Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für Ahmadi aus Pakistan

Aktenzeichen  B 5 K 16.30291

Datum:
14.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1, § 3e

 

Leitsatz

1 Angehörige der Glaubensgemeinschaft Ahmadiyya Mulsim Jamaat sind in Pakistan nicht allein wegen ihres Glaubens und der Praktizierung ihres Glaubens einer Gruppenverfolgung ausgesetzt (vgl. OVG Münster BeckRS 2016, 110831). (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Für diejenigen Ahmadis, die ihren Glauben in Pakistan öffentlich leben und bekennen, besteht ein reales Verfolgungsrisiko. Sie haben mit einem erheblichen Risiko für Leib und Leben durch die Gefahr einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und durch Attentate oder gravierende Übergriffe privater Akteure zu rechnen (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 49253). (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Asylantragstellers, seinen Glauben in privatem Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung kann nicht davon abhängig gemacht werden, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (EuGH BeckRS2012, 81809). (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich kann eine hinreichend gravierende Verfolgung darstellen, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr entsprechender Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. (Rn. 21) (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Bei einem sog. Mußi handelt es sich um einen aus der Allgemeinheit der Ahmadis herausstechenden Gläubigen, der im Falle seiner Rückkehr nach Pakistan seinen Glauben weiter öffentlich ausüben und damit in die Gefahr religiöser Verfolgung geraten wird. Ein Unterlassen der Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit kann von ihm nicht verlangt werden (vgl. VGH BW BeckRS 2013, 52685). (Rn. 23) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 1, 3, 4, 5, und 6 des Bescheides des Bundesamtes für … vom 10. Februar 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Die zulässige Klage hat Erfolg. Dem Kläger steht der im Hauptantrag geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gemäß § 3 des Asylgesetzes (AsylG) zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO); der insofern entgegenstehende Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2016 war daher in dessen Ziffern 1, 3, 4, 5 und 6 aufzuheben.
a) Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – InfAuslR 1989, 349). Das Tatsachengericht darf dabei berücksichtigen, dass die Befragung von Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen mit erheblichen Problemen verbunden ist (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989, a.a.O.). Der Asylbewerber befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Wer durch Vortrag eines Verfolgungsschicksals um Asyl nachsucht, ist in der Regel der deutschen Sprache nicht mächtig und deshalb auf die Hilfe eines Sprachmittlers angewiesen, um sich mit seinem Begehren verständlich zu machen. Zudem ist er in aller Regel mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten des Aufnahmelands, mit Behördenzuständigkeiten und Verfahrensabläufen sowie mit den sonstigen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, auf die er nunmehr achten soll, nicht vertraut. Es kommt hinzu, dass Asylbewerber, die alsbald nach ihrer Ankunft angehört werden, etwaige physische und psychische Auswirkungen einer Verfolgung und Flucht möglicherweise noch nicht überwunden haben und dies ihre Fähigkeit zu einer überzeugenden Schilderung ihres Fluchtgrunds beeinträchtigen kann (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – NVwZ 1996, 678).
Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG. Das Gericht ist der Überzeugung, dass dem Kläger als bekennendem Ahmadi im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht.
b) Die Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya wurde 1889 durch Mirza Ghulam Ahmad gegründet. Dieser beansprucht Messias, Mahdi, Prophet, die geistige Wiedergeburt Jesu, Mohameds, Vishnus, Krishnas, Buddhas und der Reformer am Anfang der tausendjährigen Endzeit zu sein, den wahren Islam zu vertreten und ihn durch seine Bewegung innerhalb von 300 Jahren zum Sieg über alle anderen Religionen und islamischen Konfessionen zu führen. In ihrer Dogmatik weicht die Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya von den sunnitischen und schiitischen Hauptrichtungen des Islam, vor allem in ihrer Prophetenlehre, ab, weil sie Mohamed nicht als letzten Propheten ansieht. Vor allem aufgrund der Infragestellung der Finalität des Prophetentums Mohameds, eines essentiellen Bestandteils des Glaubens anderer islamischer Gemeinschaften, sind die Ahmadis insbesondere aus der Sicht orthodoxer Muslime Apostaten, die ihr Leben verwirkt haben. Aufgrund ihres Selbstverständnisses werden Ahmadis in Pakistan durch eine speziell gegen sie gerichtete Gesetzgebung diskriminiert. Der Islam wird in Pakistan durch die Verfassung von 1973 zur Staatsreligion erhoben. Durch eine Verfassungsänderung im Jahr 1974 wurden die Ahmadis ausdrücklich zu Nicht-Muslimen erklärt und in der Verfassung als religiöse Minderheit bezeichnet und geführt. Nach der pakistanischen Verfassung ist kein Muslim im Sinne der gesamten pakistanischen Rechtsordnung, wer nicht an die absolute und uneingeschränkte Finalität des Propheten Mohamed glaubt oder andere Propheten als Mohamed anerkennt. Aus diesem verfassungsunmittelbaren Verbot, sich als Muslime zu begreifen und zu verstehen, ergeben sich für die Ahmadis in allen Lebensbereichen Einschränkungen und Verbote. Sie können bei Wahlen nur auf besonderen Minderheitenlisten kandidieren und nur solche wählen. Um ohne Einschränkungen als Muslim kandidieren und gewählt werden zu können, muss eine eidesähnliche Erklärung zur Finalität des Prophetentums Mohameds abgegeben sowie ausdrücklich beteuert werden, dass der Gründer der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft ein falscher Prophet ist. Aufgrund dessen werden Wahlen durch die Ahmadis regelmäßig und in erheblichem Umfang boykottiert. Es ist Ahmadis in Pakistan außerdem untersagt, zum Gebet aufzurufen, ihre Gebetshäuser Moschee zu nennen, öffentliche Versammlungen oder religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, für den Glauben zu werben, an der Pilgerfahrt nach Mekka teilzunehmen und Literatur oder andere Veröffentlichungen mit Glaubensinhalt zu verbreiten. Außerdem dürfen sie geläufige religiöse Sprechweisen nicht benutzen, weil dies den Eindruck erwecken könne, sie seien Muslime (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Analysen Pakistan, Ahmadiyya-Entstehung und Glauben, 15.4.2013; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, Stand: Mai 2016).
Das Gericht geht allerdings in Übereinstimmung mit der überwiegenden Auffassung in der Rechtsprechung davon aus, dass Angehörige der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya Muslim Jamaat in Pakistan nicht allein wegen ihres Glaubens und der Praktizierung ihres Glaubens einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind (vgl. ausführlich VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 57 ff.; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – BVerwGE 146, 67; OVG NW, B.v. 19.12.2016 – 4 A 2203/15.A – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 5.2.2016 – 21 ZB 16.30014 – juris Rn. 9; SächsOVG, U.v. 18.9.2014 – A 1 A 348/13 – juris Rn. 43; VG München, U.v. 18.5.2016 – M 23 K 14.31133 – juris Rn. 26; VG Oldenburg, U.v. 30.1.2017 – 5 A 513/14 – juris Rn. 50 ff.). Anhaltspunkte dafür, dass sich die Bedingungen wesentlich verschlechtert haben, sind nicht vorgetragen und sind auch den Erkenntnismitteln, die Gegenstand des Verfahrens sind, nicht zu entnehmen. Auch der aktuelle Lagebericht führt zwar aus, dass die islamische Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya nach der pakistanischen Verfassung nicht als muslimisch anerkannt werde und Ahmadis durch eine speziell gegen sie gerichtete Gesetzgebung diskriminiert würden. Der weitaus größte Teil der Ahmadis lebt danach jedoch friedlich mit den muslimischen Nachbarn zusammen, auch wenn weiterhin über Fälle von Repressionen Dritter gegen Ahmadis (beispielsweise Aufrufe zu Übergriffen über Moscheelautsprecher) berichtet wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, Stand: Mai 2016, S. 14 f.). Im Übrigen kann insoweit auch auf die zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheides Bezug genommen werden, § 77 Abs. 2 AsylG.
c) Etwas anderes gilt jedoch für diejenigen Ahmadi, die ihren Glauben in einer verfolgungsrelevanten Weise praktizieren und ihr Bekenntnis aktiv in die Öffentlichkeit tragen. Für diese Personen besteht in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko, wenn sie ihren Glauben öffentlich leben und bekennen würden. Sie haben mit einem erheblichen Risiko für Leib und Leben durch die Gefahr einer jahrelangen Inhaftierung mit Folter bzw. unmenschlichen Haftbedingungen und von Attentaten oder gravierenden Übergriffen privater Akteure zu rechnen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – BVerwGE 146, 67; VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 113 ff.; VG München, U.v. 23.3.2016 – M 23 K 13.31367 – juris Rn. 18). Ein Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya aus Pakistan, für den das Leben und Bekennen seines Glaubens in der Öffentlichkeit identitätsbestimmender Teil seines Glaubensverständnisses ist, kann die Flüchtlingseigenschaft auch dann, wenn er im Falle der Rückkehr sein öffentliches Glaubensbekenntnis unterlassen würde, besitzen (vgl. VGH BW, a.a.O., Rn. 46). Denn das auch in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGRCh) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ist ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 u.a. – BayVBl 2013, 234, Rn. 57). Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Asylantragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung kann danach nicht davon abhängig gemacht werden, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift. Maßgeblich sind vielmehr die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 u.a. – BayVBl 2013, 234, Rn. 62; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – BVerwGE 146, 67). Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3a Abs. 1 AsylG handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit setzt dabei nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich kann eine hinreichend gravierende Verfolgung darstellen, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr entsprechender Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann eine Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen letztlich nicht an (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 u.a. – BayVBl 2013, 234, Rn. 69; VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 45).
d) Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. Ein Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen allerdings dann nicht, wenn er aus der naheliegenden und begründeten Furcht vor Verfolgung erfolgte (vgl. VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 50). Denn es ist nachvollziehbar, dass es für die Ahmadis nahe liegt, wenn es sich nicht gar gebietet, alle öffentlichkeitswirksamen Glaubensbetätigungen zu unterlassen oder auf ein Minimum zu beschränken, weil sie bei realistischer Betrachtungsweise mit erheblichen Reaktionen des Staates oder von nicht staatlichen Akteuren rechnen müssen, wenn sie ihr Menschenrecht auf Religionsfreiheit aktiv wahrnehmen.
e) Die Angaben des Klägers zu seiner Einreise mit Hilfe eines Schleusers sind zwar nicht ganz widerspruchsfrei und überzeugend, was auch schon im angefochtenen Bescheid vom 10. Februar 2016 – insoweit zutreffend – ausgeführt wird. Letztlich kann dies aber dahinstehen, ebenso wie die Frage, ob der Kläger vor seiner Ausreise aus Pakistan bereits Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat oder von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war. Denn es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen rechnen muss, die an seine Religion anknüpfen. Diese beachtlich wahrscheinliche Gefährdung ergibt sich im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG aus einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen. Neben dem schriftsätzlichen Vorbringen hat der Kläger durch seine in seiner ihm eigenen, einfachen und zurückhaltenden Art gemachten, gleichwohl aber nicht weniger glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts deutlich gemacht, dass er ein gläubiger und praktizierender Ahmadi ist. Dem Kläger wurde bescheinigt, dass er seit Geburt Mitglied der Ahmadiyya Muslim Jamaat ist. Er hat außerdem glaubhaft dargelegt, dass ihm die erstmals in Deutschland mögliche Teilnahme an der spirituellen Jahresversammlung Jalsa Salana und auch das Zusammentreffen mit dem Kalifen sehr viel bedeutet haben. Der Kläger hat zudem überzeugend dargestellt, dass er sich besonders und insbesondere auch in öffentlichkeitswirksamer Weise für seine Gemeinde engagiert. So hat er beispielsweise an der traditionellen Reinigung am Neujahrstag teilgenommen und bei zahlreichen Gelegenheiten Flugblätter für die Gemeinde verteilt. Er hat glaubhaft ausgeführt, dass es ihm aufgrund seiner Glaubensüberzeugung ein inneres Anliegen ist, Gutes zu tun, anderen Menschen zu helfen und gerade dadurch für seine Glaubensgemeinschaft zu werben. Dass er schließlich nicht nur ein einfaches Mitglied ist, zeigt seine Registrierung als Mußi, die bereits in Pakistan erfolgte und die nach den glaubhaften Angaben des Klägers ebenfalls auf seiner inneren religiösen Überzeugung fußte. Anhaltspunkte dafür, dass sein religiöses Engagement lediglich asyltaktische Gründe hätte, sind – auch unter Berücksichtigung seines nunmehr über vierjährigen Aufenthalts in Deutschland – nicht erkennbar. Beim Kläger handelt es sich somit um einen aus der Allgemeinheit der Ahmadis hervorstechenden Gläubigen, der im Falle seiner Rückkehr nach Pakistan seinen Glauben öffentlich weiterhin ausüben wird und damit in die Gefahr religiöser Verfolgung geraten wird. Ein Unterlassen der Glaubensausübung in der Öffentlichkeit kann von ihm nicht verlangt werden (vgl. VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 46).
f) Einem seinem Glauben innerlich verbundenen Ahmadi, zu dessen verpflichtender Überzeugung es gehört, den Glauben auch in der Öffentlichkeit zu leben und diesen in die Öffentlichkeit zu tragen und gegebenenfalls auch zu werben oder zu missionieren, steht auch kein interner Schutz im Sinne des § 3e AsylG offen, d.h. es gibt keinen Landesteil, in dem er in zumutbarer Weise und ungefährdet seinen Glauben öffentlich leben kann. Dies gilt auch für die Region Ch. N. (R.), wo zwar der Anteil der Ahmadis an der Bevölkerung vergleichsweise hoch ist, gleichwohl aber keine hinreichende Sicherheit vor staatlicher und nichtstaatlicher Verfolgung besteht (vgl. UNHCR, Eligibility guidelines for assessing the international protection needs of members of religious minorities from Pakistan, 14.05.2012, S. 42 f.). Zum einen gelten die Ahmadis diskriminierenden staatlichen Vorschriften in ganz Pakistan gleichermaßen, zum anderen hat insbesondere die islamistische Gruppierung „Khatm-e Nabuwwat“, die die Ahmadis in besonderer Weise bekämpft, einen Schwerpunkt ihrer Betätigung in Ch. N. (VG BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 121).
g) Weil dem Kläger somit die Flüchtlingseigenschaft i.S.v. § 3 AsylG zuzuerkennen ist, war der angefochtene Bescheid des Bundesamts aufzuheben, soweit er dem entgegensteht. Dementsprechend waren neben der Ziffer 1 auch die Ziffern 3 und 4 des streitgegenständlichen Bescheides aufzuheben, da die Feststellung, dass der subsidiäre Schutzstatus und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, regelmäßig gegenstandslos wird, wenn die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft Erfolg hat. Entsprechendes gilt für die Ausreiseaufforderung und Androhung der Abschiebung nach Pakistan (Ziffer 5 des Bescheides) sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Ziffer 6 des Bescheides). Über die hilfsweise gestellten Anträge auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG und Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG war nicht mehr zu entscheiden, da die Klage bereits im Hauptantrag erfolgreich war.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 der Zivilprozessordnung (ZPO). Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG).


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