Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 7 K 17.36435

Datum:
5.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 43218
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 28 Abs. 1a
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat ein syrischer Staatsangehöriger, der sich im wehrdienstfähigen Alter befindet und sich jedenfalls nicht ausschließbar durch seinen Auslandsaufenthalt dem Wehrdienst entzogen hat. Dies gilt auch für diejenigen, die im Zeitpunkt ihrer Ausreise wegen ihres Alters noch nicht dem Ausreiseverbot für Wehrpflichtige unterlagen. (Rn. 13) (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Nr. 2 des Bescheids vom 20. März 2017 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg.
1. Soweit der streitgegenständliche Bescheid in Nr. 2 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers ablehnt, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer u.a. Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2 Buchst. a.).
Gemessen an diesen Kriterien liegen hinsichtlich des Klägers ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor. Denn das Gericht ist davon überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer unterstellten Rückkehr in Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist anzunehmen, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Dies kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch aus Ereignissen resultieren, die eingetreten sind, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris Rn. 24; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33/07 – juris Rn. 23; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Eine solche begründete Furcht vor Verfolgung besteht vorliegend aufgrund des Umstands, dass sich der Kläger, der sich im wehrdienstfähigen Alter befindet, jedenfalls nicht ausschließbar durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat (vgl. ausführlich hierzu BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30372 juris Rn. 23 ff.; BayVGH, U.v. 14.2.2017 – 21 B 16.31001 – juris Rn. 20 ff.; a.A. OVG Saarl, U.v. 2.2.2017 – 2 A 515/16 – juris Rn. 31 ff.). Das Gericht geht nach der derzeitigen Erkenntnislage davon aus, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle Inhaftierung und Folter bis hin zum „Verschwindenlassen“ drohen. Aufgrund des Umstands, dass die syrischen Machthaber für den Erhalt ihrer infolge der militärischen Auseinandersetzung bedrohten Herrschaft mit äußerster Härte gegen tatsächliche und vermeintliche Oppositionelle vorgehen, ist beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitsbehörden den Kläger, der sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat, bei einer Rückkehr in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale, nämlich eine ihm wegen Verweigerung des Militärdienstes unterstellte regimefeindliche Gesinnung, als Oppositionellen behandeln und einer menschenrechtswidrigen Behandlung unterziehen (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016 – a.a.O. Rn. 25).
Das System der Wehrpflicht in Syrien beruht nach den vorliegenden Erkenntnissen auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 bis zum Alter von 42 Jahren. Männliche Personen zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben, können im Kriegsfall oder im Falle einer Erklärung eines Ausnahmezustands wieder einberufen werden. Die syrische Regierung hat bereits im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet ist, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet haben. Die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs führten dazu, dass das syrische Regime im Verlaufe des Krieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten insbesondere seit 2014 erheblich intensiviert hat. Prinzipiell rekrutiert das syrische Regime dabei alle Männer unabhängig vom ethnischen oder religiösen Hintergrund. Seither kommt es zu Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis dahin dem Militärdienst entzogen haben. Dabei sind auch Fälle von Folter dokumentiert (vgl. insgesamt hierzu: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee v. 30.7.2014; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.3.2015; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung v. 18.1.2018; BayVGH, U.v. 12.12.2016 – a.a.O. Rn. 61 ff.).
Aus den Erkenntnisquellen geht weiter übereinstimmend hervor, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle – insbesondere den Flughafen Damaskus – zurückkehrende Syrer den obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird. Dabei ist davon auszugehen, dass die Sicherheitskräfte anhand von Datenbanken bzw. Kontrolllisten darüber informiert sind, ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist. Nach verschiedenen aktuellen Erkenntnisquellen sind dabei Männer im wehrdienstpflichtigen Alter besonders gefährdet, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Grenzübergängen befragt, zeitweilig inhaftiert, misshandelt oder gefoltert zu werden.
Aus den verstärkten Mobilisierungsversuchen ergibt sich, dass das Interesse des syrischen Regimes an einer jederzeit möglichen Einberufung seiner militärdienstpflichtigen Staatsbürger für die Weiterverfolgung seiner Kriegsziele und damit für die Wiederherstellung und den Erhalt der Macht von entscheidender Bedeutung ist. Dabei ist davon auszugehen, dass das syrische Regime Personen, die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, regelmäßig eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellt. An diese unterstellte oppositionelle Gesinnung knüpft bei einer Einreise beachtlich wahrscheinlich eine Folterbehandlung an, die der Einschüchterung und der Bestrafung für die regimefeindliche Gesinnung dient.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise, sprich im November 2015, noch minderjährig war und damit wohl noch „legal“ ausreisen konnte bzw. nicht dem Ausreiseverbot für Wehrdienstpflichtige unterfallen ist. Denn anders als in Konstellationen wie etwa einer Untauglichkeit oder der „Einziger-Sohn-Regelung“, die dauerhaft im Militärdienstbuch eingetragen sind, zur dauerhaften Befreiung von Wehrdienst führen und wohl von den syrischen staatlichen Stellen im Wesentlichen beachtet werden (so zur „Einziger-Sohn-Regelung“ BayVGH, U. v. 21.3.2017 – 21 B 16.31013 – juris Rn. 74, 77 ff.), ist der Kläger mittlerweile wehrdienstpflichtig. Laut Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe müssen sich Männer im Alter von 18 Jahren selbstständig beim zuständigen Rekrutierungsbüro melden oder sie werden von der lokalen Polizei vorgeladen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung v. 18.1.2018 S. 1). Wenn jemand – wie vorliegend der Kläger – sich nicht in einem Zeitraum von maximal sechs Monaten nach Volljährigkeit meldet, wird er auf die sog. Liste der Wehrdienstentzieher gesetzt. Damit besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger aus Sicht der staatlichen syrischen Stellen sich durch seine „gerade noch rechtzeitige“ Ausreise und seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat. Folglich liegen die Voraussetzungen für die Gewährung der Flüchtlingseigenschaft bei Kläger vor, § 3b Abs. 2 AsylG. Insoweit entscheidet sich auch die vorliegende Konstellation von derjenigen, die dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Juni 2018 zugrunde lag. Denn der Kläger des dortigen Verfahrens war im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch minderjährig, woraus der Bayerische Verwaltungsgerichtshof schloss, dass er in Syrien aufgrund der Altersgrenze von 18 Jahren nach wie vor (noch) nicht als Wehrdienstpflichtiger gilt (vgl. BayVGH, U. v. 22.6.2018 – 21 B18.30852 – juris Rn. 20 ff.).
Eine innerstaatliche Fluchtalternative nach § 3e AsylG steht dem Kläger den o.g. Erkenntnisquellen folgend – und auch nach Ansicht der Beklagten, da § 3e AsylG auch im Rahmen des gewährten subsidiären Schutzes zu prüfen war (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) – nicht zur Verfügung. Auch dafür, dass der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3, Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entgegenstehen, ist nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO sowie§ 154 Abs. 1 VwGO. Die vom Bevollmächtigten des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgenommene Beschränkung des Klageantrags ist materiell-rechtlich als (Teil-)Klagerücknahme zu werten. Gemäß § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.


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