Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  RO 9 K 17.32189

Datum:
2.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 56076
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3b Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.v. § 3 AsylG. Homosexuelle Menschen gehören in der Russischen Förderation zu einer sozialen Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Die sexuelle Ausrichtung einer Person stellt ein Merkmal dar, das im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a AsylG so bedeutsam für die Identität ist, das sie nicht gezwungen darf, auf sie zu verzichten. Es kann auch nicht erwartet werden, dass die Sexualität im Herkunftsland geheim gehalten oder Zurückhaltung beim Ausleben der sexuellen Ausrichtung geübt wird, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden, wenn es zur selbstverstandenen Identität der betroffenen Person gehört, die eigene Sexualität zu leben (vgl. EuGH, Urt. v. 7.11.2013 – Rs. C-199/12.) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Unter Aufhebung der Ziffern 1, 5 und 6 des Bescheides der Beklagten vom 13. April 2017 wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG zuzuerkennen. 
II. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, es sei denn, der Kläger leistet vorher Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrages.

Gründe

Die Klage, über die gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne (weitere) mündliche Verhandlung entschieden wird, hat Erfolg.
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Gericht gelangt bei einer Gesamtwürdigung im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung zur Überzeugung, dass sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet und dessen Schutz nicht in Anspruch nehmen kann (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG).
1. Indes leitet das Gericht den zuerkannten Anspruch nicht aus einer glaubhaft dargestellten individuellen Vorverfolgung des Klägers und seines Lebensgefährten ab. Dies ergibt sich vor allem aus dem Verlauf und den Erkenntnissen des zweiten Verhandlungstermins vom 25. Juli 2017. Hieraus ergeben sich in Zusammenschau mit dem Vorbringen im Visumverfahren, beim Bundesamt, im Gerichtsverfahren und gegenüber den Medien sowie aus eigenen Recherchen des Gerichts zahlreiche falsche und unstimmige Darstellungen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass sich die geschilderten Zwischenfälle im Herkunftsstaat nicht, jedenfalls nicht in der geschilderten Intensität und Häufigkeit zugetragen haben. Dafür haben der Kläger und sein Lebensgefährte im Verfahren zu viele konträre, unstimmige und teilweise sogar offen widersprüchliche Angaben gemacht. Insbesondere das zur Überzeugung des Gerichts vom Kläger verfasste Posting auf der Internetseite „G* …“ vom 11. August 2013 belegt augenfällig, dass der Kläger und sein Lebensgefährte (allein) unter Hinweis auf die allgemeine Lage für Homosexuelle in der Russischen Föderation bereits im August 2013 zur Ausreise entschlossen waren. Im Termin vom 25. Juli 2017 gemachte gegenteilige Angaben zum Ausreiseentschluss sind daher offensichtlich falsch. Zudem weicht die Schilderung der maßgeblichen Vorfälle gegenüber Bundesamt, Gericht und Medien in der zeitlichen wie inhaltlichen Darstellung immer wieder massiv voneinander ab und dies nicht nur im Vergleich untereinander, sondern auch im Kontrast zu den – ebenfalls in sich wiederholt differierenden – Angaben des Lebensgefährten.
2. Gleichwohl ist das Gericht nach Aktenlage wie nach dem im Verhandlungstermin gewonnenen persönlichen Eindruck davon überzeugt, dass der Kläger homosexuell ist und in einer Partnerschaft mit seinem Lebensgefährten lebt.
3. Trotz der Tatsache, dass der Kläger und sein Lebensgefährte im Verfahren unzutreffende Angaben gemacht haben, blieb also gleichwohl zu prüfen, ob ungeachtet des unglaubhaften individuellen Vorbringens Homosexuelle allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Gruppenverfolgung in der Russischen Föderation unterliegen.
3.1 Homosexuelle Menschen gehören in der Russischen Föderation zu einer sozialen Gruppe im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Die sexuelle Ausrichtung einer Person stellt ein Merkmal dar, das im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4a) AsylG so bedeutsam für die Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden darf, auf sie zu verzichten. Es kann auch nicht erwartet werden, dass die Sexualität im Herkunftsland geheim gehalten oder Zurückhaltung beim Ausleben der sexuellen Ausrichtung geübt wird, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden, wenn es zur selbstverstandenen Identität der betroffenen Person gehört, die eigene Sexualität zu leben (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 – Rs. C-199/12 u.a. – juris). Daher ist einem Betroffenen der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, wenn es zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft ist, dass seine Homosexualität ihn nach seiner Rückkehr in das Herkunftsland der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzt (vgl. zum Vorstehenden VG Potsdam, U.v. 13.6.2018 – VG 6 K 268/16.A – juris; ebenso VG Magdeburg, U.v. 21.3.2017 – 3 A 51/17 MD).
3.2 Auf Grundlage der beim Auswärtigen Amt eingeholten Auskunft vom 15. Dezember 2017 sieht das Gericht diese Gefahr im Falle des Klägers als gegeben an. So mag die absolute Zahl der bekannt gewordenen Fälle von Gewalt gegen Vertreter der LGBTTI-Szene etwa in Relation zur Zahl der in der Russischen Föderation lebenden Menschen nicht allzu hoch ausfallen. Gleichwohl ist der wiedergegebenen Einschätzung der befragten Nichtregierungsorganisationen (NGO), welche das Auswärtige Amt im Lagebericht 2018 (S. 11) teilt, beizupflichten, dass die Dunkelziffer in diesem Bereich vermutlich sehr hoch sein wird. Maßgeblich sei dabei u.a., dass sich viele Opfer von Gewaltverbrechen auch deshalb nicht an die Polizei wenden würden, weil Homophobie bei den Sicherheitsbehörden weit verbreitet sei. Die schlechte Verfolgungswie Aufklärungsquote im Bereich homophob motivierter Straftaten ergebe sich nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes aus einer homophoben Grundeinstellung der Sicherheitsbehörden. Nach Angaben verschiedener NGOs weigere sich die Polizei oft, den Vorgang überhaupt erst aufzunehmen und weise die Anzeigeerstatter ab, wenn das Opfer einer homophob motivierten Tat diese bei der Polizei zur Anzeige bringen wolle und den Hintergrund der Tat benenne. Es würden so gut wie keine Strafanzeigen von Opfern homophob motivierter Straftaten angenommen. Wenn das Opfer allerdings den Hintergrund verschweige und diese auch nicht offensichtlich sei, würden Straftaten von Ermittlungsbehörden entsprechend verfolgt. Dabei mache es keinen Unterschied, ob es sich um „gewichtigere“ oder „weniger gewichtige“ Delikte handele. Wenn das Opfer einen Rechtsanwalt einschalte, arbeite die Polizei generell sorgfältiger, es könne dann auch zu einem Strafverfahren kommen. Weiter führt das Auswärtige Amt aus, dass homophob motivierte Straftaten von den Strafverfolgungsbehörden nach Angaben aller befragten NGOs in der Regel nicht als sog. „Hassverbrechen“ eingestuft würden, obwohl das russische Strafrecht zum Beispiel bei Totschlag und Körperverletzung einen entsprechenden Qualifikationstatbestand kenne. Staatsanwaltschaften und Gerichte würden Homosexuelle allerdings nicht als soziale Gruppe einstufen, obwohl das Verfassungsgericht in einem Beschluss vom 23. September 2014 eine solche Einordnung vorgenommen habe. In versammlungsrechtlicher Hinsicht seien öffentliche Veranstaltungen der LGBTTI-Szene zwar möglich, das Versammlungsrecht werde von den zuständigen Behörden aber restriktiv gehandhabt. Es sei derzeit v.a. in St. P. praktisch unmöglich, als offen auftretende LGBTTI-Gruppierung eine Genehmigung zu erhalten. Allerdings gebe es nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes sehr wohl öffentliche Veranstaltungen. Bei einem Filmfestival 2017 hätten sich etwa Gegendemonstranten ruhig verhalten, auch die Polizei sei zum Schutz der Veranstaltung präventiv vor Ort gewesen. Schutz vor Übergriffen Dritter werde durch die Polizei nicht immer gewährleistet. Das Verhalten der Polizei bei Demonstrationen oder Veranstaltungen der LGBTTI-Community stelle sich nach Berichten von NGOs ambivalent dar. So komme es schon vor, dass die Polizei Demonstranten vor Übergriffen homophober Gegendemonstranten schütze. Andererseits würden die Sicherheitsbehörden Auflagen für Versammlungen sehr rigide durchsetzen und dabei zum Teil die Grenzen des Versammlungsrechts überschreiten. Bei Übergriffen Dritter auf Versammlungsteilnehmer verhalte sich die Polizei nach Angaben zweier NGOs weitgehend passiv. Für das Jahr 2015 seien 26 Fälle benannt worden, in denen die Versammlungsfreiheit verletzt worden sei. In Bezug auf die Gesetzgebung zur Strafbarkeit der „Verbreitung homosexueller Propaganda gegenüber Minderjährigen“ würden die NGOs übereinstimmend berichten, dass sich die Situation von LGBTTI seit Inkrafttreten des Gesetzes spürbar verschlechtert habe. Der „chilling effect“ auf die Gesellschaft sei enorm. Das Thema Homosexualität sei in der Öffentlichkeit weitgehend ein Tabu. Es sei zudem zu einer umfangreichen Hetzkampagne in den sozialen Medien gekommen, die Atmosphäre in der Gesellschaft sei vergiftet. Der Staat habe den Homophoben durch dieses Gesetz gleichsam „grünes Licht“ gegeben. Bei gewalttätigen Übergriffen brächten die Täter zu ihrer Rechtfertigung oft vor, es handele sich doch um einen „Schwulen“, der sie habe „anmachen“ wollen. Die Sicherheitsbehörden seien durch das Gesetz ermutigt worden, Anzeigen von Homosexuellen nicht nachzugehen. Laut einer NGO habe sich die homophobe Gruppierung „Occupy Pedophilia“ als Reaktion auf dieses Gesetz gebildet. Der Aussage von Human Rights Watch, nach der das Gesetz gegen die Propagierung nichttraditioneller Beziehungen die Diskriminierung von LGBTTI praktisch legalisiert habe, könne insoweit zugestimmt werden, als homophobe Teile der Gesellschaft und in den Sicherheitsbehörden durch das Gesetz den Eindruck vermittelt bekommen hätten, dass sie ihre Homophobie nun offen zum Ausdruck bringen dürften und als eine unbefangene Diskussion über das Thema Diskriminierung von LGBTTI kaum mehr möglich sei. Die benannte Gesetzgebung sei indes durch das russische Verfassungsgericht in einem Beschluss vom 23. September 2014 dahingehend klargestellt worden, dass die maßgebliche Norm nicht als Verbot nichttraditioneller Beziehungen, insbesondere der Homosexualität, verstanden werden könne und einer solch weiten Auslegung nicht zugänglich sei. Bei verfassungsgemäßer Auslegung der Norm sei nur die Verbreitung von Informationen auf eine aggressive und auf zwingende Art und Weise unter Strafe gestellt. Die dem Auswärtigen Amt bekannten Verurteilungen bezögen sich alle auf Sachverhalte, in denen die Täter in den sozialen Medien Mitglieder von Gruppen wie „Kinder gegen Homophobie“ gewesen seien oder der Öffentlichkeit Plakate mit Losungen wie „Schwul zu sein und Schwule zu lieben ist normal, Schwule zu schlagen und zu töten ist ein Verbrechen“ gezeigt hätten. Ein Fall, in dem ein Gericht das Küssen oder Händchenhalten vor den Augen von Minderjährigen zum Anlass einer Verurteilung genommen habe, sei dem Auswärtigen Amt nicht bekannt. Ein solches Urteil entspräche wohl auch nicht dem geltenden Recht. Nach Angaben von NGOs komme es auch nicht vor, dass Homosexuelle angezeigt würden, wenn sie sich öffentlich küssen oder Händchen halten würden. Ungeachtet der Rechtslage sei das Ansehen der Strafverfolgungsbehörden so niedrig, dass sich etwaige Beobachter nicht an die Polizei wendeten, sondern lieber selbst einschritten, was sich in gewalttätigen Übergriffen äußern könne. Wer in den Großstädten wie St. P. oder M. lebe und finanziell gut gestellt sei, könne nach Angaben einer NGO ein relativ unbehelligtes Leben führen, da man sich seine Nachbarschaft dann aussuchen könne. Die weniger Privilegierten hätten diese Möglichkeiten allerdings nicht. Eine weitere NGO bestätige, dass die Situation für LGBTTI aufgrund der größeren Bevölkerungszahl und liberalerer Einstellungen in den Städten in den großen Städten wie M. und St. P. etwas besser als in den Regionen sei. Im Berufsleben könne ein „coming out“ die Kündigung durch den Arbeitgeber zur Folge haben. Auf einen Rechtsstreit ließen sich die Betroffenen meistens nicht ein, dass er bei Bewerbungen auf eine neue Stelle in der Regel Referenzen ihres ehemaligen Arbeitgebers nachweisen müssten. Im Konfliktfall sähen sich daher Arbeitnehmer oft dazu veranlasst, selbst zu kündigen.
Im aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. Mai 2018 (dort S. 11) heißt es ferner:
„Homosexualität ist in Russland nicht strafbar, die „Verbreitung homosexueller Propaganda gegenüber Minderjährigen“ hingegen schon. Verstöße gegen diese Vorschriften können mit empfindlichen Geldstrafen geahndet werden. In der Bevölkerung nehmen starke Vorbehalte zu, seitdem sie durch die orthodoxe Kirche und islamische Prediger, zunehmend auch durch staatliche Medien und durch in den sozialen Netzen aktive homophobe russische Bürger gefördert werden. Bei der Zahl von Gewaltverbrechen gegen Homosexuelle verzeichnet die Menschenrechtsorganisation SOVA für das Jahr 2016 einen Rückgang gegenüber dem Vorjahr. Von einer hohen Dunkelziffer ist jedoch auszugehen.“
3.2.1 Auf Basis dieser Stellungnahme schätzt das Gericht die Lage für Homosexuelle in der Russischen Föderation ebenso ein wie das VG Potsdam in o.g. Urteil. Es führt darin u.a. aus:
„Die Personengruppe der LGBT-Menschen besitzt in der Russischen Föderation ausweislich der klägerseits angesprochenen und der gerichtlicherseits ins Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur Situation in der Russischen Föderation eine deutlich abgegrenzte Identität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b AsylG, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (so bereits VG Potsdam, Urteil vom 27. April 2017 – 6 K 338/17.A -, juris Rn. 28). Homosexualität wie auch sonst die Zugehörigkeit zu sexuellen Minderheiten ist in der russischen Gesellschaft ein Tabuthema. Personen, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, müssen damit rechnen, sozial ausgegrenzt zu werden. In der Bevölkerung nehmen starke Vorbehalte zu, seitdem sie durch die orthodoxe Kirche und islamische Prediger, zunehmend auch durch staatliche Medien und durch in den sozialen Netzen aktive homophobe russische Bürger gefördert werden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21. Mai 2018, S. 11). Auch ist Homosexualität in Russland nicht strafbar, jedoch ist die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in der russischen Gesellschaft gering. Es kommt immer wieder zu Übergriffen auf Homosexuelle, z.B. bei öffentlichem Zeigen gegenseitiger Zuneigung (Auswärtiges Amt, Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, Stand: 11. Juli 2018, abrufbar unter https://www…de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederationnode/russischefoederationsicherheit/201536#content_0). (…)
Der Kläger hat wegen seiner sexuellen Ausrichtung bei Rückkehr in die Russische Föderation Verfolgung in Gestalt physischer und psychischer Gewalt begründet zu befürchten, vgl. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 AsylG. Diese Verfolgung droht ihm durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der russische Staat wirksamen Schutz hiervor bietet, §§ 3c, 3d AsylG, und ohne dass ihm interner Schutz zur Verfügung steht, § 3e AsylG.“
Dabei ist das Gericht der Auffassung, dass dem Kläger und seinem Lebensgefährten zumindest angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Situation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Gestalt physischer und psychischer Gewalt durch nichtstaatliche Akteure in der Russischen Föderation droht, obwohl sie zur Überzeugung des Gerichts nicht vorverfolgt ausgereist sind. Nach der Erkenntnislage müssen der Kläger und sein Lebensgefährte damit rechnen, dass nichtstaatliche Akteure unter dem Eindruck von Andersartigkeit Homosexueller in den Augen der Mehrheitsbevölkerung (vgl. VG Magdeburg a.a.O.: „Die Gruppe der Homosexuellen hat in Russland eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Dies belegt bereits das Gesetz zum ‚Verbot der Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen auf föderaler Ebene‘.“) physisch und/oder psychisch übergriffig werden, wenn der Kläger und sein Lebensgefährte ihre sexuelle Orientierung und Beziehung etwa in Gestalt von Küssen, Umarmungen oder Händchenhalten öffentlich bekunden. Vor diesem Hintergrund wäre die einzige Möglichkeit „wirksamen“ Schutzes, dass der Kläger bereits im ganz gewöhnlichen Alltag seine sexuelle Identität verleugnet und in der Öffentlichkeit fast vollständige Zurückhaltung übt. Wie bereits oben angesprochen, kann aber nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein Geheim- oder Zurückhalten zur Vermeidung der Gefahr einer Verfolgung nicht erwartet werden, wenn es zur selbstverstandenen Identität der betroffenen Person gehört, die eigene Sexualität zu leben. Dies nimmt das Gericht im Fall des Klägers und seines Lebensgefährten ohne Weiteres an.
3.2.2 Zur Frage (fehlenden) wirksamen staatlichen Schutzes führt das VG Potsdam weiter aus:
„Wirksamer staatlicher Schutz steht dem Kläger bei einer potentiellen Rückkehr nicht zur Verfügung. Gemäß § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG ist generell ein Schutz gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. Für diese Nachprüfung haben die zuständigen Behörden insbesondere die Funktionsweise der Institutionen, Behörden und Sicherheitskräfte einerseits und aller Gruppen oder Einheiten des Drittlandes, die durch ihr Tun oder Unterlassen für Verfolgungshandlungen gegen die betreffende Person im Fall ihrer Rückkehr in dieses Land ursächlich werden können, andererseits zu beurteilen. (…)
Das Gericht geht unter Zugrundelegung aller ins Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur Situation in der Russischen Föderation nicht von in diesem Sinne wirksamen staatlichen Sanktionen gegen Verfolgungshandlungen bei Personen aus, die sich gegen sexuelle Minderheiten in der spezifischen Lage des Klägers richten.(…)
Ausweislich der ins Verfahren eingeführten Erkenntnisse ist zwar Homosexualität in der Russischen Föderation nicht strafbar, die „Verbreitung homosexueller Propaganda gegenüber Minderjährigen“ hingegen strafbewehrt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21. Mai 2018, S. 11). Durch diese durch das föderale Gesetz gegen „Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen gegenüber Minderjährigen“ eingeführten Norm drohen auch Ausländern bei Weitergabe von Informationen über bzw. öffentlicher Demonstration und Unterstützung von Homosexualität Geldbußen in Höhe von bis zu 100.000,- Rubel, bis zu 15 Tage Haft und die Ausweisung aus der Russischen Föderation (Auswärtiges Amt, Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, Stand: 11. Juli 2018, abrufbar unter https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederationnode/russischefoederationsicherheit/201536#content_0). Diese Norm findet unter anderem auch dann Anwendung, wenn beispielsweise in sozialen Medien Links zu der Internetseite der internationalen Organisation Jugendkoalition für sexuelle und reproduktive Rechte (Youth Coalition for Sexual and Reproductive Rights – YCSRR) geteilt werden (Amnesty International, Report 2018, Stand: Dezember 2017, S. 5). Darüber äußern sich Repressionen Dritter hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21. Mai 2018, S. 11 f.). Diese in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse belegen zumindest eine Gleichgültigkeit des russischen Staates gegenüber der gesellschaftlichen Homophobie. Untermauert wird dieser Eindruck durch den Umstand, dass homophobe Tendenzen durch staatliche Medien gefördert werden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21. Mai 2018, S. 11).“
Das Gericht teilt diese Bewertung auch für den vorliegenden Fall. Die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 15. Dezember 2017 bringt ebenfalls zum Ausdruck, dass sich die schlechte Verfolgungswie Aufklärungsquote aus einer homophoben Grundeinstellung der Sicherheitsbehörden ergibt und mit einem Schutz homosexueller Opfer nicht ernsthaft zu rechnen ist, wenn der Hintergrund der Tat den Sicherheitsbehörden bekannt wird. Staatsanwaltschaften und Gerichte stufen Homosexuelle nicht als soziale Gruppe ein, obwohl dies im russischen Strafrecht möglich und vorgesehen ist. Im Versammlungsrecht werden Genehmigungen für Veranstaltungen der LGBTTI-Szene restriktiv gehandhabt; teilweise wird auch gegen das Versammlungsrecht verstoßen. Das Verhalten der Polizei bei Demonstrationen oder Veranstaltungen ist ambivalent. Darüber hinaus hat vor allem die Gesetzgebung zur Strafbarkeit der „Verbreitung homosexueller Propaganda gegenüber Minderjährigen“ auch nach Einschätzung des Gerichts in Würdigung der Erkenntnislage zu einer spürbaren Verschlechterung der gesellschaftlichen Akzeptanz in Gestalt einer (weiteren) Stigmatisierung Homosexueller in der Russischen Föderation geführt. Es ist ohne Weiteres nachvollziehbar, dass diese Gesetzgebung weit in die russische Gesellschaft hinein das Signal gesetzt hat, dass Homosexualität als „etwas Andersartiges, Schlechtes“ betrachtet wird. Selbst das Auswärtige Amt stimmt der Wahrnehmung zu, dass homophobe Teile der Gesellschaft und in Sicherheitsbehörden durch das Gesetz den Eindruck vermittelt bekommen hätten, dass sie ihre Homophobie nun offen zum Ausdruck bringen dürften und eine unbefangene Diskussion über das Thema Diskriminierung von LGBTTI kaum mehr möglich sei. Dementsprechend können sich Vertreter der Sicherheitsbehörden, die homophob motivierten Straftaten nicht nachgehen, sowohl im Lichte der konkreten Gesetzgebung als auch der allgemein erzeugten gesellschaftlichen Stimmung in Sicherheit wiegen, dass ihre Weigerung zur Strafverfolgung für sie ohne Konsequenzen bleibt. Nur so lässt sich zugleich der Befund des Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 21. Mai 2018 (S. 11/12) erklären, dass Repressionen Dritter u.a. in Gestalt homophober Straftaten von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt würden (s. dazu auch spezifische Frage bzw. Antwort Nr. 3 aus der Stellungnahme des AA vom 15.12.2017).
3.2.3 Der Aspekt „zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative“ führt ebenfalls zu keiner anderen Bewertung. Das VG Potsdam legt insoweit dar:
„Das Gericht geht auch davon aus, dass der Kläger weder für den Ausreisezeitpunkt noch jetzt auf eine interne Schutzalternative i.S.d. § 3e AsylG verwiesen werden kann. Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft danach nicht zuerkannt, wenn er (1.) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und (2.) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Dabei ist bei der Prüfung internen Schutzes kein strengerer Maßstab zugrunde zu legen als bei der systematisch vorgelagerten Frage nach der Verfolgungsprognose (BVerwG, Urteil vom 5. Mai 2009 – 10 C 21.08 -, juris Rn. 22 ff.). Unter Zugrundelegung der Tatsache, dass die Übergriffe auf den Kläger auf Grundlage seines äußeren Erscheinungsbildes und der Tatsache, dass er Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit ausgetauscht hat, erfolgten, kann vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sich woanders in der Russischen Föderation niederlässt. Da Anlass seiner Verfolgung vollkommen sozialadäquates Verhalten in Auslebung der Sexualität war, wäre der Kläger überall gleichermaßen als Teil der sozialen Gruppe, als deren Mitglied er Verfolgung erlitten hat, erkennbar. Dem Kläger ist es auch nicht zuzumuten, sein nach herkömmlichen Maßstäben unauffälliges äußeres Erscheinungsbild zu ändern oder seine sozialadäquate Verhaltensweise aufzugeben, um in den Genuss interner Schutzalternativen zu gelangen.“
Nichts anderes gilt im Ergebnis auch im vorliegenden Fall. Selbst wenn der Kläger und sein Lebensgefährte nicht vorverfolgt ausgereist sein mögen, ist dennoch bei der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes zu berücksichtigen, dass Anlass einer Verfolgung ebenfalls ein sozialadäquates Verhalten in Ausübung der sexuellen Orientierung, wozu unzweifelhaft ein in der Öffentlichkeit gezeigtes Beziehungsleben gehört, sein würde. Dementsprechend würden der Kläger und sein Lebensgefährte unabhängig vom konkreten Ort einer Niederlassung in der Russischen Föderation – wobei die Situation in den Regionen der Russischen Föderation ohnehin als noch schlechter zu qualifizieren wäre als in den Großstädten – im Zeitpunkt der Offenbarung ihrer sexuellen Orientierung in der Öffentlichkeit unmittelbar und ohne weiteres als homosexuell „identifiziert“ und stigmatisiert, v.a. in ihrer Nachbarschaft. Sie wären sodann einer hieraus resultierenden Gefahr von Übergriffen nichtstaatlicher Akteure bei zugleich fehlendem bzw. unzureichendem staatlichen Schutz ausgesetzt. Wenn das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 15. Dezember 2017 unter Hinweis auf entsprechende Angaben von NGOs anmerkt, dass die Situation in Großstädten etwas besser als in den Regionen sei, ist dies u.a. auch von der finanziellen Situierung betroffener Personen abhängig. Für eine herausgehobene wirtschaftliche Stellung des Klägers und seines Lebensgefährten, die ihnen ein „Aussuchen der Nachbarschaft“ ermöglichen könnte, ist indes nach Aktenlage nicht ersichtlich.
4. Über die Hilfsanträge (Zuerkennung deren Schutzes bzw. Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes) war mit Blick auf den Erfolg im Hauptantrag nicht mehr zu entscheiden. Eine Aufhebung auch der Ziffern 3 und 4 des streitgegenständlichen Bescheides ist mit Blick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entbehrlich.
5. Mit Blick auf die über den vorliegenden Einzelfall hinaus reichende grundsätzliche Bewertung der Situation Homosexueller in der Russischen Föderation erschiene eine obergerichtliche Klärung wünschenswert (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
Kosten: § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Vorläufige Vollstreckbarkeit und Abwendungsbefugnis: § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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