Verwaltungsrecht

Zuerkennung internationalen Schutzes

Aktenzeichen  AN 18 K 16.32583

Datum:
20.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4807
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 87b Abs. 3
AsylG § 3, § 4

 

Leitsatz

1. Die Flüchtlingseigenschaft ist nicht anzuerkennen, wenn es dem Kläger nicht gelingt, die geltend gemachte Verfolgung dem Gericht hinreichend glaubhaft zu machen. (Rn. 16 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zuerkennung subsidiären Schutzes i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG scheitert, da für den Kläger keine stichhaltigen Gründe für die Annahme eines ihm in Afghanistan drohenden ernsthaften Schadens erkennbar sind. (Rn. 29 – 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

Über die Klage zu dessen Entscheidung die Einzelrichterin gemäß § 76 Abs. 1 AsylG berufen ist, konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. Januar 2020 entschieden werden, obwohl für die Beklagte niemand zum Termin erschienen ist. Auf die Möglichkeit, auch in Abwesenheit von Beteiligten entscheiden zu können, wurde in der Ladung hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 20. Dezember 2016 ist jedenfalls soweit er hier Prüfgegenstand ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dem Kläger steht nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (dazu 1.) noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (dazu 2.) zu.
Das Gericht nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Feststellungen und die Begründung der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG) und schließt sich diesen an. Ergänzt wird im Hinblick auf den maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) insbesondere mit Blick auf den im Verwaltungsprozess erfolgten klägerischen Vortrag und der aktuellen Lage in Afghanistan Folgendes:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 Alt. 1 AsylG. Er ist nicht als Flüchtling i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG anzusehen, da er sich nach Überzeugung des Gerichtes nicht aus „begründeter Furcht“ vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine derartige begründete Furcht bemisst sich nicht nach dem individuellen subjektiven Empfinden des Betroffenen, sondern ist mit Blick auf die Gleichmäßigkeit der Geltung des Gesetzes anhand des verobjektivierten asylrechtlichen Prognosemaßstabes der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ zu beurteilen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32 und B.v. 15.8.2017 – 1 B 120.17 – juris Rn. 8). Beachtlich wahrscheinlich ist eine Verfolgung danach, wenn bei der im Rahmen dieser Prognose vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Insofern ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten relevanten Umstände und ihrer Bedeutung geboten, bei der letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit maßgebend ist. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Ausländers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
Nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Asylvorbringens, die auch hier anzuwenden sind, obliegt es dabei dem Kläger, von sich aus umfassend die Gründe für das verfolgungsbedingte Verlassen der Heimat substantiiert, unter Angabe genauer Einzelheiten und in sich stimmig darzulegen. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes eines Asylsuchenden sind zwar seine Aussagen im Rahmen des Möglichen wohlwollend zu beurteilen. Seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung ist gerade bei fehlenden Beweisen gesteigerte Bedeutung beizumessen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.4.1985 – Az. 9 C 109/84 – juris Rn. 16). Insgesamt muss der Vortrag, insbesondere zu den in die eigene Sphäre fallenden Ereignissen, aber geeignet sein, den Schutzanspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11). Die Verpflichtung zur Anerkennung eines Asylsuchenden setzt nämlich voraus, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des von ihm behaupteten individuellen Schicksals erlangt hat, wenn es hierauf entscheidend ankommt (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.4.1985 – Az. 9 C 109/84 – juris Rn. 16).
Eine solche beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist nach Überzeugung des Gerichts weder im Hinblick auf Geschehnisse im Zusammenhang mit den Taliban gegeben (1.1) noch im Hinblick darauf, dass der Kläger der Volksgruppe der Hazara angehört (1.2). Vor diesem Hintergrund kann die Frage nach einer internen Schutzmöglichkeit i.S.d. § 3e AsylG offenbleiben.
1.1 Soweit sich der Kläger hier auf Geschehnisse beruft, die im Zusammenhang mit seinen Brüdern stehen, vermögen diese die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht zu rechtfertigen.
Die Tatsache, dass zwei Brüder des Klägers einer gegen die Taliban kämpfenden Bürgerwehr angehört haben sollen und der Kläger die letzten zwei Jahre vor seiner Flucht bei diesen Brüdern gelebt haben will, vermag für sich genommen die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht begründen. Zwar geht aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln hervor, dass für Familienangehörige von (hochrangigen) Personen, die mit der Regierung verbunden sind oder diese unterstützen, wie z.B. Offiziere, Geheimdienstmitarbeiter u.ä., die beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese als Vergeltungsmaßnahmen und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft von der Taliban angegriffen und entführt oder getötet werden. Dass die beiden Brüder des Klägers eine derartige exponierte Stellung innegehabt haben sollen, ist für das Gericht jedoch nicht ersichtlich, und seitens des Klägers ist auch nichts Derartiges vorgetragen. Dem Kläger verhilft auch sein erstmals im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 9. Januar 2020 erfolgter Vortrag bzw. das in diesem Zusammenhang vorgelegte Bestätigungsschreiben der Dorfbewohner nicht zum Erfolg. Insbesondere hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung als (weiteren) Grund für seine Verfolgung durch die Taliban nunmehr vorgebracht, dass einer seiner Brüder im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Bürgerwehr bei einem Kampf den Sohn eines Taliban-Gouverneurs getötet habe und dieser Gouverneur bzw. die Taliban sich nun auch an dem Kläger als Angehörigen rächen wollten. Zudem sei er auch in einem Kurzfilm der Taliban (jedenfalls im Jahr 2017) auf einer deren Facebook-Seiten zu sehen gewesen. Diesen Vortrag bzw. das vorgelegte Bestätigungsschreiben weist das Gericht gemäß § 87b Abs. 3 Satz 1 VwGO in Ausübung des ihm eröffneten Präklusionsermessens zurück; selbst bei Berücksichtigung des neuen Vorbringens würde sich keine andere Entscheidung in der Sache ergeben.
Der Bevollmächtigte des Klägers ist mit Schreiben des Gerichts vom 16. Dezember 2019 gemäß § 87b Abs. 2 VwGO aufgefordert worden, bis zum 2. Januar 2020 etwaige weitere Tatsachen und Beweismittel zu benennen und vorzulegen, auf die er sich zur Begründung der Klage stützen will. Mit dieser Aufforderung ist ein Hinweis auf die sich aus § 87b Abs. 3 VwGO ergebenden Rechtsfolgen verbunden worden. Der nun in der mündlichen Verhandlung vom 9. Januar 2020 erstmals erfolgte Vortrag ist verspätet. Tragfähige Gründe, weshalb es dem Kläger nicht möglich gewesen wäre, diesen Vortrag rechtzeitig anzubringen, sind nicht erkennbar. Auch würde die Zulassung dieses Vortrags und des vorgelegten Beweismittels nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern (§ 87b Abs. 3 Nr. 1 VwGO). Insbesondere wäre die Echtheit des Bestätigungsschreibens der Dorfbewohner – welches dem Gericht bislang auch nur in Kopie und nicht in deutscher Sprache vorliegt – bzw. jedenfalls die inhaltliche Richtigkeit noch zu verifizieren. Ob es tatsächlich Fotos oder ein Video des Klägers auf einer Facebook-Seite der Taliban gibt oder gab, ist für das Gericht ebenfalls nicht ohne Verzögerung verifizierbar. Der Kläger konnte hierzu jedenfalls weder Nachweise wie z.B. einen Screenshot vorlegen, noch konnte er dem Gericht eine Internetadresse oder andere diesen Vortrag bestätigende Tatsachen benennen, die es dem Gericht ermöglicht hätten, die Angaben des Klägers kurzfristig zu prüfen.
Unabhängig davon würde selbst die Berücksichtigung des erstmals in der mündlichen Verhandlung erfolgten Vortrags nicht zu einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen. Der Kläger hat die von ihm geltend gemachte Verfolgung bereits nicht hinreichend glaubhaft gemacht, so dass das Gericht nach den oben genannten Maßstäben nicht von der Wahrheit des Vortrags überzeugt ist. Indem der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung – also etwa drei Jahre nach der Anhörung beim Bundesamt bzw. nach Klageerhebung – vorgetragen hat, seine Verfolgung durch die Taliban gründe (nunmehr) darin, dass einer seiner Brüder den Sohn eines Taliban-Gouverneurs getötet habe und man sich deshalb auch an ihm als Angehörigen rächen wolle, hat er sein Vorbringen erheblich gesteigert. Bei seiner Anhörung beim Bundesamt hat der Kläger noch vorgetragen, die Taliban würden ihn suchen, weil er – noch bevor er überhaupt mit seinen Brüdern zusammengelebt habe – aus deren zweiwöchiger Gefangenschaft geflohen sei. Der in der mündlichen Verhandlung erfolgte Vortrag ist mithin nicht nur als Konkretisierung seiner ursprünglichen Tatsachenschilderung zu verstehen. Vielmehr hat er die zu seiner Verfolgung vorgebrachten Umstände vollständig ausgewechselt. Zu den Gründen hierfür hat sich der Kläger nicht schlüssig erklärt.
Ähnlich verhält es sich mit den Angaben des Klägers zu den Fotos bzw. Videoszenen, die die Taliban von ihm haben sollen. So gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, dass die Taliban im Besitz von Fotos von ihm seien, die ihn auch mit Kämpfern der Bürgerwehr zeigen würden und die die Taliban für die Suche nach dem Kläger benutzen würden. Nach dem Angriff der Taliban auf die Bürgerwehr im Ramadan 2015 seien die Handys der getöteten Soldaten, auf denen sich diese Fotos befunden haben sollen, in die Hände der Taliban gelangt. Bei der Anhörung beim Bundesamt hatte der Kläger hingegen noch vorgetragen, die Taliban hätten bereits in der Zeit, als er sich noch bei seinen Brüdern aufgehalten habe – also Jahre oder wenigstens Monate vor dem tödlichen Angriff auf die Brüder – seine ehemaligen Nachbarn unter Vorlage von Fotos, die den Kläger zeigten, nach seinem Aufenthaltsort gefragt. Auch hierzu hat der Kläger sich zu dem Widerspruch in seinem Vorbringen nicht schlüssig erklärt.
Widersprüche, die zudem die Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen, finden sich schließlich auch beim Vortrag zum Tod der Brüder. Nachdem der Kläger – wie aus dem Ambulanzbericht des Klinikum … vom 10. März 2016 hervorgeht – gegenüber den dort seine psychischen Beschwerden behandelnden Ärzten noch angegeben hat, dass er bei der Ermordung seiner Brüder anwesend gewesen sei, hat er später bei der Anhörung beim Bundesamt wie auch in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass die Brüder von dem bevorstehenden Angriff der Taliban gewusst haben, sie ihn deshalb nach J fortgeschickt hätten und er (so jedenfalls bei der Anhörung durch das Bundesamt) erst zehn Tage später erfahren habe, dass seine Brüder getötet worden seien. Auch für diesen Widerspruch liegt dem Gericht keine Erklärung vor.
Das Gericht gelangt auch nicht aufgrund des vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bestätigungsschreibens der Dorfbewohner zu einer anderen Bewertung. Offen bleiben kann, ob – mit Blick auf den gerichtsbekannten Umstand, dass in Afghanistan in erheblichem Umfang echte Dokumente unwahren Inhalts existieren (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019, S. 33) – ein in einem Asylverfahren vorgelegtes Dokument aus Afghanistan überhaupt einen glaubhaften Vortrag stützen kann. Jedenfalls dann, wenn ein Vortrag nicht glaubhaft oder in sich unstimmig ist oder das Dokument zum Vortrag (wenn auch nur teilweise) widersprüchlich ist, kann einem solchen Dokument kein Beweiswert zukommen (vgl. VG Saarlandes, U.v. 6.2. 2019 – 5 K 179/17 – juris Rn. 34). Dies ist hier der Fall.
Nach der Übersetzung des Dolmetschers in der mündlichen Verhandlung wird in dem Schreiben (ohne Datumsangabe an vorgesehener Stelle) nicht nur bestätigt, dass das Leben des Klägers in Gefahr sei, da die Taliban im Dorf nach ihm suchen würden, sondern auch dass der Kläger zwei Jahre lang Dienst im Tal von M W  geleistet habe. Selbst wenn hiermit eine aktive Teilnahme an der Bürgerwehr gemeint sein sollte, ist zu berücksichtigen, dass der Kläger weder beim Bundesamt noch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, dass er – anders als seine Brüder – jemals überhaupt Mitglied der Bürgerwehr gewesen sei bzw. mit dieser gekämpft habe. In der mündlichen Verhandlung hat er lediglich vorgetragen, an Schießübungen der Bürgerwehr teilgenommen zu haben. Das Bestätigungsschreiben ist mithin, versteht man den Passus „Dienst im Tal von M W geleistet habe“ überhaupt im oben verstandenen Sinn, auf Umstände gerichtet, die der Kläger selbst nicht vorgebracht hat und dem Gericht auch im Übrigen nicht ersichtlich sind. Eine abweichende Risikobewertung für den Kläger ergibt sich auch nicht aus den von ihm bei seiner Anhörung beim Bundesamt im Dezember 2016 geschilderten Vorfluchtereignissen, wonach die Taliban ihn vor etwa drei Jahren – also im Jahr 2013 – von zu Hause mitgenommen und ihn zwei Wochen, bis ihm die Flucht gelungen sei, festgehalten, ihm Verletzungen an der rechten Oberlippe, auf der linken Kopfseite, an seinem Gesäß und an seinen Zähnen zugefügt hätten. Völlig unklar bleibt schon, was der Grund für die Entführung des Klägers gewesen sein soll. Eine persönliche Feindschaft mit Mitgliedern der Taliban, Landstreitigkeiten o. ä. sind weder vorgetragen noch für das Gericht ersichtlich. Die Schilderungen des Klägers zu seiner Entführung durch die Taliban, den Geschehnissen dort und seiner Flucht wirken ohnehin insgesamt vage und detailarm, so dass das Gericht nicht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des klägerseits behaupteten Schicksals erlangt hat.
Soweit die Entführung auf eine Zwangsrekrutierung des Klägers abgezielt haben sollte – der Vortrag des Klägers ähnelt nämlich dem vieler anderer Flüchtlinge, wonach die Taliban sie von zu Hause entführt und durch sukzessive Gewaltanwendung veranlassen wollen, für sie zu kämpfen oder zu spionieren – stellt sich die Lage aus den Erkenntnismitteln so dar, dass für die Taliban (jedenfalls gegenwärtig) grundsätzlich keine Notwendigkeit besteht, auf eine Zwangsrekrutierung zurückzugreifen, weil sie über eine ausreichende Zahl von Freiwilligen verfügen. Ursächlich hierfür sind einerseits die demographische Situation in Afghanistan, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht älter als 19 Jahre ist, und andererseits die wirtschaftliche und berufliche Perspektivlosigkeit, der junge Menschen dort ausgesetzt sind. Daneben werden die hohe Akzeptanz und der für die Taliban unverzichtbare Rückhalt in der lokalen Bevölkerung als Ursachen dafür genannt, weshalb es nur selten zu Zwangsrekrutierungen kommt. Soweit verschiedene Quellen von Zwangsrekrutierungen Minderjähriger und junger Erwachsenen berichten, haben sich diese in Flüchtlingscamps bzw. in Regionen, die sich unter vollständiger Kontrolle der Taliban befunden haben, ereignet (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, S. 59 ff.; im Folgenden: UNHCR August 2018, S.). Da die Provinz Wardak bzw. der Distrikt Hisa-l-Awali Bihsud bzw. der Distrikt central Bihsud, in der der Kläger beheimatet ist, nach den Erkenntnismitteln des Gerichts gerade nicht unter der tatsächlichen Kontrolle der Taliban steht, wäre die Gefahr einer Zwangsrekrutierung des Klägers bei einer Rückkehr insofern auch mit Blick darauf, dass seit dem Vorfall bereits mehr als sechs Jahre vergangen und der Kläger zwischenzeitlich nicht mehr minderjährig ist, ohnehin nicht beachtlich wahrscheinlich.
1.2 Die klägerseits aufgeworfene Frage, ob die Minderheit der Hazara in Afghanistan einer Gefährdung unterliegt, die die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertig, ist bereits mehrfach obergerichtlich entschieden und verneint worden (vgl. VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 68 ff.; BayVGH, B.v. 14.8.2017 – 13a ZB 17.30807 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 1.12.2015 – 13a ZB 15.30224 – juris Rn. 4). Zwar wird berichtet, dass die Hazara – diese machen etwa 10% der Bevölkerung Afghanistans aus – auch weiterhin gesellschaftlich diskriminiert und gezielt durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, körperliche Misshandlung und Inhaftierung erpresst und schikaniert werden (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, S. 106 f.; im Folgenden: UNHCR August 2018, S.). Es fehlt aber an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 68, 76 ff.). Auch unter Berücksichtigung der aktuellen Auskunftslage ergibt sich keine andere rechtliche Bewertung. Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amts hat sich die Situation der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 2.9.2019, S. 10), vornehmlich aufgrund von Bildung. So wird insbesondere auch berichtet, dass die Hazara in Kabul zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen gehören und sich – trotz weiterhin bestehender gesellschaftlicher Spannungen – in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert hätten (vgl. Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung 29. Juni 2018, S. 306 f. M.w.N). Die in den Lageberichten geschilderten Überfälle auf schiitische Einrichtungen in Kabul und anderen Städten des Landes zeigen diese latenten Spannungen zwischen IS und Hazara, führen aber in ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung nicht zur Annahme einer für Hazara gesteigerten Leibes- und Lebensgefahr, die jeden zurückkehrenden Hazara treffen würde (vgl. auch VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 47 ff.).
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Es wurden keine stichhaltigen Gründe für die Annahme eines ihm in seinem Herkunftsland drohenden, ernsthaften Schadens vorgebracht.
2.1 So ist weder etwas dafür vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dem Kläger im Fall der Rückkehr nach Afghanistan die Todesstrafe drohen würde (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
Ähnlich verhält es sich auch mit einer drohenden Folter bzw. unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Eine Zuerkennung des subsidiären Schutzes unter dem Gesichtspunkt einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der schlechten humanitären Situation in Afghanistan in Betracht. Selbst wenn eine solche anzunehmen wäre, könnte dies dennoch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes vermitteln, da es insoweit an einem erforderlichen Akteur i.S.d. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG fehlen würde, von dem die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Klägers ausgehen müsste (vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 54 ff.). Die humanitären Verhältnisse in Afghanistan beruhen gerade auf einer Vielzahl von Faktoren, zu denen die allgemeine wirtschaftliche Lage, Umweltbedingungen wie Klima und Naturkatastrophen ebenso wie die Sicherheitslage gehören. Es ist jedenfalls nicht feststellbar, dass der afghanische Staat, die in Afghanistan aktiven internationalen Streitkräfte oder ein sonstiger (nichtstaatlicher) Akteur die maßgebliche Verantwortung tragen. Insbesondere ist nicht feststellbar, dass die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten würde (vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 176; OVG NRW, U.v. 13.6.2019 – 13 A 3741/18.A – juris Rn. 71).
2.2 Die vom Kläger vorgebrachten Gründe sind auch nicht ausreichend für die Annahme eines ihm in Afghanistan drohenden ernsthaften Schadens i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Voraussetzung hierfür wäre, dass sich die von einem bewaffneten Konflikt in der Zielregion für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende allgemeine Gefahr in der Person des Klägers derart verdichtet, dass sie für diesen eine individuelle Bedrohungssituation darstellt.
In der Person des Klägers sind jedoch keine gefahrerhöhende persönliche Umstände erkennbar (wie etwa der berufsbedingten Nähe zu einer Gefahrenquelle z.B. als Arzt oder Journalist oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten von Verfolgung bedrohten Religion), die eine solche individuelle Bedrohung in erster Linie hervorrufen könnten.
Zudem hat sich vorliegend die allgemeine Gefahrenlage nicht derart besonders verdichtet (Gefahrendichte), dass der den bewaffneten Konflikt – einen solchen hier unterstellt – kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau (Gewaltniveau) erreicht hätte, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein, was ausnahmsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes unabhängig von individuellen gefahrerhöhenden Umständen begründen könnte (vgl. zu den Voraussetzungen einer individuellen Bedrohungssituation EuGH, U.v. 17.2.2009 – Rs. C 465/07 (Elgafaji) – juris, Rn. 35 und 39 und U.v. 30.1.2014 – Rs. C 285/12 (Diakité) – juris, Rn. 30; BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 32 und U.v. vom 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris, Rn. 18 ff.). Zur Beurteilung, ob eine derartige Gefahrendichte vorliegt, ist neben einer quantitativen Ermittlung der verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (sog. Gewaltniveau; vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/13 – juris Rn. 22 und 10 C 11.10 – juris Rn. 20, wonach, bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres, eine Wahrscheinlichkeit von 1:800 bzw. 1:1.000 weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, entfernt ist) auch eine wertende Gesamtbetrachtung notwendig (zum Ganzen vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f.).
Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt (vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 100). Abzustellen ist danach vorrangig auf die Provinz W, da der Kläger bei einer freiwilligen Ausreise wohl in erster Linie dorthin zurückkehren würde.
Für die Region W besteht jedoch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger dort einer ernsthaften individuellen Bedrohung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt ist. Das Gericht schließt sich auch diesbezüglich vollumfänglich der obergerichtlichen Rechtsprechung an. So geht insbesondere der Bayerische Verwaltungsgerichtshof weiterhin davon aus, dass für keine Region Afghanistans die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegen (vgl. U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris Rn. 43 ff.). Auch unter Berücksichtigung von Erkenntnismitteln neueren Datums ergibt sich nichts anderes: Bei einer Einwohnerzahl der Provinz W von geschätzt 616 Tausend und 83 zivilen Opfern (42 Tote und 41 Verletzte) im gesamten Jahr 2017 lag die Wahrscheinlichkeit, in diesem Zeitraum ein ziviles Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, bei 0,013% (vgl. zum Zahlenmaterial Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, Gesamtaktualisierung Juni 2018, S. 73 ff.). Damit ist in dieser Provinz eine Gefahrendichte zu konstatieren, die ganz erheblich unter dem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als indiziell für die Annahme der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer erheblichen individuellen Gefährdung anerkannten statistischen Auslösewert des Tötungs- und Verletzungsrisikos von 1:800 bzw. 0,125% liegt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/13 – juris; BayVGH, B.v. 11.12.2017 – 13a ZB 17.31374 – juris Rn. 7). Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2.9.2019, S. 20 ff.) hat sich die Bedrohungslage für Zivilisten in jüngster Zeit nicht wesentlich verändert. Auch aus dem Annual Report 2018 von UNAMA (vgl. Tabelle aus S. 67) ergibt sich nichts Abweichendes; die Zahl der zivilen Opfer ist in der Region im Gesamtjahr 2018 im Vergleich zum Jahr 2017 zwar stark gestiegen (+ 170%). Das Risiko, als Angehöriger der Zivilbevölkerung verletzt oder getötet zu werden, liegt dennoch immer noch im Promillebereich. Selbst unter Einrechnung eines gewissen „Sicherheitszuschlages“ wäre die kritische Gefahrendichte keinesfalls erreicht. Damit ist auch derzeit nicht davon auszugehen, dass (bei Unterstellung eines bewaffneten Konflikts) praktisch jede Zivilperson schon allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften Bedrohung für Leib und Leben infolge militärischer Gewalt ausgesetzt wäre.
Letztlich ergibt sich auch unter qualitativen Gesichtspunkten nicht, dass sich die allgemeine Gefahr in der Provinz W derart verdichtet hätte, dass eine erhebliche individuelle Gefahr bzw. Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen wäre. Eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für den Kläger allein aufgrund seiner Anwesenheit in der Provinz W ist selbst unter Berücksichtigung, dass ein großer Bevölkerungsanteil aufgrund kriegsbedingter Bedrohungen psychisch erkrankt sein dürfte (Stahlmann, Gutachten 2018, S. 184 f.), jedenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich.
Soweit Frau S. abweichend hiervon vertritt, es bestehe allein aufgrund der Anwesenheit in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet die Gefahr, einen ernsthaften Schaden hinsichtlich des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit zu erleiden (vgl. Gutachten zu Afghanistan an das VG Wiesbaden vom 28. März 2018, S. 9), handelt es sich um eine allein dem erkennenden Gericht vorbehaltene rechtliche Würdigung, der auch keine Indizwirkung zukommen kann. Die von ihr darüber hinaus geschilderten Tatsachen betreffen weit überwiegend Umstände, die allein bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu würdigen waren, die sich hier jedoch aufgrund der – gemessen an der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – verhältnismäßig niedrigen Opferzahlen unter keinen Umständen auswirken können (vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 153).
Im Übrigen geht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletze (vgl. z.B. EGMR, U.v. 11.7.2017 – S.M.A./Netherlands, Nr. 46051/13 – Rn. 53). Auch aus dem, dem Gericht vorliegenden zusätzlichen Erkenntnismaterial mit neuerem Datum lässt sich nichts dafür entnehmen, dass hier zwischenzeitlich eine andere Einschätzung zur Sicherheitslage geboten wäre.
3. Nach alledem ist die Klage vollumfänglich mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben