Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eines Zugehörigen der Volksgruppe der Rohingya aus Myanmar

Aktenzeichen  M 17 K 16.30010

Datum:
7.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3, § 4
AufenthG AufenthG § 60

 

Leitsatz

Myanmar ist von einem Rechtsstaat noch weit entfernt. Muslimische Rohingyas sind gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch die Armee und lokale Behörden ausgesetzt (vgl. u.a. VG Münster BeckRS 2014, 57639). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. Juni 2013 wird in Nrn. 2 bis 4 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II.
Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Die Beklagte ist zur Feststellung verpflichtet, dass beim Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG vorliegt.
1. Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d) Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U. v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U. v. 28.4.2015 – AN 1 K 14.30761 – juris Rn. 65ff. m.V. auf: BVerwG, U. v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B. v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U. v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U. v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U. v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936; U. v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit – insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit – abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U. v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – juris).
2. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt:
2.1 Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger ursprünglich aus Myanmar stammt, der Volksgruppe der Rohingya angehört und moslemischen Glaubens ist. Die entsprechenden Fragen des Gerichts konnte der Kläger ausführlich, nachvollziehbar und ohne Zögern beantworten. Insbesondere konnte er seine Flucht aus Myanmar plausibel und widerspruchsfrei darlegen und die wesentlichen Inhalte des Islam bzw. die entsprechenden Verpflichtungen der Moslems nachvollziehbar erläutern sowie aus dem Koran zitieren.
2.2 Der Kläger hat auch detailliert und glaubhaft geschildert, dass er sich in Bangladesch als Rohingya lediglich in einem Flüchtlingscamp aufhalten durfte, in dem sie nur schlecht versorgt worden seien und nicht hätten arbeiten dürfen. Zudem sei er nicht nur von seinen Cousins geschlagen, sondern auch mehrfach von Einheimischen überfallen worden. Diese Ausführungen entsprechen den Schilderungen des UNHCR (Auskunft v. 10.12.2015 an das VG Augsburg), wonach der Aufenthalt auch registrierter Flüchtlinge in Bangladesch auf die Flüchtlingslager beschränkt sei und diese von jeder wirtschaftlichen Betätigung ausgeschlossen seien. Viele Rohingya würden erpresst und ausgebeutet und die bangladeschische Regierung verhindere durch ihre verweigernde Haltung, dass sich die Lage der Rohingya verbessere. Unregistrierte Rohingya würden aufgrund illegalen Grenzübertritts inhaftiert und verblieben auch nach Verbüßung der verhängten Strafe in den Haftanstalten. Zahlreiche Rohingya würden daher gegen sie verübte Straftaten aus Angst vor Verhaftung wegen illegalen Grenzübertritts nicht anzeigen, so dass ihnen der Zugang zu Rechtsschutz verwehrt bleibe. Auch das Auswärtige Amt führt in seiner Auskunft vom 6. Dezember 2013 an das VG Augsburg aus, dass in den illegalen Camps in Bangladesch besorgniserregende humanitäre Bedingungen herrschten.
2.3 Es kann dabei letztendlich dahingestellt bleiben, ob bereits diese Umstände für die Bejahung der Flüchtlingseigenschaft ausreichen bzw. ein Abschiebungshindernis darstellen können (verneint von VG Augsburg, U. v. 5.11.2012 – Au 2 K 12.30150 – juris). Denn zumindest besteht die Gefahr, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Bangladesch nach Myanmar weitergeschoben wird (a), wo ihm als moslemischen Rohingya Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 3 AsylG drohen (b).
a) Der Kläger war nach dessen glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung in Bangladesch nicht registriert und lebte dort nicht in einem der offiziellen Flüchtlingscamps. Seine Angaben decken sich insoweit mit den entsprechenden Schilderungen des UNHCR in der Auskunft vom 10. Dezember 2015 an das Verwaltungsgericht Augsburg. Unregistrierte Flüchtlinge sind jedoch nach Auskunft des Auswärtigen Amts vom 6. Dezember 2013 an das Verwaltungsgericht Augsburg unmittelbar von Abschiebung nach Myanmar bedroht, so dass die konkrete Gefahr besteht, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Bangladesch nach Myanmar weitergeschoben wird.
b) In Myanmar sind die muslimischen Rohingyas aber weiterhin zum Teil gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch die Armee und lokale Behörden ausgesetzt, sie sind unter anderem in ihrer Freizügigkeit und Berufsausübung erheblich eingeschränkt und werden aufgrund der Versagung eines personenrechtlichen Status drastisch und systematisch diskriminiert (UNHCR v. 10.12.2015; Auswärtiges Amt v. 6.12.2013, jew. an VG Augsburg; vgl. a. VG Münster, U. v. 1.10.2014 – 1 K 2062/13.A – juris 26ff.; VG Düsseldorf, U. v. 4.9.2014 – 8 K 4059/13.A – juris Rn. 20ff.; SZ v. 6.11.2015, v. 3./4.6.2015, Focus 22/2015).
Zudem nehmen in Myanmar Sicherheitskräfte willkürlich Personen fest und führen harte Verhörpraktiken durch. Es kommt zu Folter und extralegalen Tötungen durch die Sicherheitskräfte (vgl. VG Freiburg, U. v. 17.6.2010 – A 6 K 314/10 – juris; VG Augsburg, U. v. 1.2.2013 – Au 6 K 12.30101 – juris Rn. 27). Zwar ist in Myanmar zwischenzeitlich ein gewisser Demokratisierungsprozess zu verzeichnen, doch es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich an den Gesetzen selbst oder der Vollzugspraxis etwas geändert hat.
Schließlich ist davon auszugehen ist, dass bei einer Rückkehr des Klägers nach Myanmar diesem Maßnahmen im Sinne des § 3 AsylG auch aufgrund seiner illegalen Ausreise und der Asylantragstellung drohen. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln kann die illegale Ausreise aus Myanmar mit einer mehrjährigen Haftstrafe geahndet werden. Eine Anpassung der Gesetze nach dem Regierungswechsel ist bisher offenbar nicht erfolgt. Zwar hat nach Angaben des Auswärtigen Amtes die Beantragung von Asyl in Deutschland allein keine Repressalien zur Folge. Dies sei allerdings anders zu beurteilen, wenn weitere Umstände, wie z. B. die Begehung einer Straftat nach myanmarischem Recht, hinzuträten. Eine solche Straftat kann aber gerade die illegale Ausreise aus Myanmar und/oder (Wieder-)Einreise nach einem illegalen Auslandsaufenthalt sein. Auch in Folge der aktuellen politischen Entwicklung ist insoweit keine andere Beurteilung angezeigt. Zwar hat sich die menschenrechtliche Situation in letzter Zeit etwas verbessert, jedoch bleibt Myanmar von einem Rechtsstaat noch weit entfernt und es sind weiterhin Fälle von Behördenwillkür weit verbreitet (vgl. VG Augsburg, U. v. 1.2.2013 – Au 6 K 12.30101 – juris Rn. 30, 31, 38, 42 m. w. N.; VG Regensburg, Gerichtsbescheid v. 29.7.2013 – RN 2 K 13.30348; vgl. a. UNHCR v. 21.12.2012 an das VG Ansbach; Auswärtiges Amt v. 6.12.2013 an das VG Augsburg).
Aufgrund dieser Gesamtumstände geht das Gericht davon aus, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Bangladesch zumindest wegen der dann zu erwartenden Abschiebung nach Myanmar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen drohen.
Nach alledem war der Klage daher hinsichtlich § 3 AsylG stattzugeben. Dementsprechend war auch die Abschiebungsandrohung aufzuheben.
Die Kostenfolge ergibt sich hinsichtlich des in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen Teils (Anerkennung als Asylberechtigter) aus § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen aus § 154 Abs. 1 VwGO (vgl. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z. B. B. v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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