Verwaltungsrecht

Widerruf der Niederlassungserlaubnis nach Widerruf der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  B 6 S 20.709

Datum:
21.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 27617
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, § 26 Abs. 3, § 35, § 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 60 Abs. 1, § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
AsylG § 73 Abs. 2b S. 1, § 75 Abs. 2 S. 1
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Ein Ausländer hat keinen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde aufenthaltsbeendende Maßnahmen erst nach Abschluss einer Sozialtherapie für Gewaltstraftäter im Strafvollzug einleitet. (Rn. 28)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen den Widerruf einer Niederlassungserlaubnis, die Anordnung bzw. Androhung der Abschiebung sowie gegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Der am … geborene Antragsteller ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit und reiste am … mit seiner Mutter und seinem Bruder in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom … wurde der Mutter des Antragstellers die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG a.F. zuerkannt. Mit Bescheid vom … wurde dem Antragsteller daraufhin im Rahmen des Familienflüchtlingsschutzes ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
Unter dem … erteilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller daraufhin erstmals eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Unter dem … erteilte sie dem Antragsteller eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG.
Mit rechtskräftigem Urteil des … wurde der Antragsteller wegen schwerer räuberischer Erpressung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, in Tatmehrheit mit räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, in Tatmehrheit mit versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Raub in Tateinheit mit räuberischer Erpressung, in Tatmehrheit mit Raub in Tatmehrheit mit Diebstahl in zwei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt.
Seit Juni 2019 ist der Antragsteller in der Justizvollzugsanstalt (JVA) … inhaftiert.
Im Folgenden widerrief das Bundesamt mit Bescheid vom … gegenüber dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft gem. § 73 Abs. 2b Satz 1 AsylG i.V.m. § 26 Abs. 4 und 5 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 AufenthG. Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller aufgrund der begangenen Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.d. § 60 Abs. 8 Satz 1 und Satz 3 AufenthG darstelle. Der hiergegen gerichtete Eilantrag des Antragstellers (B 9 S 19.31483) wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 30. Oktober 2019 abgelehnt; die Klage im Hauptsacheverfahren (B 9 K 19.31484) wurde mit Urteil vom 3. Dezember 2019 abgewiesen. Rechtsmittel wurden jeweils nicht eingelegt. Zur Begründung wurde in den vorgenannten gerichtlichen Entscheidungen insbesondere ausgeführt, dass das Bundesamt rechtsfehlerfrei davon ausgegangen sei, dass der Antragsteller eine Gefahr für die Allgemeinheit jedenfalls i.S.d. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG darstelle.
Mit Schreiben vom 12. Februar 2020 hörte die Antragsgegnerin die Mutter des zu diesem Zeitpunkt noch minderjährigen Antragstellers zum beabsichtigten Widerruf der dem Antragsteller erteilten Niederlassungserlaubnis an. Mit Schreiben vom 21. Februar 2020 äußerte sich der Antragsteller selbst schriftlich. Er verwies darauf, dass er seit über 13 Jahren in Deutschland lebe. Auch seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester lebten hier. Aufgrund empfundener Perspektivlosigkeit in der Pubertät habe er kriminelle Handlungen begangen, die er sehr bereue. Er nutze die Haftzeit, um an seiner Persönlichkeit zu arbeiten, und wolle nach Haftentlassung ein ehrliches Leben führen. In Tschetschenien habe er keine Angehörigen oder sonstigen sozialen Bindungen und sehe für sich keine Perspektive, zumal er auch die tschetschenische Sprache nicht beherrsche.
Mit Bescheid vom … widerrief die Antragsgegnerin die dem Antragsteller erteilte Niederlassungserlaubnis (Ziff. 1 des Bescheids) und ordnete seine Abschiebung aus der Haft nach Eintritt der Volljährigkeit an (Ziff. 2). Für den Fall der Vollziehbarkeit des Bescheids erst nach Haftentlassung wurde der Antragsteller aufgefordert, das Bundesgebiet unverzüglich, spätestens innerhalb von 30 Tagen nach Eintritt der Vollziehbarkeit zu verlassen (Ziff. 3). Es wurde zudem ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für das Bundesgebiet für die Dauer von zwei Jahren ab dem Tag der Ausreise ausgesprochen (Ziff. 4).
Zur Begründung wurde im Bescheid vom … im Wesentlichen ausgeführt: Aufgrund des bestandskräftigen Widerrufs der Flüchtlingseigenschaft lägen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG für den Widerruf der Niederlassungserlaubnis vor. Der Widerruf stehe daher im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde, die die Belange des Ausländers einerseits und das öffentliche Interesse andererseits abzuwägen habe. Es lägen zunächst keine Anhaltspunkte vor, dass der Antragsteller aus anderen Gründen einen Anspruch auf einen gleichwertigen Aufenthaltstitel habe. Bei Wegfall der Flüchtlingseigenschaft bestehe grundsätzlich ein gewichtiges öffentliches Interesse am Widerruf des Aufenthaltstitels, wenn – wie im Falle des Antragstellers – der für die Gewährung des Aufenthaltsrechts allein maßgebliche Aufenthaltszweck dadurch entfallen sei. Eine lange Aufenthaltsdauer lasse das öffentliche Interesse allerdings regelmäßig hinter den schutzwürdigen Belangen des Ausländers zurücktreten, wenn dieser in persönlicher, familiärer, wirtschaftlicher und beruflicher Hinsicht seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden habe. Im Falle des Antragstellers könne jedoch nicht von der erforderlichen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen werden. Hierfür sprächen maßgeblich die vom Antragsteller begangenen Straftaten, welche ein erhebliches öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung indizierten. Die Höhe der Strafe von drei Jahren und drei Monaten bei einer Erstverurteilung sei Ausdruck der Gefährlichkeit des Antragstellers. Im Falle des Antragstellers sei von einer fortbestehenden konkreten Wiederholungsgefahr auszugehen, wie auch das Verwaltungsgericht Bayreuth im Urteil vom 3. Dezember 2019 (B 9 K 19.31484) festgestellt habe. Daran änderten die vorliegenden Führungsberichte der JVA … vom 29. August 2019 und 24. März 2020 nichts. Die Antragsgegnerin habe die gravierenden Abweichungen der beiden Führungsberichte zum Anlass genommen, die JVA … um eine ergänzende Stellungnahme zu ersuchen. Denn der Führungsbericht vom 29. August 2019 zeichne vom Antragsteller ein überwiegend negatives Bild, während der Führungsbericht vom 24. März 2020 deutlich positiver ausfalle. Mit am 14. Mai 2020 bei der Antragsgegnerin eingegangenem Schreiben habe die JVA … die Abweichungen dahingehend erklärt, dass diese auf einem erfreulichen, im Jugendstrafvollzug aber nicht untypischen Anpassungsprozess in den ersten Monaten der Inhaftierung beruhten. Trotz dieser beschriebenen Entwicklung und der Ausführungen der JVA, dass der Antragsteller bei weiterhin positivem Haft- und Therapieverlauf nach Abschluss der sozialtherapeutischen Behandlung im Januar 2021 sein Risiko für zukünftige Gewaltstraftaten deutlich reduzieren können werde, könne dem Antragsteller jedoch aus Sicht der Antragsgegnerin keine positive Prognose ausgestellt werden. Der Antragsteller könne offensichtlich nur in den geregelten Strukturen des Strafvollzugs ein annehmbares Leben führen. Es sei deshalb zu befürchten, dass er nach Haftentlassung wieder in alte Verhaltensmuster zurückfalle. Zudem habe auch die JVA … nicht ausschließen können, dass im Falle des erfolgreichen Abschlusses der sozialtherapeutischen Behandlung weiterhin ein Risiko für künftige Gewaltstraftaten bestehe. Dem Vortrag des Antragstellers, er habe keine sozialen Bindungen in Tschetschenien und beherrsche die tschetschenische Sprache nicht, sei entgegenzuhalten, dass es ihm als russischem Staatsbürger freistehe, sich in anderen Teilen seines Heimatlandes niederzulassen. Zudem sei davon auszugehen, dass der im Alter von fünf Jahren mit seiner Mutter nach Deutschland eingereiste Antragsteller zumindest der russischen Sprache – seiner Muttersprache – mächtig sei. Die Integration in die Lebensverhältnisse seines Herkunftslandes sei auch unter Berücksichtigung des langen Aufenthalts in Deutschland möglich und zumutbar. Noch fehlende Sprachkenntnisse könne sich der Antragsteller sicherlich rasch aneignen. Die Beherrschung zusätzlich der deutschen Sprache sei ihm auf dem russischen Arbeitsmarkt gewiss von Vorteil. Auch ohne Verwandte in Russland sei davon auszugehen, dass der Antragsteller sein Existenzminimum dort sichern könne. Er werde zunächst ggf. Unterstützung seiner in Deutschland lebenden Familie erhalten und sei ansonsten auf seine Arbeitskraft zu verweisen. Die Befristung des anzuordnenden Einreise- und Aufenthaltsverbots auf zwei Jahre sei unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und in Anbetracht der erheblichen strafrechtlichen Verurteilung angemessen.
Gegen den Bescheid vom … erhob der am Tag des Eingangs der Klage bei Gericht ( … ) noch minderjährige Antragsteller, gesetzlich vertreten durch seine Mutter, Klage (B 6 K 20.710) mit dem Antrag, den vorgenannten Bescheid aufzuheben.
Zugleich ließ er beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Eine Begründung erfolgte nicht.
Die Antragsgegnerin beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung nahm sie auf die Gründe des angegriffenen Bescheids Bezug.
In der von der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 17. August 2020 vorgelegten Behördenakte sind die vorgenannten Führungsberichte der JVA … vom 29. August 2019 (Bl. 292) und 24. März 2020 (Bl. 285) sowie die ergänzende, bei der Antragsgegnerin am 14. Mai 2020 eingegangene Stellungnahme der JVA …(Bl. 296) enthalten. Dort finden sich u.a. folgende Passagen:
Führungsbericht v. 29.08.2019:
„Herr … ist auf einer normalen Station in einem Einzelhaftraum untergebracht. Er wird im Wohnbereich vorsichtiger, etwas unnahbarer junger Mann beschrieben, der sich oft überheblich, fordernd und berechnend gibt. Gegenüber Bediensteten verhält er sich vordergründig freundlich, wenn er etwas benötigt. Bei Ablehnungen wird er jedoch schnell anmaßend und flegelhaft. Von Mitgefangenen lässt er sich aufhetzen und er sucht Anschluss zu stärkeren Gefangenen. Seit dem 05.08.2019 nimmt Herr … am Grundlehrgang Konstruktionsmechanik teil. Hier gibt er sich gelangweilt und desinteressiert. Er scheint sich körperlich und geistig nicht anstrengen zu wollen. Bei Bediensteten möchte er einen guten Eindruck hinterlassen, hintergründig wird er als ungehorsam und hetzerisch beschrieben. An der Arbeit im Grundlehrgang scheint er kein Interesse zu haben. Eine Arbeitsleistung ist nicht messbar und er tut nur so viel, wie unbedingt nötig ist (…).
Hier in der Anstalt musste der Gefangene bisher einmal disziplinarisch belangt werden, weil er eine körperliche Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen hatte (…).
Da sich der junge Mann noch nicht lange in der hiesigen Anstalt befindet, ist eine aussagekräftigere Beurteilung zurzeit noch nicht möglich. Es erscheint sinnvoll, zu einem späteren Zeitpunkt eine neue Stellungnahme anzufordern. Gerade aufgrund seines jugendlichen Alters und der doch recht langen Strafzeit sollte die weitere Entwicklung abgewartet werden.“
Führungsbericht v. 24.03.2020
„Herr … wird von den mit ihm befassten Stationsbediensteten der sozialtherapeutischen Abteilung im Wesentlichen wie folgt beschrieben: er gebe sich immer locker und cool, sei nicht verschlossen und gehe auf seine Mitmenschen zu. Seine Charaktereigenschaften werden als anständig und respektvoll beschrieben, er könne auch diskutieren und seine Meinung und seinen Standpunkt durchaus offensiv vertreten. Wenn er in seinem Auftreten seine Grenzen übertrete und jugendtypisch über das Ziel hinaus schieße, sei es dennoch möglich, ihn zu bremsen und ihn auf seine Position und Stellung hinzuweisen. Unter Mitgefangenen habe er eine gehobene Stellung inne und sei auch im Gruppenalltag integriert und eher ein Wortführer als Mitläufer. Er arbeite am Vollzugs- und Therapieziel mit und habe sich auf der Sozialtherapie gut eingelebt und keinerlei Schwierigkeiten, die Herausforderungen zu meistern. Er habe das Potenzial, anstehende Hürden zu meistern und könne durchaus straffrei und in sozialer Verantwortung leben, wenn er an sich arbeite und gestellte Ziele ernsthaft verfolge (…).
Herr … nimmt an einer einzelpsychotherapeutischen Behandlung teil und besucht die deliktorientierte Gruppe, in der die Delikte be- und aufgearbeitet werden, worauf letztlich ein Rückfallvermeidungsplan erstellt werden wird.
Bei einem planmäßigen Durchlaufen des (…) Behandlungsprogramms ist bei den Jugendlichen von einer deutlichen Reduzierung des Rückfallrisikos, gerade auch im Gewaltbereich, auszugehen. Herr … arbeitet aktiv an dem hiesigen Behandlungsprogramm mit und spricht offen und ehrlich über seine bisherigen Erfahrungen und Problembereiche. Er tritt im Kontakt höflich und respektvoll auf und sucht den Kontakt zu der zuständigen Psychologin. Herr … vermittelt glaubhaft, dass er an sich arbeiten und seine bisherige Lebensführung ändern möchte. (…).
Auch der Sozialdienst sei der Ansicht, dass Herr … das Unterstützungsangebot gut annimmt. Herr … sei sozial gut eingebunden und pflege auch während der Haft einen guten Kontakt zu seiner, in Deutschland lebenden Familie. Er gibt an, dass er keinerlei soziale Kontakte in Tschetschenien habe und auch die Sprache unzureichend beherrsche (nur begrenzt sprachlich, schriftlich beherrsche er diese nicht). Herr … setze sich mit seiner beruflichen Perspektive auseinander und möchte nach der Haft beruflich Fuß fassen. Er möchte eine Ausbildung zum Gerüst- oder Metallbauer beginnen. In den Gesprächen mit ihm sei ersichtlich, dass er sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetze und seine Handlungen reflektiere. Sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber seiner Familie und der Wunsch nach einem „normalen, geregelten“ Leben seien bei ihm erkennbar (…).
Von dem mit ihm befassten Bediensteten in der Schule wird er wie folgt beschrieben: er zeige ein selbstbewusstes Auftreten und versuche sich anzupassen. Sein Charakter werde als selbstbewusst, impulsiv und reflektiert beschrieben. (…) Er verhalte sich gegenüber den Bediensteten höflich und vertrete seine Meinung. Gegenüber seinen Mitgefangenen verhalte er sich kameradschaftlich, manchmal auch dominant. Er erziele gute bis befriedigende Leistungen, zeige sich motiviert und anstrengungsbereit und erfülle seine Aufgaben. Seine Strafe scheine er zu akzeptieren und sehe ein, dass er Fehler gemacht habe. Er halte es auch für richtig, dass seine Straftaten entsprechend geahndet worden seien.“
Stellungnahme der JVA …, eingegangen bei der Antragsgegnerin am 14.05.2020:
„Der Gefangene wurde auf eigenen Antrag fortan in die Mittelschule eingeteilt. Dieser Betriebswechsel gab dem Gefangenen einen Motivationsschub, da er den Schulabschluss anstrebt und in der Schule bis heute gute bis sehr gute Leistungen zeigt.
Die oben beschriebene Veränderung zeigt eine erfreuliche, wenn auch nicht ungewöhnliche Entwicklung im Jugendvollzug. In den ersten Wochen und Monaten findet für viele Jugendliche, die erstmalig inhaftiert sind eine Anpassungsphase statt. Die engen Regeln und Strukturen des Jugendvollzugs fordern die, extramural an ganz andere Freiheitsgrade gewohnten Jugendlichen, sich an das Leben in Haft zu gewöhnen. Kombiniert mit den Mitteln des Jugendvollzugs (enge Bindung an die Stationsbediensteten und Fachdienste, regelmäßige Gespräche, berufliche Ausbildung, seelsorgerische Betreuung etc.) ist bei vielen Jugendlichen im ersten Halbjahr eine Nachreifung der Persönlichkeit zu beobachten. Im Fall des Gefangenen … fand Anfang Januar 2020 zeitgleich mit dem Betriebswechsel, auch ein Stationswechsel auf die sozialtherapeutische Abteilung für jugendliche Gewaltstraftäter (…) statt. (…) Der Gefangene konnte von der engen Bindung an das psychotherapeutisch geschulte Personal stark profitieren und erzielte binnen kurzer Zeit signifikante Veränderungen sowohl auf der Verhaltensebene, wie auch auf der kognitiven- und emotionalen Ebene.
Es ist davon auszugehen, dass der Gefangene, bei weiterhin positiven Haft- und Therapieverlauf nach Abschluss der sozialtherapeutischen Behandlung im Januar 2021 sein Risiko für zukünftige Gewalt Straftaten deutlich reduzieren konnte.“
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten einschließlich der beigezogenen Akten des Verfahren B 9 K 19.31484 verwiesen.
II.
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO) ist zulässig. Denn die erhobene Anfechtungsklage hat gem. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG i.V.m. § 75 Abs. 2 Satz 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung. Der Antrag wurde für den zum Zeitpunkt des Antragseingangs bei Gericht noch nicht prozessfähigen (vgl. § 62 Abs. 1 VwGO) Kläger durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin ordnungsgemäß erhoben.
2. Der Antrag ist unbegründet.
Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung, bei der die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage maßgeblich zu berücksichtigen sind, fällt zulasten des Antragstellers aus. Denn die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage wird nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg haben.
2.1. Es ist zunächst festzustellen, dass aufgrund des bestandskräftigen Widerrufs der Flüchtlingseigenschaft die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Widerruf der Niederlassungserlaubnis gem. § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG vorliegen. Die gerichtliche Prüfung ist in Bezug auf die erhobene Anfechtungsklage daher auf Überprüfung der behördlichen Ermessensausübung im Rahmen des § 114 Abs. 1 Satz 1 VwGO beschränkt. Das Gericht ist insofern gehindert, eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen oder eigene Ermessenserwägungen anstelle der behördlichen Ermessenserwägungen zu setzen (vgl. zu § 52 AufenthG: BVerwG, U.v. 20.2.2003 – 1 C 13/02 – juris Rn. 20, 28). Relevant ist daher nur, ob die behördliche Ermessensausübung rechtlich relevante Ermessensfehler erkennen lässt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung oder gerichtlichen Entscheidung (BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10/09 – juris Rn. 11).
2.2. Nach der Rechtsprechung des BVerwG (vgl. U.v. 20.2.2003 – 1 C 13/02 – juris Rn. 16 ff.) und verbreiteter obergerichtlicher Rechtsauffassung (VGH BW, U.v. 15.7.2009 – 13 S 2372/08 – juris Rn. 43; U.v. 26.7.2006 – 11 S 951/06 – juris Rn. 22 f.; U.v. 22.2.2006 – 11 S 1066/05 – juris Rn. 23; B.v. 10.11.2005 – 11 S 650/05 – juris Rn. 14 ff.; NdsOVG, U.v. 14.5.2009 – 8 LB 18/07 – NVwZ-RR 2009, 859/860) ist das nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG der Ausländerbehörde eingeräumte Ermessen nicht an bestimmte, das Ermessen von vornherein begrenzende und dieses steuernde Vorgaben gebunden, sondern grundsätzlich weit. Angesichts der existentiellen Betroffenheit des Ausländers, der infolge eines Widerrufs sein – oftmals lange währendes – Aufenthaltsrecht verliert, bedarf die Ermessensausübung und demgemäß auch die Ermessenskontrolle besonderer Sorgfalt. Im Ausgangspunkt darf die Behörde regelmäßig davon ausgehen, dass ein gewichtiges öffentliches Interesse am Widerruf besteht, sofern dem Ausländer kein gleichwertiger Aufenthaltstitel zu erteilen ist. Dies liegt darin begründet, dass mit dem Wegfall des Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus die wesentliche und im Grunde einzige Voraussetzung für die Erteilung des Titels entfallen ist. Wenn dieses öffentliche Interesse typischerweise als erheblich qualifiziert wird, bedeutet dies jedoch nicht, dass sich dieses regelhaft gegenüber den gegenläufigen privaten oder auch ggf. öffentlichen Interessen von grundsätzlich gleichem Gewicht durchsetzen muss. Vielmehr ist anhand einer den konkreten Einzelfall in den Blick nehmenden Abwägung den jeweils relevanten schutzwürdigen Belangen des Ausländers mit dem ihnen zukommenden Gewicht Rechnung zu tragen. Von erheblicher Bedeutung sind daher die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die dabei entwickelten und aufgebauten persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Betroffenen zur Bundesrepublik Deutschland, wenn und soweit sie im konkreten Fall schutzwürdig und schutzbedürftig sind. Auch Duldungsgründen im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG kommt rechtserhebliche Bedeutung zu. Weiter ist zu beachten, dass die Bewertung und Gewichtung der persönlichen Belange nicht (einschränkend) daran gebunden ist, ob dem Ausländer deswegen jeweils einer der im Gesetz typisierten Aufenthaltstitel erteilt werden dürfte oder nicht. Zulässig ist allerdings, die hinter diesen Voraussetzungen stehenden (öffentlichen wie persönlichen) Belange ihrer Bedeutung im Einzelfall gemäß zu gewichten und in die Gesamtabwägung einzustellen.
Bei Würdigung des Aufenthalts des Asylberechtigten bzw. Flüchtlings muss schließlich zugunsten des Ausländers in den Blick genommen werden, dass der Gesetzgeber dieses Aufenthaltsrecht übergangslos durch Gewährung eines „hochwertigen“ Aufenthaltstitels abgesichert hat. Nach der früheren Rechtslage geschah dies in der Form der sogleich zu erteilenden unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (§ 68 Abs. 1 AsylVfG a.F.), gegenwärtig durch eine zunächst auf drei Jahre befristete (§ 26 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) Aufenthaltserlaubnis und nach fünf (§ 26 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) bzw. drei (§ 26 Abs. 3 Satz 3 AufenthG) Jahren durch den Übergang in eine Niederlassungserlaubnis gem. § 26 Abs. 3 AufenthG. Ziel dieser Absicherung war und ist es, die Integration des Ausländers in die deutsche Gesellschaft nach Möglichkeit zu fördern. Demgemäß kommt den von dem Asylberechtigten bzw. Flüchtling während dieser Aufenthaltsphase tatsächlich im Einzelfall erbrachten – vom Gesetz gewollten – Integrationsleistungen besondere Bedeutung zu. Sie sind uneingeschränkt im Fall eines späteren (Ermessens-)Widerrufs, mit dem das Aufenthaltsrecht insoweit „belastet“ ist, als schutzwürdige persönliche Belange des Ausländers in den Entscheidungsvorgang einzustellen. Gelingt diese Integration nicht, was insbesondere durch Begehung von Straftaten oder den regelmäßigen Bezug öffentlicher Mittel im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG belegt sein kann, indiziert dies ein erhebliches öffentliches Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Verläuft die Integration hingegen den Umständen entsprechend erfolgreich, so kann es je nach Lage des Einzelfalls auch mit öffentlichen Belangen vereinbar sein, von einer Aufenthaltsbeendigung abzusehen (vgl. zum Ganzen auch Fehrenbacher in HTK-AuslR, § 52 AufenthG, zu Abs. 1 Nr. 4, Rn. 22 ff., Stand 25.10.2017; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 7. Aufl. 2020, § 7 Rn. 39 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Sept. 2020, § 52 AufenthG Rn. 27 ff.).
Die Begehung von Straftaten indiziert ein erhebliches öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung (Fehrenbacher in HTK-AuslR, § 52 AufenthG, zu Abs. 1 Nr. 4 Rn. 58 m.w.N.). Die Ausländerbehörde hat sich in diesem Fall jedoch inhaltlich mit dem Gewicht der Straftaten und einer Wiederholungsgefahr auseinanderzusetzen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2003 – 1 C 13/02 – juris Rn. 22; Fehrenbacher, a.a.O., Rn. 59). Ein Widerruf wird im Rahmen des § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG allerdings nicht dadurch gehindert, dass sich der Betroffene im Falle eines Ausweisungsverfahrens auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse i.S.d. § 55 Abs. 1 AufenthG berufen könnte (vgl. VGH BW, B.v. 10.11.2005 – 11 S 650/05 – juris Rn. 13 ff.) Denn diese Maßstäbe des Ausweisungsrechts sind auf den Widerruf nach § 52 AufenthG weder direkt noch entsprechend anwendbar. Die beiden Rechtsinstitute unterscheiden sich grundlegend darin, dass die Ausweisung in ein bestehendes Aufenthaltsrecht eingreift, während der Widerruf nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG an eine bereits erloschene Schutzberechtigung anknüpft (vgl. VGH BW, B.v. 10.11.2005 – 11 S 650/05 – juris Rn. 17; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Sept. 2020, § 52 AufenthG Rn. 27). Die Gewährung des Aufenthaltsrechts nach Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung ist, auch wenn es unbefristet erteilt wurde, von vorneherein mit der gesetzlich vorgesehenen Widerrufsmöglichkeit nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG „belastet“ (VGH BW, a.a.O., Rn. 17). Die Ausländerbehörde ist insofern nicht darauf beschränkt, den Widerruf nur noch aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auszusprechen (Fehrenbacher in HTK-AuslR, § 52 AufenthG, zu Abs. 1 Nr. 4, Rn. 61).
2.3. Ausgehend von diesen Maßstäben wird die behördliche Ermessensausübung den rechtlichen Anforderungen gerecht.
Nicht zu beanstanden ist zunächst, dass die Antragsgegnerin davon ausgeht, dass dem Antragsteller kein Anspruch auf einen gleichwertigen Aufenthaltstitel aus anderen Gründen zusteht. Anhaltspunkte für einen Anspruch auf einen vom asylbedingten Aufenthalt unabhängigen (vgl. dazu BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10/09 – NVwZ 2010, 1369 Rn. 18; NdsOVG, U.v. 14.5.2009 – 8 LB 18/07 – NVwZ-RR 2009, 859/860) Aufenthaltstitel liegen nicht vor. Der bisherige Aufenthalt des Antragstellers beruhte allein auf dem nunmehr widerrufenen Flüchtlingsstatus. Auch losgelöst hiervon ist unter Berücksichtigung der nachstehenden Ausführungen nicht ersichtlich, dass der Antragsteller die Erteilungsvoraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach anderen in Betracht kommenden Anspruchsnormen wie § 26 Abs. 4 AufenthG i.V.m. § 35 AufenthG oder § 36 Abs. 2 AufenthG erfüllen könnte (vgl. nur §§ 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG bzw. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG).
Die Antragsgegnerin hat das öffentliche Interesse am Widerruf der Niederlassungserlaubnis in rechtlich nicht zu beanstandender Weise gewichtet. Der strafrechtlichen Verurteilung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten hat die Antragsgegnerin zu Recht erhebliches Gewicht beigemessen und ist insoweit zutreffend davon ausgegangen, dass diese ein erhebliches öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung indiziert. Dass die Antragsgegnerin aus der für eine Erstverurteilung beachtlichen Strafhöhe auf die Gefährlichkeit des Antragstellers geschlossen hat, ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Antragsgegnerin hat sich dabei nach Überzeugung der Kammer in hinreichendem Maße mit den abgeurteilten Straftaten und einer bestehenden Wiederholungsgefahr auseinandergesetzt. Nicht unberücksichtigt bleiben kann in diesem Zusammenhang, dass dem Widerrufsverfahren nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG ein erst Anfang diesen Jahres rechtskräftig abgeschlossenes asylrechtliches Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 2b Satz 1 AsylG vorausging, bei dem es – sowohl im behördlichen als auch im gerichtlichen Verfahren – maßgeblich um die Frage ging, ob der Antragsteller aufgrund der begangenen Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.d. § 60 Abs. 8 Satz 1 bzw. Satz 3 AufenthG darstellt. Eine solche Gefahr wurde im Bescheid des Bundesamts vom 10. Oktober 2019 und im Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 3. Dezember 2019 (B 9 K 19.31484) bejaht. Dass die Antragsgegnerin dies als Ausgangspunkt ihrer Ermessenserwägungen herangezogen und dem gewichtige Bedeutung beigemessen hat, ist nachvollziehbar und begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Antragsgegnerin hat es jedoch nicht bei den Feststellungen aus dem vorgegangenen asylrechtlichen Widerrufsverfahren belassen, sondern erkannt, dass sie im Widerrufsverfahren nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG eine eigenständige Ermessensentscheidung zu treffen und dabei auch solche Umstände, die erst nach dem asylrechtlichen Widerrufsverfahren eingetreten sind, zu berücksichtigen hat. Sie hat deshalb den zwischenzeitlich vorliegenden weiteren Führungsbericht der JVA … vom 24. März 2020 geprüft und dabei erhebliche Abweichungen zu dem im asylrechtlichen Widerrufsverfahren allein vorliegenden und gewürdigten Führungsbericht vom 29. August 2019 festgestellt. Dies hat die Antragsgegnerin zum Anlass für weitere Ermittlungen genommen und die JVA … um eine ergänzende Stellungnahme ersucht. Die verschiedenen Stellungnahmen der JVA wurden im Bescheid vom 9. Juli 2020 gewürdigt. Dass die Antragsgegnerin trotz der in den genannten Stellungnahmen der JVA aufgezeigten positiven Entwicklung im Strafvollzug davon ausgegangen ist, dass von dem Antragsteller weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, ist nach Auffassung der Kammer nicht rechtsfehlerhaft.
Ermessensfehler ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass die Antragsgegnerin der Formulierung in der letzten Stellungnahme der JVA …, wonach nach Einschätzung der JVA davon auszugehen sei, dass der Antragsteller „bei weiterhin positiven Haft- und Therapieverlauf nach Abschluss der sozialtherapeutischen Behandlung im Januar 2021 sein Risiko für zukünftige Gewalt Straftaten deutlich reduzieren“ (Bl. 297 d. Behördenakte) können werde, keine entscheidende Bedeutung beigemessen hat. Denn maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage und damit auch für die gerichtliche Ermessenskontrolle ist nach den obigen Ausführungen (unter 2.2.) der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im vorliegenden Verfahren. Zu diesem Zeitpunkt liegen jedoch keine belastbaren Erkenntnisse dafür vor, dass der Antragsteller nicht (mehr) als Gefahr für die Allgemeinheit anzusehen ist, welche das besondere öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung entkräften könnten. Aus der zitierten Stellungnahme der JVA … ergibt sich nämlich allenfalls, dass das Risiko weiterer Gewaltstraftaten zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt deutlich reduziert sein könnte. Auch diese Prognose stellt die JVA unter den Vorbehalt eines weiterhin positiven Haft- und Therapieverlaufs. Die Antragsgegnerin ist jedoch rechtlich nicht verpflichtet, bei ihrer Ermessensausübung einschließlich einer Gefahrenprognose den Abschluss einer Therapie oder auch die Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung abzuwarten (vgl. zum Freizügigkeitsrecht: BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 19 ZB 19.914 – juris Rn. 19 a.E.; zum Ausweisungsrecht: BayVGH, B.v. 27.10.2017 – 10 ZB 17.993 – juris Rn. 16). Mit anderen Worten: Der Antragsteller hat kein Recht darauf, dass die Antragsgegnerin mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abwartet, bis sich die Ziele und (ggf. positiven) Wirkungen des deutschen Strafvollzugs bei ihm manifestiert haben. Dass bereits zum jetzigen Zeitpunkt gewichtige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass von dem Antragsteller keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr ausgehen wird, ist für die Kammer hingegen nicht erkennbar.
Die Gewichtung der persönlichen Belange des Antragstellers im Rahmen der behördlichen Ermessensausübung begegnet ebenfalls keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Gericht verkennt nicht, dass der Widerruf der Niederlassungserlaubnis für den Antragsteller, der als fünfjähriges Kind mit seiner Familie in die Bundesrepublik eingereist ist, gravierende Auswirkungen auf die weitere Lebensgestaltung hat. Die diesbezüglichen Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin genügen jedoch den rechtlichen Anforderungen.
Zu betonen ist in dieser Stelle nochmals, dass die Antragsgegnerin von Rechts wegen nicht verpflichtet war, zugunsten des Antragstellers nach ausweisungsrechtlichen Maßstäben ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse (§ 55 Abs. 1 AufenthG) – dem im Übrigen ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüberstünde – zu berücksichtigen (s.o. unter 2.2. und VGH BW, B.v. 10.11.2005 – 11 S 650/05 – juris Rn. 13 ff.).
Keiner näherer Erörterung bedarf des Weiteren, ob der Antragsteller als sog. „faktischer Inländer“ anzusehen ist. Der Begriff “faktischer Inländer“ ist nicht einheitlich definiert, sondern wird in der Rechtsprechung unterschiedlich umschrieben (BayVGH, B.v. 10.04.2019 – 19 ZB 17.1535 – juris Rn. 30). Das BVerwG bezeichnet faktische Inländer als “im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kinder, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten“ (U.v. 16.7.2002 – 1 C 8/02 – juris Rn. 23). Das BVerfG umschreibt den Begriff mit „hier geborene bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommene Ausländer“ (B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19). Unabhängig von diesen Begrifflichkeiten erfolgte im hier angegriffenen Bescheid nämlich jedenfalls eine nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerfG, a.a.O.) bei „faktischen Inländern“ gebotene, einzelfallbezogene Würdigung des Maßes der Verwurzelung in der Bundesrepublik und der Entwurzelung im Herkunftsland, die nach Überzeugung der Kammer den verfassungsrechtlichen Vorgaben und den Vorgaben des Art. 8 EMRK gerecht wird. Durch den Widerruf der Niederlassungserlaubnis wird zwar in die allgemeine Handlungsfreiheit des Antragstellers (Art. 2 Abs. 1 GG) und sein Recht auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK eingegriffen. Dieser Eingriff stellt sich jedoch als verhältnismäßig dar.
Die Antragsgegnerin hat den durch die erhebliche Straffälligkeit belegten Integrationsmängeln die vorhandenen Bande des Antragstellers zu seinem Herkunftsland gegenübergestellt. Sie geht insbesondere davon aus, dass bei dem Antragsteller hinreichende Sprachkenntnisse – zumindest der russischen Sprache – vorhanden sind, um sich in zumutbarer Weise in die Lebensverhältnisse seines Herkunftslandes zu integrieren. Dass die Antragsgegnerin dabei von unzutreffenden tatsächlichen Umständen ausgegangen ist, ist nicht ersichtlich. Es kann bei dem Antragsteller, der als Fünfjähriger mit seiner Mutter ins Bundesgebiet eingereist und seitdem – bis zu seiner Inhaftierung – über längere Zeit mit dieser in einem gemeinsamen Haushalt lebte, davon ausgegangen werden, dass er seine Muttersprache hinreichend beherrscht. Sofern der Antragsteller im Rahmen seiner Anhörung im ausländerrechtlichen Widerrufsverfahren vorgebracht hat, er beherrsche die „tschetschenische Sprache“ nicht, steht dem im Übrigen gegenüber, dass er im Führungsbericht der JVA … dahingehend zitiert wird, dass er diese Sprache „unzureichend beherrsche (nur begrenzt sprachlich, schriftlich beherrsche er diese nicht)“. Dass die Antragsgegnerin hinsichtlich etwaiger verbleibender Sprachdefizite ergänzend darauf verweist, dass der Antragsteller sich diese im Herkunftsland sicherlich rasch aneignen kann, stellt dies angesichts des jungen Alters des Antragstellers, der im Strafvollzug als selbstbewusst, durchsetzungsstark, teils dominant und fähig, seinen Standpunkt zu vertreten und auf andere Menschen zuzugehen, beschrieben wird, keinen Ermessensfehler dar.
Auch der Umstand, dass die Mutter und Geschwister des Antragstellers weiterhin in Deutschland leben, lässt den angegriffenen Bescheid nicht ermessensfehlerhaft erscheinen. Der rechtlich verbürgte Schutz der Familie gebietet es nicht, volljährigen Kindern den dauerhaften Aufenthalt mit ihren in Deutschland lebenden Eltern zu ermöglichen (NdsOVG, B.v. 30.1.2007 – 10 ME 264/06 – juris Rn. 9; Fehrenbacher in HTK-AuslR, § 52 AufenthG, zu Abs. 1 Nr. 4 Rn. 55, Stand 25.10.2017). Soweit der Antragsteller die enge Beziehung zu seiner Familie, die ihm nach seiner Aussage wichtigen Halt gebe, betont, steht dem im Übrigen gegenüber, dass es nach den strafgerichtlichen Feststellungen zu den Straftaten insbesondere deshalb kam, weil seine Mutter jeglichen Einfluss auf ihn verloren hat (Bl. 179 d. Behördenakte).
Auch in wirtschaftlicher und beruflicher Hinsicht ist der Antragsteller nicht in einem solchem Maße im Bundesgebiet verwurzelt, dass sich der Widerruf der Niederlassungserlaubnis ihm gegenüber als rechtlich unzumutbar darstellt. Zu den Straftaten kam es nach eigenen Angaben des Antragstellers im Rahmen seiner Anhörung im ausländerrechtlichen Widerrufsverfahren u.a. deshalb, weil er beruflich keine Perspektive gesehen habe. Sofern er dort weiterhin vorgebracht hat, dass er plane, nach Haftentlassung eine Ausbildung zum Gerüst- und Metallbauer beginnen zu wollen, handelt es sich dabei um Absichten, die allenfalls künftig zu einer entsprechenden Verwurzelung führen könnten. Es ist insofern nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Antragsgegnerin den jungen und augenscheinlich gesunden Antragsteller darauf verweist, in seinem Herkunftsland – ggf. auch unter Nutzbarmachung zusätzlich seiner deutschen Sprachkenntnisse – mittels seiner eigenen Arbeitskraft wirtschaftlich Fuß zu fassen.
2.4. Hinsichtlich der Ziff. 2 bis 4 des angegriffenen Bescheids sind Rechtsfehler weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insbesondere liegen keine Anhaltspunkte für Ermessensfehler bei der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 3 AufenthG) auf zwei Jahre vor.
3. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 8.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben