Verwaltungsrecht

Zubilligung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG für in Deutschland geborenes äthiopisches Flüchtlingskind

Aktenzeichen  AN 9 K 20.30755

Datum:
5.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32235
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 3, § 3a, § 3b, § 3c, § 3d, § 3e, § 4 Abs. 1 Nr. 3, § 34 Abs. 1 S. 3, § 77 Abs. 2, § 80
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Drohende Genitalverstümmelung kann in Äthiopien als Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG gewertet werden. (Rn. 23) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Angesichts der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien kann nicht angenommen werden, dass dorthin zurückkehrenden Asylbewerbern Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung i.S.v. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG droht. (Rn. 28) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Zwar werden in Äthiopien zunehmend ethnische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge haben; es herrschen jedoch aktuell in keiner Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände. Auch die Auseinandersetzungen der Regierung mit bewaffneten Oppositionsbewegungen in der Somali-Region weisen keine derartige Intensität auf (VGH München BeckRS 2019, 2276). (Rn. 32 – 33) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Aufgrund der sich derzeit durch die Corona-Pandemie im Zusammenspiel mit der in Äthiopien herrschenden Heuschreckenplage ergebenden landesweiten Verhältnissen liegen im Falle eines in Deutschland geborenen äthiopischen Flüchtlingskinds die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor. (Rn. 47 – 50) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 2. Februar 2017 wird in Ziffern 4, 5, soweit die Abschiebung nach Äthiopien angedroht wird, und 6 aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Äthiopiens vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens zu ¼ und die Klägerin zu ¾.
3. Das Urteil ist in Ziffer 3 vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Hinterlegung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage der Klägerin ist teilweise begründet. Über die Klagen konnte mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden Der streitgegenständliche Bescheid vom 6. August 2020 für die Klägerin ist in Ziffer 4, 5, soweit die Abschiebung nach Äthiopien angedroht wird, und 6 rechtswidrig und verletzt die Klägerin entsprechend in ihren Rechten.
Ihr steht zwar weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG oder Anerkennung als Asylberechtigte, noch auf Zuerkennung des subsidiären Flüchtlingsschutzes nach § 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu. Jedoch hat die Klägerin einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG entsprechend dem Hilfsantrag. Deshalb wird die Klägerin auch durch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung, soweit die Abschiebung nach Äthiopien angedroht wird, sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hinsichtlich der Klägerin im Hinblick auf die Begründung für die Ziffern 1 bis 3 auf den angefochtenen Bundesamtsbescheid Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG. Ergänzend ist Folgendes auszuführen.
a) Vorliegend ist kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 4, Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sofern nicht die in dieser Bestimmung angeführten – hier nicht einschlägigen – besonderen Voraussetzungen nach § 60 Abs. 8 AufenthG erfüllt sind.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling i.S.d. Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Ergänzend hierzu bestimmt § 3a AsylG die Verfolgungshandlungen, § 3b AsylG die Verfolgungsgründe, § 3c AsylG die Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, § 3d AsylG die Akteure, die Schutz bieten können und § 3e AsylG den internen Schutz.
§ 3a Abs. 3 AsylG regelt ausdrücklich, dass zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen muss.
Ausschlussgründe, wonach ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, sind in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG geregelt.
Die Furcht vor Verfolgung ist nach § 3 Abs. 1 AsylG dann begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller Vorverfolgung erlitten hat. Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14).
Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, weil nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37).
Vorverfolgte bzw. geschädigte Asylantragsteller werden durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 – C-175/08 – juris Rn. 94). Diese Vermutung kann widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 23).
Der Klägerin droht ebenso wenig wie ihren Eltern, auf deren Urteilsbegründung insoweit Bezug genommen wird, aus politischen Gründen Verfolgung in Äthiopien, zumal es sich um ein in Deutschland geborenes Kleinkind handelt, das sich bisher noch nie in Äthiopien aufgehalten hat.
Auch auf die Gefahr einer drohenden Geschlechtsverstümmelung kann sich die Klägerin hier in Bezug auf § 3 AsylG nicht stützen, da eine solche Gefahr nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht wurde. Insofern wird zunächst auf die Gründe des Ablehnungsbescheids hinsichtlich der Klägerin verwiesen. Auch im gerichtlichen Verfahren wurde nichts vorgetragen und glaubhaft gemacht, was die entsprechende Entscheidung des Bundesamtes in Zweifel ziehen könnte. Nach der Rechtsprechung der Kammer wird zwar eine drohende Genitalverstümmelung als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG gewertet, allerdings fehlt es vorliegend an der beachtlichen Wahrscheinlichkeit daran, dass der Klägerin eine solche Behandlung im Heimatland drohen würde. Sowohl der Vater als auch die Mutter der Klägerin haben bei der Anhörung angegeben, gegen die Beschneidung zu sein und alles tun zu wollen, um dies bei ihrer Tochter zu verhindern. Die Mutter der Klägerin ist selbst nicht beschnitten, weil ihre Großmutter, wenn auch im Sudan, dies verhindert hat. Dass die Familie des Vaters der Klägerin in Äthiopien die Beschneidung erzwingen würde, hat der Vater der Klägerin noch nicht einmal behauptet, vielmehr hat er angegeben, über die Haltung seiner Familie zur Beschneidung nichts sagen zu können. Damit steht nach Auffassung des Gerichts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit fest, dass der Klägerin im Fall der Rückkehr mit ihren Eltern nach Äthiopien dort die zwangsweise Beschneidung und damit die Genitalverstümmelung drohen wird.
Die Klägerin hat auch keinen (originären oder abgeleiteten) Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG, da die weitergefassten Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG bereits nicht vorliegen Die Verpflichtungsklage war demnach im Hauptantrag abzuweisen.
b) Mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 4 AsylG steht der Klägerin auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes zu.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall der Klägerin nicht erfüllt.
Dass der Klägerin bei ihrer Rückkehr die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), macht sie selbst nicht geltend. Ebenso wenig kann angesichts der oben genannten grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien angenommen werden, dass der Klägerin in Äthiopien Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Unter dem Gesichtspunkt der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes schon deswegen aus, weil die Gefahr eines ernsthaften Schadens insoweit nicht von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG (hierzu VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 54 ff.).
Schließlich steht der Klägerin auch kein Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG zu.
Nach dieser Vorschrift gilt als ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.
Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 82 ff.)
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG bei der Klägerin, die keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände aufweist, nicht vor. Zwar werden, wie vorstehend ausgeführt, in Äthiopien zunehmend ethnische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge haben. Es gibt nach aktueller Erkenntnislage aber in keiner Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände.
Die Konflikte zwischen Ethnien oder die Auseinandersetzungen der Regierung mit bewaffneten Oppositionsbewegungen haben trotz begrenzten Einflusses und Kontrolle der Zentralregierung in der Somali-Region keine derartige Intensität (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 31645 – juris).
c) Die Verpflichtungsklage erweist sich hingegen bezüglich der Klägerin hinsichtlich der begehrten Feststellung auf Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG als erfolgreich.
Der Klägerin steht ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Davon ist dann auszugehen, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden, d.h. unmenschlichen Behandlung ausgesetzt zu sein.
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können ausnahmsweise eine solch Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung darstellen.
Nach der Rechtsprechung (vgl. z.B. BVerwG v. 13.6.2013, 10 C 13.12 – juris; BayVGH v. 8.11.2018, 13 a B 17.31918 – juris) können in außergewöhnlichen Ausnahmefällen auch „nicht staatliche“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Betracht kommen.
D. h., im Bereich des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK sind neben von Staat oder staatsähnlichen Organisationen ausgehenden Gefahren für Leib und Leben auch „nicht staatliche“ Gefahren wegen prekärer Lebensbedingungen zu berücksichtigen, jedoch kommt dies nur in ganz außergewöhnlichen Fällen in Betracht (vgl. z.B. EGMR v. 27.5.2008, 26565.05, NVwZ 2008, 1334; v. 28.6.2011, 8319.07, NVwZ 2012, 681).
Zu berücksichtigen sind bei dieser Beurteilung eine Reihe relevanter Faktoren, z.B. die Zugangsmöglichkeiten zu Arbeit, Grundversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden und über finanzielle Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse verfügen zu können (vgl. BayVGH v. 23.3.2017, 13 a B 17.30030 – juris; v. 20.11.2018, 8 ZB 18.32888 – juris).
Aus der oben genannten Rechtsprechung geht deutlich hervor, dass insoweit hohe Anforderungen zu stellen sind, da nur bei Vorliegen „zwingender Gründe“ i.S.d. Art. 3 EMRK ein nach der Rechtsprechung erforderlicher außergewöhnlicher Fall vorliegt, der zur Bejahung des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK führen kann (vgl. z.B. BayVGH v. 21.11.2014, 13 a B 14.30284 – juris).
Darauf hinzuweisen ist an dieser Stelle jedoch, dass dabei nicht der Maßstab für das Vorliegen einer Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG heranzuziehen ist (BayVGH v. 21.11.2014, a.a.O.).
Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) nötig, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen ohne Vorhandensein einer hinreichenden Tatsachengrundlage basierende Gefahr vorhanden sein. Diese Gefahr darf nicht nur hypothetisch sein, sondern muss sich aufgrund aller fallrelevant zu berücksichtigenden Umstände als hinreichend sicher im Hinblick auf eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung erweisen.
Einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Verletzung von durch Art. 3 EMRK geschützter Rechte bedarf es nicht, vielmehr genügt insoweit das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr, entsprechend dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. EGMR v. 28.2.2008, 37201.06, NVwZ 2008, 1330; BVerwG v. 27.4.2010, 10 C 5.09, NVwZ 11, 51).
Bei der Frage des Vorliegens solch einer Gefahr bei Rückkehr geht es demgemäß nicht um einen fernab jedweden Zweifels liegenden Beweis, sondern dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung ein gewisser Grad an Mutmaßung immanent (vgl. BVerwG v. 13.2.2019, 1 B 2.19 unter Verweis auf EGMR v. 9.1.2018, 36417.16, X./Schweden).
Aufgrund der sich derzeit durch die Corona-Pandemie im Zusammenspiel mit der in Äthiopien herrschenden Heuschreckenplage ergebenden landesweiten Verhältnissen in Äthiopien ist das Gericht in Ansehung der in Äthiopien „pandemieunabhängig“ gegebenen Situation unter Zugrundelegung der verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen der Auffassung, dass im konkreten Falle der Klägerin vorliegend derzeit die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sind.
Unter Berücksichtigung dieser Gesamtsituation, wie sie sich dem Gericht insbesondere nach Auswertung der verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen und in Ansehung der konkreten Besonderheiten des Einzelfalles darstellt, steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass eine Rückkehr der Klägerin mit ihrer Familie wegen der jetzigen aufgrund der Corona-Pandemie i.V.m. der Heuschreckenplage bestehenden Lebenssituation, auch in Ansehung der unabhängig von Pandemie und Heuschreckenplage für Rückkehrer bestehenden Situation in Äthiopien, derzeit und in überschaubarer Zukunft einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen würde.
Die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu berücksichtigenden prekären Lebensbedingungen sind, z.Zt. im Hinblick auf die der herrschenden Pandemie immanenten Beschränkungen und die daraus folgenden Probleme der Erlangung eines Zugangs zu Arbeit und adäquater Unterkunft, zu Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung und zur Erlangung der für die Befriedigung elementarer Bedürfnisse nötigen finanziellen Mittel sowie der durch die Heuschreckenplage zusätzlich zur Pandemie verursachten schwierigen wirtschaftliche Situation nach Auffassung des Gerichts gegeben.
Insbesondere infolge der durch die bestehende Pandemie veranlassten Beschränkungen wird die Wohnungs- und Arbeitssuche für Rückkehrer zur Überzeugung des Gerichts in einem Maße erschwert, wenn nicht zeitweise weitgehend unmöglich gemacht, dass unter Zugrundelegung der oben dargestellten rechtlichen Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Einzelfall nicht mehr im erforderlichen Umfang von der Sicherung des Existenzminimums ausgegangen werden kann.
Nach alldem liegt im konkreten Einzelfall zur Überzeugung des Gerichts hinsichtlich Äthiopien ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor.
Damit war wegen des insoweit einheitlichen Streitgegenstandes nicht mehr über das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 sowie analog § 60 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu entscheiden.
d) Des Weiteren waren bezüglich der Klägerin im Hinblick auf das Bestehen eines Anspruchs auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG die dem entgegenstehenden Regelungen in Ziff. 4 bis 6 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheids aufzuheben, für die in Ziff. 5 enthaltene Abschiebungsandrohung bedeutet dies die Aufhebung, soweit darin gerade die Abschiebung nach Äthiopien angedroht ist (vgl. §§ 59 Abs. 3, 75 Nr. 12 AufenthG, 34 Abs. 1 Satz 3 AsylG).
e) Nach alldem war der Klage im Umfange des Urteilstenors stattzugeben, im Übrigen war die Klage der Klägerin abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154, 155 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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