Verwaltungsrecht

Zuerkennung subsidiären Schutzes wegen Tätigkeit für in Afghanistan stationierte Ausländer

Aktenzeichen  B 6 K 16.31991

Datum:
11.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 147052
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4

 

Leitsatz

1. Der Personenkreis, der unmittelbar oder nur mittelbar für in Afghanistan stationierte Ausländer tätig ist, lässt sich nicht im Sinne einer bestimmten sozialen Gruppe iSd § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG beschreiben und abgrenzen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Unter der Prämisse, dass die Verhältnisse in Afghanistan als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt iSd § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG zu qualifizieren sind, droht einem afghanischen Staatsangehörigen aufgrund seiner Beschäftigung bei einem für Ausländer tätigen Transportunternehmen in einer verantwortungsvollen und wichtigen Position, die ihn nachhaltig ins Visier einer regierungsfeindlichen Konfliktpartei geraten lassen hat, dort ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens infolge willkürlicher Gewalt. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheides vom 21.12.2016 verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte jeweils zur Hälfte.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet, soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt hat, weil die Ablehnung seines Asylantrages (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG) insoweit rechtmäßig und der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist. Gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO ist jedoch unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheides vom 21.12.2016 die Verpflichtung der Beklagten auszusprechen, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, weil die Ablehnung seines Asylantrages (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG) insoweit rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist.
Aufgrund des schlüssigen, widerspruchsfreien und glaubhaften Vorbringens des Klägers in der mündlichen Verhandlung und der von ihm vorgelegten Dokumente (Arbeitspapiere, Drohbriefe, Anzeige) steht zur Überzeugung des Gerichts folgender Sachverhalt fest:
– Der Vater des Klägers ist schon seit vielen Jahren Offizier bei der afghanischen Nationalarmee.
– Der Bruder des Klägers arbeitet bei der afghanischen Sicherheitsbehörde (staatlicher Geheimdienst).
– Der Kläger selbst arbeitete neben seinem Studium vom 27.12.2013 bis 16.09.2015 bei einem privaten, staatlich zertifizierten afghanischen Transportunternehmen, das für die Amerikaner tätig war. Die Aufgabe des Klägers bestand in der administrativen Abwicklung der Transporte einschließlich der Begleitung der Konvois.
– Wegen dieser Tätigkeit erhielt der Kläger zunächst zwei Drohanrufe von den Taliban.
– Dann erhielt der Vater des Klägers zwei Drohbriefe. Im zweiten Drohbrief werden er selbst und seine beiden Söhne, der Kläger und sein Bruder, wegen ihrer Tätigkeit für den afghanischen Staat bzw. für in Afghanistan stationierte Ausländer mit dem Tod bedroht. Dieser Brief wurde verfasst, obwohl der Kläger seine Tätigkeit bei dem Transportunternehmen bereits aufgegeben hatte.
– Dem Vater des Klägers und seinem Bruder als Staatsbediensteten wurde staatlicher Personenschutz gewährt, nicht hingegen dem Kläger.
Dieser Sachverhalt rechtfertigt nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, weil die Verfolgung des Klägers durch die Taliban nicht an seine Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpft. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemessen an diesen Kriterien lässt sich der Personenkreis, der – unmittelbar oder, wie der Kläger, nur mittelbar – für in Afghanistan stationierte Ausländer tätig ist, nicht im Sinne einer bestimmten sozialen Gruppe beschreiben und abgrenzen.
Der festgestellte Sachverhalt rechtfertigt aber die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG unter anderem Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung sowie eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Gemäß § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c und § 3d AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG, d.h. insbesondere wirksam und nicht nur vorübergehend, Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Gemäß § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens nicht ausgesetzt ist oder Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Unter der Prämisse, dass die Verhältnisse in Afghanistan als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu qualifizieren sind, droht dem Kläger dort ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen dieses Konflikts. Die erforderliche Individualisierung der Gefahr resultiert aus den besonderen Lebensumständen des Klägers. Durch seine Beschäftigung bei einem für Ausländer tätigen Transportunternehmen in einer durchaus verantwortungsvollen und wichtigen Position ist er nachhaltig ins Visier einer regierungsfeindlichen Konfliktpartei geraten. Erschwerend kommt hinzu, dass auch sein Vater und sein Bruder als Staatsbedienstete von dieser Konfliktpartei wegen „Landesverrats“ (zweiter Drohbrief) mit dem Tode bedroht werden. Unter diesen Umständen besteht tatsächlich die Gefahr, dass eine Rückkehr des Klägers – auch nach zweijähriger Abwesenheit – nicht unbemerkt bleibt und die Drohung noch in die Tat umgesetzt wird. Ferner vermitteln die Drohbriefe den Eindruck einer Organisation, deren Strukturen es ermöglichen, den Kläger auch in anderen Landesteilen Afghanistans aufzuspüren. Seine Furcht, im Falle einer Rückkehr getötet zu werden, wo auch immer er sich niederließe, erscheint daher begründet.
Verneint man für Afghanistan einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt, stellt die dem Kläger drohende Ermordung jedenfalls einen ernsthaften Schaden in Gestalt einer unmenschlichen Behandlung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar.
Wird dem Kläger subsidiärer Schutz zuerkannt, kann gemäß § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG davon abgesehen werden festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen. Ferner ist die Abschiebungsandrohung aufzuheben, weil ihr Erlass gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a AsylG voraussetzt, dass dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird. Damit erübrigt sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 ZPO.


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