Verwaltungsrecht

XIII ZB 71/20

Aktenzeichen  XIII ZB 71/20

Datum:
22.6.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:220621BXIIIZB71.20.0
Normen:
§ 15 Abs 6 AufenthG
§ 62 AufenthG
§ 62a AufenthG
Spruchkörper:
13. Zivilsenat

Verfahrensgang

vorgehend LG Frankfurt, 26. August 2020, Az: 2-29 T 72/20vorgehend AG Frankfurt, 2. März 2020, Az: 934 XIV 561/20 B

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 26. August 2020 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1
I. Der Betroffene, ein zu diesem Zeitpunkt knapp siebenjähriger algerischer Staatsangehöriger, traf am 9. Januar 2020 zusammen mit seinen Eltern und zwei älteren minderjährigen Geschwistern mit einem Flug aus Algier im Transitbereich des Flughafens Frankfurt am Main ein. Da er einen algerischen Reisepass mit einem bulgarischen Visum mit sich führte, verweigerte ihm die beteiligte Behörde mit Verfügung vom 10. Januar 2020 die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland. In der Folgezeit stellten seine Eltern für ihn einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt) vom 16. Januar 2020 als unzulässig abgelehnt wurde; zugleich ordnete das Bundesamt die Überstellung des Betroffenen nach Bulgarien zur Durchführung des Asylverfahrens an. Die hiergegen und gegen die Einreiseverweigerung gerichteten Anträge des Betroffenen auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschlüssen vom 7. Februar 2020 ab.
2
Nach vorangegangenen einstweiligen Anordnungen ordnete das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 12. Februar 2020 den Aufenthalt des Betroffenen und seiner Familie in der Asylbewerberunterkunft des Flughafens bis zum 26. Februar 2020 an. Die für den 26. Februar 2020 geplante Überstellung scheiterte, weil die Mutter des Betroffenen beim Besteigen des Flugzeugs Widerstand leistete und seine Schwester über das Vorfeld wegzulaufen versuchte, sodass der Pilot die Mitnahme der Familie verweigerte.
3
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 26. Februar 2020 den Aufenthalt des Betroffenen in der Asylbewerberunterkunft des Flughafens bis zum 10. März 2020 verlängert. Die dagegen gerichtete, nach der Abreise am 5. März 2020 mit einem Feststellungsantrag fortgesetzte Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt dieser sein Begehren weiter.
4
II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
5
1. Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen für die Verlängerung des Aufenthalts des Betroffenen in der Asylbewerberunterkunft des Flughafens nach § 15 Abs. 6 AufenthG hätten vorgelegen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei gewahrt worden.
6
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde war die Verlängerung der Anordnung bis zum 10. März 2020 rechtmäßig.
7
a) Zutreffend hat das Beschwerdegericht angenommen, dass ein generelles Verbot der Anordnung des Aufenthalts von Familien mit Kindern im Transitbereich eines Flughafens nicht besteht (BGH, Beschluss vom 25. August 2020 – XIII ZB 40/19, InfAuslR 2021, 73 Rn. 9 mwN).
8
b) Ebenfalls zu Recht hat das Beschwerdegericht angenommen, dass die Verlängerung des Transitaufenthalts des Betroffenen nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt.
9
aa) Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Anordnung von Freiheitsbeschränkungen in Form der Anordnung des Aufenthalts in einer Transitunterkunft gegenüber Minderjährigen aufgrund der Schwere des Eingriffs besondere Bedeutung zukommt. Dies folgt aus einer Übertragung der für die Abschiebungshaft gesetzlich geregelten Vorgaben. So ordnet § 62 Abs. 1 Satz 3 AufenthG im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Sicherungshaft an, dass Familien mit Minderjährigen nur in besonderen Ausnahmefällen und nur so lange in Abschiebungshaft genommen werden dürfen, wie es unter Berücksichtigung des Kindeswohls angemessen ist. Nach § 62a Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG sind Angehörige einer Familie im Rahmen der Abschiebungshaft getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen und ist ihnen ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten. Der besonderen Verletzlichkeit minderjähriger Abschiebungsgefangener trägt § 62a Abs. 3 AufenthG Rechnung, wonach deren alterstypischen Belange zu berücksichtigen sind und allgemein der Situation schutzbedürftiger Personen besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. Bei der Anordnung des Aufenthalts in einer Transitunterkunft gemäß § 15 Abs. 6 AufenthG sind diese Grundsätze – unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit – ebenfalls zu beachten, wobei die Prüfung des Gerichts wie bei der Anordnung von Abschiebungshaft auf bereits im Zeitpunkt der Anordnung bestehende oder absehbare strukturelle Defizite beschränkt ist (vgl. BGH, InfAuslR 2021, 73 Rn. 12 mwN).
10
bb) Nach diesen Maßstäben erweist sich die Verlängerung des Aufenthalts des Betroffenen nicht als unverhältnismäßig.
11
(1) Ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unter dem Gesichtspunkt bestehender oder im Zeitpunkt der Verlängerung absehbarer struktureller Defizite der Unterbringung des Betroffenen liegt nicht vor. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts standen dem Betroffenen und seiner Familie in der Asylbewerberunterkunft des Flughafens Frankfurt am Main ein abschließbares Familienzimmer in einem separaten Bereich, ausreichende und auch altersgerechte Spiel-, Sport- und Beschäftigungsmöglichkeiten, frei zugängliche Telefone für Gespräche mit Freunden und Verwandten, Räume zur Relig-ionsausübung, zu jeder Zeit soziale und psychologische Betreuung sowie medizinische Versorgung zur Verfügung.
12
(2) Die Verlängerung der Aufenthaltsanordnung bis zum 10. März 2020 war auch in zeitlicher Hinsicht verhältnismäßig. Sie war nach dem Scheitern der für den 26. Februar 2020 geplanten Überstellung des Betroffenen und seiner Familie erforderlich. Eine Rückführung des Betroffenen lediglich zusammen mit seinem Vater war nicht möglich, weil der Pilot die Beförderung der gesamten Familie verweigerte. Zudem wäre eine Trennung der Familie für den Betroffenen im Hinblick auf Art. 6 GG weniger angemessen gewesen als eine Verlängerung des Aufenthalts in der Asylbewerberunterkunft von zwölf Tagen. Angesichts der Tatsache, dass dem Betroffenen beide Elternteile als Betreuungspersonen zur Verfügung standen und er sich in der Gesellschaft zweier älterer Geschwister befand, war die Anordnung auch im Hinblick auf die Gesamtdauer des Aufenthalts in der Transitunterkunft von zwei Monaten verhältnismäßig.
13
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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