Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 26 K 17.40437

Datum:
27.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 13280
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3b Abs. 1, § 4, § 34
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Das Risiko als Zivilperson in der Nordostregion Afghanistans Opfer willkürlicher Gewalt zu werden liegt unter der vom Bundesverwaltungsgericht (BeckRS 2012, 45614) für weit von der Erheblichkeitsschwelle entfernt erachteten Gefahrendichte. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 2019 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte ist form- und fristgerecht geladen worden.
Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG oder auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG. Auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung sowie das dreißigmonatige Einreise- und Aufenthaltsverbot sind nicht zu beanstanden.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
1.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – zur Definition dieser Begriffe vgl. § 3b Abs. 1 AsylG – außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, (a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder (b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten zunächst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), ferner Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). § 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft u.a. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, sowie gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden. Dabei muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von §§ 3 Abs. 1 und 3b AsylG und der Verfolgungshandlung bzw. den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG U. v. 20.2.2013 – 10 C 23.12, NVwZ 2013, 936).
Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von (1.) dem Staat, (2.) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder (3.) von nicht staatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
1.2 Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vor.
Das Vorbringen des Klägers hinsichtlich der vorgebrachten Bedrohungen ist nicht glaubhaft.
Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender politischer Verfolgung bzw. Gefährdung die volle Überzeugung gewinnen. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist daher gesteigerte Bedeutung beizumessen. Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. nunmehr auch Art. 4 Richtlinie 2011/95 EU sowie bereits bislang BVerfG (Kammer), B.v. 7.4.1998 – 2 BvR 253/96 – juris). Auch unter Berücksichtigung seines Herkommens, Bildungsstands und Alters muss der Asylbewerber im Wesentlichen gleichbleibende möglichst detaillierte und konkrete Angaben zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal machen.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Kläger hat eine relevante Vorverfolgung (Bedrohung) nicht glaubhaft gemacht.
Das Vorbringen des Klägers hinsichtlich der angeblichen Bedrohungen durch die Demonstranten aus dem Dorf A … und hinsichtlich anonymer Drohungen per Brief und SMS ist zum einen detailarm und vage. Hätte der Kläger eine Bedrohung durch die aufgebrachten Demonstranten wirklich selbst erlebt, so hätte er diese als selbst erlebte lebhaft und detailreich geschildert. So gab er nur an, er sei „immer weiter unter Druck“ gesetzt worden. Die Erzählung wirkt mit den persönlichen, brieflichen und schließlich Drohungen per SMS überaus konstruiert, ohne dass der Kläger den Inhalt dieser Briefe und Drohungen im Detail wiedergeben könnte. Des Weiteren ist es nicht stimmig, sondern widersprüchlich. Während die Bedrohungen durch die Demonstranten in A … noch zum Ziel gehabt haben sollen, ihnen den Aufenthaltsort seines Cousins zu verraten, sollen die Droh-SMS eher auf seinen Polizeidienst gezielt haben („Wieso bist Du zur Polizei gegangen“). Des Weiteren ist es nicht glaubhaft, dass der Kläger den ersten Drohbrief vernichtet haben soll, weil er ihn nicht ernst nah, da er doch bereits vorher bedroht worden war. Im Ganzen ist das Gericht nicht von der Wahrheit des Verfolgungsvorbringens überzeugt, sondern hält es für erfunden.
Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der Kläger als volljähriger und (wie er in der mündlichen Verhandlung angab) gesunder junger Mann bei einer Rückkehr nach Afghanistan selbst bei Annahme einer flüchtlingsrelevanten Bedrohungssituation ohne Unterstützung durch eine Familie oder sonstige Gemeinschaft in größeren Städten und halbstädtischen Gebieten Afghanistans eine inländische Fluchtalternative hätte, § 3e AsylG. Auch unter Berücksichtigung seiner – wenn auch geringen – deutschen Sprachkenntnisse und seiner im Bundesgebiet ausgeübten Tätigkeit als Reinigungskraft kann er seinen Lebensunterhalt insbesondere in der Stadt Herat oder Mazare-Sharif sichern (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom 30.8.2018, S. 125). Diese Städte kann er auch auf dem Landweg, so wie seine Flucht zeigt, oder auch auf dem Luftweg erreichten, da mehrmals täglich verkehrende Flugverbindungen von Kabul aus in diese Städte zur Verfügung stehen (EASO, Country Guidance Afghanistan, Juni 2018, S. 102).
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Zuerkennung von subsidiärem Abschiebungsschutz nach § 4 AsylG.
Solcher ist einem Ausländer zuzuerkennen, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
1. Die Verhängung der Todesstrafe,
2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 AsylG). Die §§ 3c bis 3e gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 AsylG).
2.1 Die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG liegen nicht vor. Dem Kläger droht nicht die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe.
Dem Kläger droht kein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen, um in den mit § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG insoweit identischen Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen.
Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 60 AufenthG Rn. 35). Dies gilt gemäß §§ 4 Abs. 3 i.V.m. 3c, 3d AsylG. auch dann, wenn die Gefahr von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht und kein ausreichender staatlicher oder quasi-staatlicher Schutz zur Verfügung steht. Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür glaubhaft gemacht werden, dass der Ausländer im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Das Vorbringen des Klägers hinsichtlich einer Bedrohung ist nicht glaubhaft (s. o. 1.2).
Die unsichere Lage in Afghanistan rechtfertigt nicht die Annahme, eine Abschiebung würde zwangsläufig Art. 3 EMRK verletzen (EGMR, U.v. 12.1.2016 – 13442/08). Auch eine mögliche existenzielle Gefahr für Leib und Leben aufgrund der fehlenden Sicherung des Existenzminimums stellt keine Gefährdung in diesem Sinne dar, da es an einem insoweit erforderlichen Akteur nach § 4 Abs. 3, § 3 c AsylG fehlt.
2.2 Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
Vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist auszugehen, wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffneten Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist (EuGH, U.v. 30.1.2014 – C-285/12- Diakité, zur identischen Regelung des Art. 15c der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.4.2004).
Dabei ist zu überprüfen, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende – und damit allgemeine – Gefahr in der Person des Klägers so verdichtet hat, dass sie eine erhebliche individuelle Gefahr i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG darstellt. Eine allgemeine Gefahr kann sich insbesondere durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzen. Solche Umstände können sich auch aus einer Gruppenzugehörigkeit ergeben. Der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt muss ein so hohes Niveau erreichen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, U.v. 17.2.2009 – Elgafaji, C-465/07 – Slg. 2009, I-921).
Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu qualifizieren ist, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Bezüglich der Gefahrendichte ist zunächst auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 – BVerwGE 134, 188). Zur Feststellung der Gefahrendichte ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136,377).
Der Kläger stammt aus der Provinz A …, so dass hinsichtlich der Gefahrensituation primär auf diese abzustellen ist.
Die Provinz A … wird von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA, Internet: www.unama.unmissions.org) der Nordostregion Afghanistans (Provinzen: Kunduz, Takhar, Badakhskhan, Baghlan) zugeordnet.
Der Jahresbericht der UNAMA (Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, Annual Report 2017, Februar 2018) geht für das Jahr 2017 von 758 getöteten oder verletzten Zivilsten in der Nordostregion aus. Bei einer Einwohnerzahl von 3.9933.053. (vgl. Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization – Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017,) beträgt das Risiko Opfer willkürlicher Gewalt zu werden 0,0189%. Das Risiko als Zivilperson in der Nordostregion Opfer willkürlicher Gewalt zu werden liegt damit immer noch unter der vom Bundesverwaltungsgericht (U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10) für weit von der Erheblichkeitsschwelle entfernt erachteten Gefahrendichte von 0,125%. Auch unter Berücksichtigung der Zahlen für das erste Halbjahr 2018 (UNAMA, Midyear Update, 15.7.2018) ergibt sich keine Veränderung dieser Gefahrenprognose. Diese Einschätzung gilt auch für Afghanistan insgesamt (Einwohnerzahl geschätzt: 28 Mio.; Opferzahl 2017: 10453; Risiko: 0,037%) sowie für die Provinz Kabul und die Hauptstadt Kabul, in welche der Kläger zurückgeführt wird (Einwohnerzahl: 4.679.648; Opferzahl 2017: 1831; Risiko: 0,0391%). Gleiches gilt für die als inländische Fluchtalternative infrage kommende, in der Westregion liegende Provinz Herat (Einwohnerzahl: 1.967.180; Opferzahl 2017:495; Risiko: 0,025%; Westregion Einwohnerzahl: 3.717.513; Opferzahl 2017: 998; Risiko 0,0268%) sowie die in der Nordregion liegende Provinz Balkh mit der Hauptstadt Mazar-e-Sharif (Nordregion Einwohnerzahl: 3.954.384; Opferzahl 2017: 1032; Risiko: 0,026%; Balkh Einwohnerzahl: 1.382.155; Opferzahl: 2017 129; Risiko: 0,0093%).
Dies gilt auch unter Berücksichtigung der unzureichenden medizinischen Versorgungslage in Afghanistan, die eine Notfallbehandlung Schwerverletzter nur eingeschränkt ermöglichen dürfte, zumal die medizinische Versorgungslage in den Nord und Zentralprovinzen besser als in anderen Teilen des Landes ist (AA, Lagebericht vom 19. 10 2016, S. 23).
Es ist auch nicht anzunehmen, dass sich die allgemeine Gefahr beim Kläger durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzt. Solche ergeben sich nicht aus der vormaligen Tätigkeit bei der afghanischen Polizei. Selbst wenn er nach seiner Rückkehr wieder als Polizist dienen sollte – wofür keinerlei Anhaltspunkte vorliegen – müsste er sich als Teil der Sicherheitsorgane einem unter Umständen erhöhten Risiko aussetzen. Doch auch in diesem Fall läge das Risiko Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, noch unterhalb der relevanten Erheblichkeitsschwelle.
Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Anschläge gezielt auf Rückkehrer aus Europa ausgeführt werden (Lagebericht S. 28).
3. Der Abschiebung des Klägers steht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen.
3.1 Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor. Eine Abschiebung ist gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen werden. Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen, um in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen.
Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (Renner/Bergmann, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 60 AufenthG Rn. 35 f.). Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür glaubhaft gemacht werden, dass der Ausländer im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
Dabei sind lediglich zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse zu prüfen. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG kommt nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 13.6.2013 – 10 C 13/12, juris, Rn. 24) auch dann in Frage, wenn die umschriebenen Gefahren nicht durch den Staat oder eine staatsähnliche Organisation drohen oder dem Staat zuzurechnen sind.
Die Situation in Afghanistan rechtfertigt jedoch nicht die Annahme, dass eine extreme Gefahrensituation vorliegt, die zwangsläufig bei einer Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zur Folge hat (vgl. EGMR, U.v. 12.1.2016 – 13442/08 – A.G.R./Nieder-lande; BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – Rn. 26 – juris; BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris -; B.v 12.4.2018 – 13a ZB 18.30135;). Besondere individuelle Umstände, aufgrund derer der Kläger einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung unterworfen wäre, liegen nicht vor (vgl. BayVGH, U. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30107- juris Rn. 25).
Eine unmenschliche Behandlung droht dem Kläger auch nicht aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen in Afghanistan.
Unzureichende wirtschaftliche Verhältnisse im Herkunftsland können in Ausnahmefällen, in denen die schlechten humanitären Verhältnisse eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Asylbewerbers darstellen, ein Abschiebungsverbot in diesem Sinn begründen. In ganz außergewöhnlichen Fällen können auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend sind“. Dies gilt in den Fällen, in denen die schlechten Bedingungen überwiegend auf die Armut oder die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen, zurückzuführen sind. Wenn jedoch die Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führen, ist zu berücksichtigen, ob es den Betroffenen gelingt, die elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu befriedigen (EGMR U.v. 28.6.2011 – 8319/07 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich – NVwZ 2012, 681 ff.; EGMR U.v. 27.5.2008 – 26565/05 – N/Vereinigtes Königreich; BVerwG U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris). Unter Berücksichtigung sämtlicher Gegebenheiten des Einzelfalls ist von einem sehr hohen Niveau der Gefährdung auszugehen (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris).
Zwar ist die Versorgungslage nach Auswertung der herangezogenen Erkenntnismittel in Afghanistan weiterhin schlecht (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2018, S. 25 f.). Soziale Sicherungssysteme existieren praktisch nicht. Die soziale Absicherung liegt bei den Familien und Stammesverbänden.
Auch wenn die wirtschaftliche Lage in Afghanistan weiterhin angespannt ist, kann der junge, gesunde, volljährige Kläger, der keine Unterhaltsverpflichtungen hat, bei seiner Rückkehr seinen Lebensunterhalt sichern. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass seine (geringen) Deutschkenntnisse und seine Tätigkeit als Küchenhilfe im Bundesgebiet bei einer Arbeitssuche für ihn von Vorteil sind. Der Kläger kann seine Heimatprovinz auch auf dem Landweg, wie seine Flucht gezeigt hat, erreichen.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass der Kläger als junger, gesunder Mann ohne familiäre Verpflichtungen nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage wäre, in Kabul oder anderen größeren Städten durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren (BayVGH, U. v. 8.11.2018 -13 a B 17. 31960 – juris; B.v. 21.8.2017 – 13a ZB 17.30529; VGH Mannheim, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316.17 – juris).
3.2 Der Abschiebung des Klägers steht auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.
Individuelle nur dem Kläger drohende Gefahren liegen nicht vor.
Hinsichtlich des Klägers besteht auch kein Abschiebungsverbot in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog wird die Frage geprüft, ob bei Gefahren, die der Bevölkerung oder der Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein drohen und bei denen eine politische Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG fehlt, ausnahmsweise Verfassungsrecht in Fällen einer extremen Gefahrenlage ein Abschiebungsverbot erforderlich macht. In diesem Zusammenhang wird auch die schlechte wirtschaftliche Lage im Herkunftsland berücksichtigt (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – Rn. 15 ff. juris).
Der Kläger ist aber bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Heimatprovinz A … und insbesondere im Hinblick auf die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen nicht mit der für die analoge Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt. Zwar ist die Versorgungslage nach Auswertung der herangezogenen Erkenntnismittel in Afghanistan weiterhin schlecht (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2018, S. 25 f.). Soziale Sicherungssysteme existieren praktisch nicht. Die soziale Absicherung liegt bei den Familien und Stammesverbänden. Der Kläger kann bei seiner Rückkehr mit eigener Arbeit sein Überleben sichern.
4. Die nach Maßgabe der § 34 Abs. 1, § 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung nach Afghanistan ist in rechtlicher Hinsicht gleichfalls nicht zu beanstanden. Der Kläger besitzt keinen Aufenthaltstitel und ist auch nicht als Asylberechtigter anerkannt. Gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten dem Erlass der Androhung nicht entgegen. Nach § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu bezeichnende Staaten, in die eine Abschiebung nicht erfolgen darf, sind nicht ersichtlich. Die Ausreisefrist von dreißig Tagen ergibt sich unmittelbar aus § 38 Abs. 1 AsylG.
Keinen Bedenken begegnet das gemäß § 11 Abs. 2, Abs. 3 AufenthG festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten.
5. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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