Verwaltungsrecht

Zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Verwaltungsgerichte, Maßgeblicher Zeitpunkt, Anerkannte Schutzberechtigte, Erniedrigende Behandlung, Befähigung zum Richteramt, Mitgliedstaaten, Aufenthaltsverbot, Bundsverwaltungsgericht, Asylverfahrensrichtlinie, Beachtliche Wahrscheinlichkeit, Aufenthaltsrecht, Flüchtlingskonvention, Aufhebung, Asylantragsteller, Europäisches Asylsystem, Subsidiär Schutzberechtigter, Familienflüchtlingsschutz, Abschiebungsstopp, Abschiebungsandrohung

Aktenzeichen  W 9 K 20.30260

Datum:
29.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 3534
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
AsylG § 26
AufenthG § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1
AufenthG § 11

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffer 4 des Bescheids des Bundesamts für … vom 10. Februar 2020 verpflichtet, über die Dauer der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erneut zu entscheiden.      
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Über die Klage konnte auch in Abwesenheit der Beklagten verhandelt werden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist überwiegend unbegründet, wobei das Gericht unter Berücksichtigung von § 88 VwGO den Klageantrag dahingehend versteht, dass sich der Kläger nicht gegen Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids wendet, weil es sich hierbei um eine lediglich den Kläger begünstigende Regelung handelt. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) sind die Ablehnung des Asylantrags im Bescheid vom 10. Februar 2020 als unzulässig (Ziffer 1), die Feststellung, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bestehen (Ziffer 2), und die unter Ziffer 3 angedrohte Abschiebung nach Italien rechtlich nicht zu beanstanden. Die Beklagte war allerdings zu verpflichten, über die Entscheidung in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu befinden. (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
1. Die Beklagte hat den Asylantrag des Klägers zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt.
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Hiermit wird Art. 33 der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Asylverfahrensrichtlinie – (RL 2013/32/EU) umgesetzt, welcher in seinem Absatz 2 abschließend regelt, unter welchen Voraussetzungen die Mitgliedstaaten einen Asylantrag als unzulässig betrachten dürfen (vgl. OVG NRW, U.v. 24.8.2016 – 13 A 63/16.A – juris Rn. 30). Dies ist nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) Asylverfahrensrichtlinie u.a. dann der Fall, wenn ein anderer Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz gewährt hat.
Dies ist hier der Fall. Nach den Erkenntnissen des Bundesamtes wurde dem Kläger in Italien im Rahmen des Asylverfahrens subsidiärer Schutz gewährt. Dies ergibt sich aus dem Schreiben der italienischen Behörden vom 10. Dezember 2019.
Der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht auch nicht Art. 4 der Grundrechtscharta (GRC) oder Art. 3 EMRK entgegen (vgl. hierzu EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u.a. – juris). Eine ernsthafte Gefahr, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Italien zu erfahren, besteht für den Kläger, der unter keinen wesentlichen gesundheitlichen Einschränkungen leidet, unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel nach Überzeugung des Gerichts nicht.
Bei der Prüfung, ob Italien hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzberechtigten gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC verstößt, ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris; OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018 – 10 LB 201/18 – BeckRS 2018, 33662; U.v. 29.1.2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 28). Denn Italien unterliegt als Mitgliedstaat der Europäischen Union deren Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verpflichtet. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden. Daraus hat der Europäische Gerichtshof die Vermutung abgeleitet, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta (GRC) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. hierzu aus jüngster Zeit etwa EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 83 f.). Die Anwendung dieser Vermutung ist nicht disponibel, sondern zwingend (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – Rn. 41)
Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung dieser Vermutung hat der Europäische Gerichtshof aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU), die Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) oder die Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) genügt, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu hindern. Denn Mängel des Asylsystems können nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Diese Schwelle ist nach der Rechtsprechung des EuGH im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 3 GRC) erst erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.; aus der Rechtsprechung des EGMR siehe etwa EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12 – NVwZ 2015, 127 ff.). Selbst große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichen diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie genügen hierfür nicht (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 92). Auch der Umstand, dass Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Asylantragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Schutzberechtigte aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 93).
Hinsichtlich der Gefahrenprognose ist im Rahmen des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK auf den Maßstab des „real risk“ der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzustellen (vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, S. 1330 Rn. 129; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m.w.N. st. Rspr).
Der Tatrichter muss sich somit zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegen-seitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GRC sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylsystems oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m.w.N.) einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Das erfordert eine aktuelle Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen, wobei regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 11; vgl. auch EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris Rn. 90 f.). Das gilt insbesondere für die Stellungnahmen des UNHCR angesichts der Rolle, die diesem im Hinblick auf die Überwachung der Einhaltung der GFK (vgl. dort Art. 35) übertragen worden ist (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 – C-528/11 – juris Rn. 44).
Nach diesen strengen Maßstäben bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) zur Überzeugung des Gerichts in Italien im Hinblick auf die Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte keine derartigen Mängel, die die Annahme rechtfertigen würden, dass gesunden, arbeitsfähigen anerkannten Schutzberechtigten bei einer Abschiebung nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Situation extremer materieller Not und damit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK droht. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrags im Verfahren (ebenfalls eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC für rücküberstellte anerkannte Schutzberechtigte verneinend: VGH Mannheim, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris; OVG Koblenz, U.v. 15.12.2020 – 7 A 11038/18 – juris; VG Saarlouis, U.v. 30.9.2019 – 3 K 653/19 – juris; VG Würzburg, B.v.10.2.2020 – W 8 S 20.30180 – juris; VG Aachen, U.v. 6.3.2020 – 9 K 3086/18.A – juris; VG Cottbus, U.v. 26.8.2020 – 5 K 1123/19.A – juris; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 – A 9 K 3639/18 – juris).
Für Rückkehrer mit Schutzberechtigung gilt nach dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), dass sie aus italienischer Sicht reguläre Einwohner mit Aufenthaltsrecht sind. Sie können nach Italien einreisen und sich frei im Land bewegen, erhalten aber keine Unterstützung am Flughafen, z.B. bei der Suche nach Unterkunft, bei der Beschaffung neuer Papiere oder bei der Erneuerung ihrer Registrierung im nationalen Gesundheitssystem. Rückkehrer mit Schutzstatus, die ihre Aufenthaltspapiere verloren haben, sollten diese neu ausstellen lassen. Dazu gibt es für anerkannte Flüchtlinge Antragsformulare in den Filialen der italienischen Post, wo diese auch eingereicht werden können. Bei dem Antrag muss zwingend eine Adresse in Italien angegeben werden, denn sobald das neue Dokument fertig ist, ergeht eine schriftliche Einladung zur zuständigen Polizeidienststelle (Questura). Subsidiär Schutzberechtigte beantragen die Kopie oder Neuausstellung der Aufenthaltspapiere direkt bei der zuständigen Quästur. Die Bearbeitung kann einige Monate in Anspruch nehmen. Das Aufenthaltsrecht gilt währenddessen weiter, das Fehlen der Papiere kann aber zu Problemen beim Zugang zu sozialen oder medizinischen Leistungen führen (vgl. zum Vorstehenden: BFA, Länderinformation der Staatendokumentation – Italien, 11.11.2020, S. 23f.).
Im Übrigen wird zu der Rückkehrsituation für anerkannte Schutzberechtigte in Italien auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid nach § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen.
Zu keiner anderen Bewertung gelangt das Gericht unter Berücksichtigung der derzeitigen COVID-19 (sog. Corona-)Pandemie. Es kann gegenwärtig nicht davon ausgegangen werden, dass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Verhältnisse in Italien mit Blick auf das Coronavirus entgegenstehen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der Kläger in Italien aufgrund der voraussichtlichen Lebensverhältnisse in eine Lage extremer Not geraten würde. Dies gilt aber wegen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und des Beschleunigungsgrundsatzes nur in Extremfällen (vgl. Bergmann in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 29 Rn. 11). Hierfür sind dem Gericht keinerlei substantiierte Erkenntnismittel (zuletzt BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, Ausgewählte Dublin-Länder, Balkan und Ukraine – aktuelle Lage in Zusammenhang mit COVID-19 (Corona-Pandemie) vom 17.7.2020; BFA, a.a.O., S. 4) oder obergerichtliche Gerichtsentscheidungen bekannt, die diese Annahme begründen könnten. Im System des gegenseitigen Vertrauens ist daher für Italien weiter von einem die Grundrechte sowie die Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden, wahrenden System für anerkannte Schutzberechtigte auszugehen (vgl. auch die Ausführungen zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter Nr. 2).
Nicht anzuwenden sind vorliegend die Maßstäbe für vulnerable Personengruppen (Rückkehr einer Familie mit Kleinkindern) mit Blick auf die im Inland sich aufhaltende Frau des Klägers und die drei gemeinsamen Kinder. Zum einen leben die Frau und die Kinder nicht mit dem Kläger in demselben Haushalt. Darüber hinaus ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der bei Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei einer im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) von einer Rückkehr im Familienverband ins Herkunftsland auszugehen ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.07.2019 – 1 C 45/18 – juris), nicht entsprechend auf die vorliegende Konstellation anzuwenden. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Betrachtung insbesondere wegen der Frage der im Herkunftsland drohenden Gefahren für die Familie vorgenommen, was mit einer Rückkehr in einen anderen Europäischen Staat nicht vergleichbar ist (a.A. VG Freiburg, U.v. 27.8.2020 – A 1 K 7629/17 – juris).
Die Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist auch nicht deswegen unanwendbar, weil zu Gunsten des Klägers Familienflüchtlingsschutz nach § 26 AsylG in Betracht käme. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 17.11.2020 – 1 C 8.19) hindert die Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union nicht die Zuerkennung internationalen Familienschutzes im Bundesgebiet. Hier kommt ein solcher Familienflüchtlingsschutz nicht in Betracht, weil die Voraussetzung nach § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG nicht gegeben ist. Der Kläger und seine Frau haben nur religiös in Somalia geheiratet, sodass keine Ehe im Sinne dieser Vorschrift gegeben ist.
2. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten des Klägers kommt nicht in Betracht. Einen entsprechenden Anspruch hat der Kläger zum hier maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht.
Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Da dem Kläger in Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK droht, scheidet auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu seinen Gunsten aus. Insoweit wird auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid und die vorangegangenen Ausführungen Bezug genommen.
Des Weiteren führt die COVID-19 (sog. Corona-)Pandemie in Italien nach dem für das Gericht maßgeblichen gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht zur Feststellung eines zielstaatbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Regelung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längsten drei Monate ausgesetzt wird.
In Ermangelung einer Anordnung im Sinne von § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG stellt die gegenwärtige Corona-Pandemie in Italien allenfalls eine allgemeine Gefahr dar, die aufgrund der Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots grundsätzlich nicht zu rechtfertigen vermag (vgl. zum Maßstab BVerwG, NVwZ 2013, 1489). Nur wenn im Einzelfall die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden, etwa wenn das Fehlen eines Abschiebungsstopps dazu führen würde, dass ein Ausländer im Zielstaat der Abschiebung sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet würde, wird die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG durchbrochen und es ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen (vgl. Koch, in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 60 Rn. 45 m.w.N.).
Eine derartige Extremgefahr kann für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien nicht angenommen werden. Es ist zum einen nicht ersichtlich, dass der Kläger, der unter keinen Vorerkrankungen leidet, in Italien gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wäre. Insbesondere rechtfertigt die COVID-19-Pandemie nicht die Annahme, dem Kläger drohe in Italien alsbald eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr. Trotz der wieder ansteigenden Infektionszahlen in Italien – wie in Europa insgesamt – gehört der junge Kläger nicht zu einer Risikogruppe für einen schweren Verlauf der Erkrankung. Zudem kann er durch eigene Vorkehrungen das Risiko einer Infektion minimieren.
3. Allerdings ist die Entscheidung über das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Ziffer 4 des Bescheides vom 10. Februar 2020 aufzuheben. Die Beklagte hat bei ihrer Befristungsentscheidung zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht berücksichtigt, dass der Kläger nicht nur die Vaterschaft für seine drei Kinder anerkannt hat, sondern insoweit auch gemeinsame Sorgerechtserklärungen vorliegen. Es liegt damit diesbezüglich ein Ermessensausfall vor, so dass die Befristung aufzuheben und die Beklagte zu einer erneuten Entscheidung über die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie über die Länge der Frist zu verpflichten war.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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