen zu werden.
Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, 19. Februar 2017, S. 29 – 30; Auskunft vom 9. Mai 2017 an das VG Karlsruhe – A 10 K 3981/16 –, S. 1). Die Sicherheitsbehörden haben über die bei ihnen installierten Terminals Zugriff auf sämtliche sicherheitsrelevanten Daten der einreisenden Person, insbesondere zu abgeschlossenen oder laufenden Ermittlungsverfahren. Ein türkischer Staatsangehöriger, der jahrzehntelang ohne einen gültigen türkischen Pass im Ausland gelebt hat, fällt den Grenzbeamten mit Sicherheit auf. Schon anhand seines Geburtsortes, …, wäre der Kläger in diesem Verfahren eindeutig als Kurde zu identifizieren. Eine Differenzierung zwischen PKK-Anhängern, Sympathisanten, Mitglieder und keiner Organisation zugehörigen kurdischen Bürgern wird in der Türkei schon lange nicht mehr gemacht (Taylan, Auskunft vom 15. Dezember 2015 an das VG Karlsruhe – A 7 K 2542/14 –, S. 5, 7 f.). Es ist davon auszugehen, dass Personen, aus deren Papieren zu schließen ist, dass sie im Ausland um Asyl nachgesucht haben, besonders überprüft werden. Das kann eine Anfrage bei der Polizei des Heimatortes umfassen und kann bedeuten, dass diese Person vorübergehend festgenommen wird, bis die entsprechende Auskunft vorliegt (Amnesty International, Auskunft vom 27. Januar 2016 an das VG Karlsruhe – A 7 K 2542/14 –, S. 1). Nach Auskunft verschiedener Kontaktpersonen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wurden die Einreisekontrollen nach dem Putschversuch für alle einreisenden Personen verschärft. Dies gelte auch für kurdische Personen. Es habe schon vor dem Putschversuch Kontrollen bei der Einreise gegeben. Allerdings würden die Behörden heute über mehr Listen mit Namen von gesuchten Personen verfügen. Auf diesen Listen seien Personen vermerkt, welche angebliche Verbindungen zur Gülen-Bewegung, zur PKK oder zu einer anderen aus Sicht der Behörden terroristischen Organisation hätten. Diese Personen würden weiteren Kontrollen unterzogen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der Länderanalyse vom 7. Juli 2017 zur Türkei, S. 1 – 2). Welche Folgen dies für den Kläger haben kann, zeigt etwa ein Vorfall im Februar 2015, als einige Personen bei der Einreise in die Türkei festgenommen wurden, weil sie von den Grenzkontrolleuren als PKK-Kämpfer identifiziert wurden (Taylan, Auskunft vom 15. Dezember 2015 an das VG Karlsruhe – A 7 K 2542/14 –, S. 7). Eine mutmaßliche oder tatsächliche Unterstützung oder Verbindung zur PKK oder zu ähnlichen Gruppierungen kann zu einer Verhaftung durch den türkischen Staat führen. Verhaftungen erfolgen zum Teil willkürlich und Personen werden aufgrund fragwürdiger Indizien oder Geständnisse inhaftiert, als PKK-Mitglieder bezeichnet und angeklagt. In den Fokus geraten zudem auch Personen, die nur indirekt mit der PKK in Verbindung stehen. Behörden rufen zu Denunziationen von PKK-Sympathisierenden auf. Eine frühere Mitgliedschaft oder Aktivität in der PKK kann das Risiko einer erneuten Verhaftung erhöhen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei, Gefährdungsprofile, Update, 19. Mai 2017, S. 12 – 13).
Das Auswärtige Amt führt zwar aus, dass in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden sei, in dem ein aus Deutschland zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit seinen früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei, was auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen sowie als solche eingestufte Rückkehrer gelte. Diese Feststellung werde auch von türkischen Menschenrechtsorganisationen sowie von Auskünften anderer EU-Staaten und den USA geteilt (Lagebericht vom 19. Februar 2017, S. 29). Diese Einschätzung ist allerdings nur bedingt aussagekräftig, da sich den Angaben nicht entnehmen lässt, dass unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen Personen waren, bei denen nach der bisherigen Erkenntnislage mit Übergriffen zu rechnen gewesen wäre (OVG Schleswig-Holstein, U.v. 16.11.2017, a.a.O., Rn. 34 ff.; OVG Münster, U.v. 27.5.2016 – 9 A 653/11.A –, juris Rn. 136, OVG Lüneburg, U.v. 31.5.2016 – 11 LB 53/15 –, juris Rn. 39). Deshalb ist allgemein auf die Situation von Inhaftierten abzustellen, denen eine gegenwärtige oder frühere Verbindung zur PKK zugeschrieben wird. So beruft sich das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 19. September 2017 (Az. 1 VR 7/17 –, juris Rn. 53 f) auf eine Auskunft von Amnesty International vom 29. August 2017, wonach besonders häufig Personen, die der Unterstützung der PKK bezichtigt werden, sowie Personen, die der Beteiligung am Putschversuch im letzten Jahr beschuldigt werden, von Folter betroffen sein sollen.
Das Österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führt aus: Menschenrechtsverbänden zufolge gibt es Hinweise, dass die Anwendung von Folter und Misshandlungen weiterhin stattfinden, insbesondere an Personen in Polizeigewahrsam, jedoch nicht am Ort der Verhaftung, sondern an anderen Orten, wo ein Nachweis schwieriger zu dokumentieren ist. Die Schwächung der Schutzmaßnahmen gegen den Missbrauch in der Haft nach der Verhängung des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch wurde von zunehmenden Berichten über Folter und Misshandlungen in der Polizeigewalt begleitet, wie das Schlagen und Entkleiden von Inhaftierten, die Anwendung lang anhaltender Stresspositionen sowie die Androhung von Vergewaltigung. Betroffen von besagten Misshandlungen waren nicht nur Angehörige des Militärs und der Polizei, die im Zusammenhang mit dem Staatsstreich verhaftet wurden, sondern auch kurdische Gefangene im Südosten des Landes. Angehörige der Strafverfolgungsbehörden wenden die Notverordnungen nicht nur auf Personen an, die verdächtigt werden, sich am Putschversuch beteiligt zu haben, sondern auch auf Gefangene, die angeblich Verbindungen zu bewaffneten kurdischen oder linken Gruppierungen haben. Auch diesen Menschen wird jeder Schutz vor Folter und anderer unberechtigter Verfolgung entzogen. Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Folter, Nils Melzer, berichtete Anfang Dezember 2016 von seinen Vorortbeobachtungen. Er und sein Team trafen auf zahlreiche Berichte über Folter und andere Formen von Misshandlungen von Insassen, die der Mitgliedschaft bei der PKK verdächtigt wurden. Die meisten Berichte zu Misshandlungen bezogen sich auf den Polizeigewahrsam und die dortigen Verhöre (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Türkei, 7. Februar 2017, S. 40 – 41; Lage der Kurden – insbesondere der Haftbedingungen, 9. Februar 2017, S. 2). In den Berichten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe heißt es: Seit der erneuten Eskalation des Kurdenkonflikts Mitte 2015 und dem Putschversuch Mitte 2016 haben Folter und Misshandlungen durch Sicherheitskräfte stark zugenommen, darunter auch von Personen, die wegen angeblicher Verbindungen zur PKK beschuldigt wurden. Eine mutmaßliche oder tatsächliche Unterstützung oder Verbindung zur PKK oder zu ähnlichen Gruppierungen kann zu einer Verhaftung durch den türkischen Staat führen. Verhaftungen erfolgen zum Teil willkürlich und Personen werden aufgrund fragwürdiger Indizien oder Geständnisse inhaftiert, als PKK-Mitglieder bezeichnet und angeklagt. In den Fokus geraten zudem auch Personen, die nur indirekt mit der PKK in Verbindung stehen. Behörden rufen zu Denunziationen von PKK-Sympathisierenden auf. Wegen PKK-Verbindungen Verhaftete können keine fairen Verfahren erwarten und es besteht für sie ein erhebliches Risiko, in Haft misshandelt zu werden. Nach Angaben von verschiedenen Kontaktpersonen kann eine frühere Mitgliedschaft oder Aktivität in der PKK das Risiko einer erneuten Verhaftung erhöhen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei, Aktuelle Situation, Update, 19. Mai 2017, S. 13; Türkei, Gefährdungsprofile, Update, 19. Mai 2017, S. 12 – 13).
Die Einschätzung, dass eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung bei Personen bestehen kann, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als potenzielle Unterstützer der PKK angesehen werden, deckt sich mit der jüngeren Rechtsprechung anderer Obergerichte (vgl. OVG Schleswig-Holstein, U.v. 16.11.2017, a.a.O.; OVG Lüneburg, U.v. 31.5.2016 – 11 LB 53/15 –, juris Rn. 37; OVG Bautzen, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A –, juris Rn. 34; VGH Mannheim, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 –, juris Rn. 31; OVG Münster, U.v. 2.7.2013 – 8 A 2632/06.A –, juris Rn. 104; zu allem vgl. OVG Scheswig, U.v. 16.11.2017, a.a.O., juris Rn. 30 ff.).
Der Kläger muss befürchten, im Gewahrsam der türkischen Sicherheitskräfte gefoltert oder misshandelt zu werden. Insoweit hat sich die zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Türkei bestehende Lage gegenüber der in der Entscheidung des VG Stuttgart vom 29. Oktober 1999 (Az. A 3 K 14223/97) zugrunde gelegten Situation, wonach der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise (1997) jederzeit eine politischen Verfolgung wegen seines Mitgliedschaft in der HADEP befürchten musste, nicht erheblich und dauerhaft geändert. Die auf den seit 1999 umgesetzten Reformprozess gestützte positive Prognose (VG Freiburg, U.v. 16.3.2017 a.a.O., juris Rn. 24 unter Verweis auf den VGH Mannheim, U.v. 27.8.2013 a.a.O.; BayVGH, U.v. 27.4.2012 – 9 B 08.30203 -, juris), die auch dem streitgegenständlichen Bescheid zugrunde liegt, kann spätestens seit dem Putschversuch im Juli 2016 aufgrund des damit einhergehenden Ausnahmezustands nicht mehr aufrechterhalten werden. Auch wenn der Ausnahmezustand mit Wirkung zum 19. Juli 2018 geendet hat, sind durch ein am 25. Juli 2018 verabschiedetes Sicherheitsgesetz Befugnisse der Sicherheitsbehörden aus dem Ausnahmezustand in normales Recht überführt worden (http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-verabschiedet-neues-anti-terror-gesetz-a-1220210.html).
Der Umstand, dass seit der Ausreise des Klägers aus der Türkei ein verhältnismäßig langer Zeitraum vergangen ist (etwa 21 Jahre), lässt die beachtliche Verfolgungsgefahr nicht entfallen. In den vorliegenden Auskünften heißt es teilweise, die Länge eines Auslandsaufenthaltes sei aus der Sicht der türkischen Behörden nicht entscheidend (Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der Länderanalyse vom 17. Februar 2017 zur Türkei, S. 3; ähnlich Taylan, Auskunft vom 13. Januar 2017 an das VG Karlsruhe – A 10 K 3981/16 –, S. 21 f.). Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass diesbezügliche Erfahrungen fehlen (Amnesty International, Auskunft vom 9. März 2017 an das VG Karlsruhe – A 10 K 3981/16 –, S. 1). Der bloße Zeitablauf lässt es demnach einerseits nicht ausgeschlossen erscheinen, dass die Gefahr politischer Verfolgung geringer geworden ist. Andererseits reicht dies mangels konkreter und belastbarer Indizien nicht aus, um bei der erforderlichen qualifizierenden Betrachtung eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit zu verneinen (OVG Schleswig-Holstein, U.v. 16.11.2017, a.a.O., Rn. 36).
Da nach alledem die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellungen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht vorliegen, ist der angefochtene Bescheid in vollem Umfang auszuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben