Verwaltungsrecht

Widersprüchliche Tatsachenfeststellungen im Urteil

Aktenzeichen  1 C 10/18

Datum:
22.5.2019
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2019:220519U1C10.18.0
Normen:
§ 108 Abs 1 S 1 VwGO
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

Bleibt aufgrund widersprüchlicher tatsächlicher Feststellungen des Tatsachengerichts offen, von welchem Sachverhalt das Gericht im Rahmen seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung überzeugt ist, fehlt es an einer dem § 108 Abs. 1 VwGO genügenden richterlichen Überzeugungsbildung.

Verfahrensgang

vorgehend VG Stuttgart, 8. Januar 2018, Az: A 11 K 10345/17, Urteil

Tatbestand

1
Der Kläger, ein 1999 geborener syrischer Staatsangehöriger, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er reiste eigenen Angaben zufolge im Januar 2016 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und beantragte im April 2016 die Anerkennung als Asylberechtigter.
2
Mit Bescheid vom 6. Juni 2017 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab. Von Feststellungen zu nationalen Abschiebungsverboten sah es ab.
3
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Der Kläger habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, weil eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgung unter dem Aspekt der Wehrdienstentziehung drohe. Allerdings könne sich der Kläger nicht auf § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG berufen, weil er als bislang ungedienter Wehrpflichtiger noch keiner Militäreinheit zugeteilt worden sei, sodass derzeit unklar sei, wo er gegebenenfalls einmal eingesetzt werde und welche Aufgaben ihm dann oblägen. Der Kläger müsse aber bei einer Rückkehr nach Syrien mit menschenrechtswidriger Behandlung durch den syrischen Staat rechnen, weil er sich durch eine unerlaubte Ausreise aus Syrien und einen Verbleib im Ausland dem Militärdienst entzogen habe. Diese Behandlung sei auf eine (unterstellte) oppositionelle Haltung des Klägers gerichtet. Zur Begründung werde auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg in dessen Urteil vom 2. Mai 2017 – A 11 S 562/17 – verwiesen. Dieser habe ausgeführt, bei einer Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel drohe syrischen Männern im wehrdienstfähigen Alter bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter durch syrische Sicherheitskräfte. Ferner gebe es Hinweise darauf, dass alle, die sich dem Regime entziehen – wie es Wehrpflichtige tun, zumal wenn sie illegal ins Ausland reisen – als Oppositionelle und je nach bisheriger Funktion als “Landesverräter” betrachtet würden. Schon bei der ersten Befragung sei mit erheblichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, nämlich Misshandlung und Folter zu rechnen. Unerheblich sei, dass nicht mit Sicherheit gesagt werden könne, dass alle Einreisenden ausnahmslos betroffen seien. Der infrage kommende Personenkreis stehe aufgrund der bestehenden Wehrpflicht in besonderer Weise im Visier der Sicherheitskräfte und sei deshalb in hervorgehobenem Maße gefährdet. Eine realitätsnahe Bewertung des Charakters des gegenwärtigen syrischen Regimes und seiner Handlungen und Aktivitäten gegenüber seiner Bevölkerung lasse keine andere Deutung zu, als dass diese an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG (politische Überzeugung) anknüpften. Das syrische Regime sei von einem “Freund-Feind-Schema” als alles durchziehendes Handlungsmuster geprägt. Es sei kein realistisches anderes Erklärungsmuster für das Vorgehen der syrischen Grenz- und Sicherheitsbehörden zu erkennen, als dass an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal angeknüpft werde. Gerade im Fall eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetze und sich in einem existenziellen Überlebenskampf befinde, liege es nahe, dass dieses von einer potentiellen Gegnerschaft bei den Misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgehe. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes begegne allerdings gewichtigen Bedenken, wie im Einzelnen unter diesem entgegenstehenden tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen der Erkenntnismittel ausgeführt wird. Das Gericht schließe sich indes der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, die wenig Überzeugungskraft habe, unter Zurückstellung dieser Bedenken aus “Gründen der Einheit der Rechtsordnung” an.
4
Mit der Sprungrevision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 3 Abs. 1 AsylG. Das Verwaltungsgericht gehe von der Rechtsauffassung aus, dass die Prognose der Rückkehrgefährdung von sich im Ausland befindlichen männlichen syrischen Staatsangehörigen im rekrutierungsfähigen Alter, die ohne Genehmigung der Militärbehörden Syrien verlassen haben, nach den Grundsätzen der Gruppenverfolgung zu erfolgen habe. Hierbei habe es in Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 – 10 C 11.08 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz Nr. 39 Rn. 17) weder konkrete Referenzfälle festgestellt noch die gebotenen Feststellungen zur Verfolgungsdichte anhand eines einschlägig konkreten Verfolgungsgeschehens in Relation zur in Betracht zu ziehenden Personengruppe getroffen noch sich mit Feststellungen zu einem etwaigen Verfolgungsprogramm befasst. Im Rahmen der prognostischen Betrachtung mache sich das Tatsachengericht allein die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofes zu eigen, wonach bereits der Charakter des syrischen Regimes die Feststellung eines Verfolgungsgrundes im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG rechtfertige. Es gehe somit rechtsfehlerhaft von einer Vermutung aus, die die Feststellung eines beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgrundes tragen solle. Es sei zwar in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass bei unübersichtlicher Tatsachengrundlage beziehungsweise nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet eine Prognose auch auf der Grundlage einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen und einer zusammenfassenden Bewertung erfolgen könne. Dies entbinde jedoch nicht von der notwendig vorzunehmenden Aufklärung und Feststellung konkreter Verfolgungshandlungen und bei gruppenbezogenen Gefahrenlagen der Inbezugsetzung zur Größe der verfolgten Gruppe. Abgesehen davon, dass Feststellungen zu Referenzfällen fehlten, habe sich das Tatsachengericht auch nicht damit befasst, dass nach den Erkenntnisquellen Hunderttausende syrische Flüchtlinge jedes Jahr nach Syrien einreisten, um dort persönliche Angelegenheiten zu regeln, bevor sie wieder in die benachbarten Länder zurückkehrten.
5
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.
6
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht am Verfahren beteiligt.


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