Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Abwendung von den Taliban

Aktenzeichen  M 18 K 17.43616

Datum:
7.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 20233
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 lit. d, lit. e
Richtlinie 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4

 

Leitsatz

1.  Die durch Druck erzwungene Rekrutierung von jungen Männern durch die Taliban war insbesondere auch im Jahr 2015 eine, wenn auch nicht weitverbreitete, so doch gebräuchliche Vorgehensweise (Rn. 31). (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist davon auszugehen, dass ein Verfolgungsinteresse der Polizei nach einem Zeitablauf von fünf Jahren nicht mehr gegeben ist  (Rn. 35). (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Falle eines Klägers, der sich von der Mitarbeit bei den Taliban abgewandt hat und auch dem Aufruf zur Rückkehr nicht gefolgt ist, ist davon auszugehen, dass er als politischer Gegner der Taliban wahrgenommen und von diesen dementsprechend auch weiterhin verfolgt wird (Rn. 37). (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein staatlicher Schutz vor den Taliban existiert in Afghanistan nicht. Taliban-Kommandeure sind durch ihre breiten Netzwerke und Allianzen jederzeit fähig, verfeindete Personen im ganzen Land ausfindig zu machen und gegebenenfalls zu verfolgen (Rn. 37 – 38). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. Mai 2017 wird in den Nummern 1, 3, 4, 5 und 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten – die Beklagte durch allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 – auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts erweist sich daher insoweit als rechtswidrig, war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, da er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch die Taliban wegen seiner (jedenfalls vermeintlichen) politischen Überzeugung außerhalb seines Herkunftslands befindet und er im Fall einer Rückkehr weiterhin von Rachemaßnahmen bedroht ist.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) – EMRK – keine Abweichung zulässig ist, oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist, vgl. § 3a Abs. 1 AsylG. Als Verfolgung in diesem Sinne können unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt gelten (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG), oder unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG). Die Prüfung der Verfolgungsgründe ist in § 3b AsylG näher geregelt. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es danach unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. In § 3a Abs. 3 AsylG ist geregelt, dass eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG und den Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3a Abs. 1 und 2 AsylG bestehen muss.
Die Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Schutz vor Verfolgung kann gemäß § 3d Abs. 1 AsylG nur geboten werden vom Staat oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz zu gewähren, vgl. § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat, § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG. Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn eine sogenannte interne Schutzalternative besteht, weil er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer diese Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“); das entspricht dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 20.02.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32). Er verlangt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei sind neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen das maßgebliche Vorbringen des Antragstellers und dessen individuelle Lage zu berücksichtigen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, a.a.O., juris Rn. 32; ausführlich dazu VGH B-W, U.v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17 – juris Rn. 31 ff.). Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob bereits Vorverfolgung oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG vorliegt (vgl. EuGH, U.v. 02.03.2010 – C-175/08 – juris Rn. 84 ff.; BVerwG, U.v. 27.04.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22) (OVG Bremen, U.v. 12.2.2020 – 1 LB 305/18 – juris Rn. 35 ff.).
Vorverfolgten kommt jedoch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (stRspr., Vgl. BVerwG, B.v. 17.9.2019 – 1 B 43.19 – juris Rn. 7 ff. unter Verweis auf U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris; OVG Lüneburg, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 juris Rn. 39). Die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU kommt dem vorverfolgten Antragsteller auch bei der Prüfung zugute, ob für ihn im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG (vgl. vormals Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht. Die hinter der Beweiserleichterung stehende Teleologie – der humanitäre Charakter des Asyls – verbietet es, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden (vgl. BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 22 in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG; offen gelassen OVG Lüneburg, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 juris Rn. 38).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet (stRspr., BverwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 37/18 – juris Rn. 15ff. m.w.N.). Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BayVGH, U.v. 12.12.2019 – 8 B 19.31004 – juris Rn. 27; BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – juris). Das Tatsachengericht darf dabei berücksichtigen, dass die Befragung von Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen mit erheblichen Problemen verbunden ist (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989, a.a.O.). Der Asylbewerber befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Wer durch Vortrag eines Verfolgungsschicksals um Asyl nachsucht, ist in der Regel der deutschen Sprache nicht mächtig und deshalb auf die Hilfe eines Sprachmittlers angewiesen, um sich mit seinem Begehren verständlich zu machen. Zudem ist er in aller Regel mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten des Aufnahmelands, mit Behördenzuständigkeiten und Verfahrensabläufen sowie mit den sonstigen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, auf die er nunmehr achten soll, nicht vertraut. Es kommt hinzu, dass Asylbewerber, die alsbald nach ihrer Ankunft angehört werden, etwaige physische und psychische Auswirkungen einer Verfolgung und Flucht möglicherweise noch nicht überwunden haben, und dies ihre Fähigkeit zu einer überzeugenden Schilderung ihres Fluchtgrunds beeinträchtigen kann (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – NVwZ 1996, 678).
Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Das Gericht hält den Vortrag des Klägers insbesondere aufgrund der Vorlage des Videos für glaubhaft. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger von den Taliban konkret als Abtrünniger mit dem Tod bedroht wurde, sofern er nicht zu ihnen zurückkehren würde und diese Bedrohung auch weiterhin besteht.
Der Kläger hat zu dem Verfolgungsgeschehen in allen Verfahrensstadien nahezu vollständig übereinstimmende Angaben gemacht und bestehende Unklarheiten im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ohne Zögern nachvollziehbar erläutert. Die Schilderung war in sich stimmig und nachvollziehbar, wenn auch an mehreren Punkten detailarm. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger (nach seinen eigenen Angaben) bereits in Afghanistan unter den Vorkommnissen psychisch gelitten hat und auch in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin durchgängig aufgrund depressiver und zum Teil suizidale Stimmungslagen in Behandlung ist und regelmäßig Medikamente nimmt, erscheint diese zurückhaltende, relativ emotionsfreie Darstellung jedoch nachvollziehbar und nicht zu Lasten des Klägers zu sprechen. Der Kläger hat auch im Übrigen im Rahmen der informatorischen Anhörung vor Gericht einen eher zurückhaltenden, distanzierten und selbst beherrschten Eindruck vermittelt. Unabhängig davon hat der Kläger zusammenhängend und ohne Übertreibungen die Geschehnisse dargestellt, sodass sich ein einheitliches Bild der Schilderung der Vorfälle durch den Kläger ergibt. Danach ist davon auszugehen, dass die Taliban bereits früh auf den Kläger aufmerksam wurden und ihn als ältesten Sohn einer für die örtlichen Verhältnisse durchaus wohlhabenden Familie zur Mitarbeit bewegen wollten. Der Kläger konnte sich dem zwar zunächst durch sein Studium und eine Arbeit an einem anderen Ort entziehen, mit der Rückkehr zum Heimatort wurde er jedoch von den Taliban so lange bedrängt, bis er sich schließlich zur Mitarbeit bereit erklärte. Entsprechend der umfangreich vorliegenden Erkenntnismittel muss auch davon ausgegangen werden, dass insbesondere auch im Jahr 2015 die durch Druck erzwungene Rekrutierung von jungen Männern durch die Taliban eine, wenn auch nicht weitverbreitete, so doch gebräuchliche Vorgehensweise war (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan – Lagebericht -, Stand September 2016, S. 12; Lagebericht, Stand Juni 2020, S. 12; BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30011 – juris Rn. 33 ff.; OVG Lüneburg, U.v.28.7.2014 – 9 LB 2/13 – juris Rn. 17).
Die Mitarbeit des Klägers für die Taliban wird schließlich auch durch das Video in dem der Kläger namentlich genannt und seine Teilnahme an Übungen und Training ausgeführt wird, bestätigt. Das Auswärtige Amt konnte zwar im Rahmen der Beweiserhebung keine Auskünfte zu dem in dem Video gezeigten Personen geben, bestätigte jedoch, dass die Taliban sogenannte „Trainingslager“ in allen Provinzen Afghanistans betreiben würden und es sich bei dem im Internet frei zugänglichen Drohvideo um eine von den Taliban übliche Kommunikationsform handle. Wie in dem Video würden Familien aufgefordert, die Geflohenen zurückzuholen. Obwohl keine explizite Drohung ausgesprochen werde, werde eine implizite Drohung erschlossen. Im vorliegenden Fall enthielt das Video entsprechend der Übersetzung durch den Dolmetscher im Rahmen der mündlichen Verhandlung darüber hinaus jedoch die eindeutige Drohung, dass die fünf namentlich benannten Personen – darunter der Kläger – umgebracht werden würden, sofern sie nicht zurückkämen. Aufgrund dieser Ausführungen sowie dem persönlichen Eindruck des Gerichts von dem Video, welche auf Grund seiner Darstellungen und Inhalte schwer zu fingieren sein dürfte, geht das Gericht von der Authentizität des Videos aus. Auch an der Ernsthaftigkeit der in dem Video ausgesprochen Drohung durch die Taliban bestehen aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel keine Bedenken.
Soweit die Beklagte im Bescheid ausführt, dass es der allgemeinen Lebenserfahrung widerspreche, dass die Taliban ein Video an örtliche Polizeistationen weitergeleitet habe, widerspricht bereits dieser zu Grunde gelegt Sachverhalt der Darstellung durch den Kläger. Der Kläger hat auch im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt angegeben, dass die Taliban das Video im Internet verbreitet hätten und die Polizei ebenfalls hiervon erfahren hätte.
Nachdem auch das Auswärtige Amt bestätigte, dass dieses Vorgehen durch die Taliban üblich ist, erscheint es auch nicht zweifelhaft, dass auch die Polizei von dem Video Kenntnis erlangte und entsprechende Ermittlungen einleiten und den Kläger verhören wollte. Zwar führt das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 9. September 2019 aus, dass die afghanischen Sicherheitsbehörden keine systematische Informationsverarbeitung betreiben würden, da die Kapazitäten und Fähigkeiten für Fahndungen und Ermittlungen nur sehr gering ausgeprägt seien. Dies widerspricht jedoch nicht der Darstellung des Klägers, dass die Polizei aufgrund der Kenntnis des Videos bei ihm zu Hause vorstellig wurde und ihn mitnehmen wollte. Soweit das Bundesamt insofern davon ausgeht, dass ein klärendes Gespräch mit der Polizei und eine Zusammenarbeit mit dieser sinnvoll gewesen wäre, lässt das Bundesamt außer Betracht, dass nach sämtlichen Erkenntnismitteln der Großteil der afghanischen Bevölkerung nur sehr geringes Vertrauen in die afghanischen Sicherheitskräfte und Justizorgane hat und Hilfe selbst in Notfällen oft nicht in Anspruch genommen wird. Dies resultiert auch daraus, dass rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien, sofern überhaupt reguliert, von den Strafverfolgungsbehörden auch im Jahr 2015 nicht konsequent angewandt wurden (vgl. Lagebericht, Stand September 2016, S. 5, 11 f.; Stand Juni 2020, S. 10 f.). Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass es dem Kläger in der damaligen Situation zumutbar war, sich gegenüber der Polizei zu äußern und auf ein rechtsstaatliches Verfahren und Hilfe durch die Polizei zu setzen.
Das Gericht geht insoweit jedoch davon aus, dass ein Verfolgungsinteresse der Polizei nunmehr, nach dem die Vorfälle zwischenzeitlich fünf Jahre zurückliegen, nicht mehr gegeben ist und der Kläger nicht der hinreichenden Wahrscheinlichkeit von Ermittlungen bzw. Verfolgung durch die Polizei ausgesetzt ist.
Allerdings geht das Gericht davon aus, dass der Kläger weiterhin einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt ist. Dem Kläger kommt insoweit die Beweiserleichterung nach des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute.
Es liegen keine stichhaltigen Gründe dafür vor, dass sich die Bedrohungslage für den Kläger zwischenzeitlich maßgeblich geändert hat. Auch wenn die Bedrohung bereits einen langen Zeitraum zurückliegt (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 21.6.2013 – 13 a B 12.30170 – juris Rn. 29) und zwischenzeitlich auch – auch nach Angaben des Klägers – keine Bedrohungsmaßnahmen der Taliban gegenüber der Familie im Übrigen stattgefunden haben, liegen keine hinreichenden Gründe dafür vor, davon, dass auch für den Kläger persönlich keine konkrete Gefahr einer Verfolgungsmaßnahme mehr besteht. Nach den vorliegenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass die Taliban insbesondere aufgrund der religiösen Legitimierung ihres Herrschaftsanspruchs eine Abkehr von ihnen als Abfall vom Islam und damit besonders todeswürdiges Verbrechen erachten (OVG Lüneburg, U.v.28.7.2014 – 9 LB 2/13 – juris Rn. 17). Die Handlungsfähigkeit der Taliban besteht unverändert fort. Gezielte Tötungen haben im Laufe des Jahres 2019 und seit Beginn des Jahres 2020 stetig zugenommen. Dabei kommt es den Angriffen nicht darauf an, ausschließlich hochrangige Regierungsmitarbeiter zu treffen; einer erhöhten Gefährdung sind diejenigen ausgesetzt, die öffentlich gegen die Taliban Position beziehen (vgl. Lagebericht, Juni 2020, S. 17). Indem der Kläger sich von der Mitarbeit bei der Taliban abgewandt hat und auch dem Aufruf zur Rückkehr nicht gefolgt ist, ist davon auszugehen, dass der Kläger als politischer Gegner der Taliban wahrgenommen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG) und von diesen dementsprechend auch weiterhin verfolgt wird.
Ein stattlicher Schutz im Sinne des § 3d AsylG vor den Taliban existiert in Afghanistan nicht. Auch gemäß dem aktuellen Lagebericht ist die Regierung auch in den von ihr kontrollierten Gebieten häufig nicht in der Lage, ihre Schutzverantwortung effektiv wahrzunehmen. Die Zentralregierung hat nur beschränkten Einfluss auf lokale Machthaber und Kommandeure, die häufig ihre Macht missbrauchen. In vielen Regionen Afghanistans besteht auf lokaler und regionaler Ebene ein komplexes Machtgefüge aus Ethnien, Stämmen, sogenannten Warlords und privaten Milizen, aber auch einzelner Polizei- und Taliban-Kommandeure (Lagebericht, Juni 2020, S. 6).
Der Kläger kann auch nicht erfolgreich auf eine inländische Fluchtalternative verweisen werden, § 3e AsylG. Denn die Taliban sind in der Lage, Personen, auf denen ihr besondere Fokus liegt, auch in ganz Afghanistan aufzuspüren (vgl. hierzu ausführlich OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 7.5.2018 – 3L 84/18 – juris Rn. 14 ff.). Auch entsprechend dem aktuellen Lagebericht sind Taliban-Kommandeure durch ihre breiten Netzwerke und Allianzen jederzeit fähig, verfeindete Personen im ganzen Land ausfindig zu machen und gegebenenfalls zu verfolgen (Lagebericht, Juni 2020, S. 6). Es ist daher davon auszugehen, dass dem Kläger, insbesondere auch durch seine namentliche Nennung in dem Video, eine landesweite Verfolgung droht.
Inwieweit dem Kläger unabhängig von der konkreten landesweiten Verfolgungssituation darüber hinaus überhaupt eine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG zumutbar wäre (vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, U.v. 29.11.2019 – A 11 S 2376/19 – juris Rn. 23 ff.) kann daher vorliegend im Ergebnis offenbleiben.
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% ausgegangen. Zusätzlich belastet die Covid-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant: Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Dem afghanischen Staat ist es nahezu unmöglich, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen bereitzustellen. Auch die Integration der rasant wachsenden Zahl von Arbeitsmarkteinsteigern bildet eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Für Rückkehrer gilt dies in besonderem Maß. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Rückkehrer werden zudem von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Gleichzeitig hängt ihnen insbesondere innerhalb ihrer Familien oftmals der Makel des Scheiterns an. Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder Afghanistan mit der gesamten Familie verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (Lagebericht, Stand: Juni 2020, S. 18, 22 ff.). Es erscheint daher äußerst fraglich, ob unter den gegenwärtigen Bedingungen in Afghanistan überhaupt eine zumutbare inländische Fluchtalternative angenommen werden kann.
Dementsprechend war der Klage auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes im Sinne des § 3 AsylG unter Aufhebung des insoweit entgegenstehenden Bescheides des Bundesamtes vom 29. Mai 2017 stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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