Verwaltungsrecht

Zuerkennung subsidiären Schutzes

Aktenzeichen  B 6 K 17.30075

Datum:
19.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 48387
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3b, § 3c, § 4
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1 u. Abs. 5 S. 1
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheides vom 29.12.2016 verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte jeweils zur Hälfte.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet, soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt hat, weil die Ablehnung seines Asylantrages insoweit rechtmäßig und der Kläger dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist. Gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO ist jedoch unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheides vom 29.12.2016 die Verpflichtung der Beklagten auszusprechen, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, weil die Ablehnung seines Asylantrages insoweit rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist.
Aufgrund des glaubhaften Vorbringens des Klägers, das durch die vorgelegten Dokumente (Fotos, Zertifikate, Dienstausweis) untermauert wurde, steht zur Überzeugung des Gerichts Folgendes fest:
Der Kläger war – zunächst als Angestellter der Firma …, eines speziell afghanischen Zweiges der Firma … mit Sitz in Dubai, und anschließend als selbständiger Lieferant von Baustoffen und Lebensmitteln an diese Firma – letztendlich für die amerikanischen Streitkräfte tätig. Wegen dieser Tätigkeit wurde er zweimal von den Taliban entführt. Das erste Mal konnte er fliehen, das zweite Mal wurde er gegen Lösegeld freigelassen. Obwohl sein Vater, sein Schwager und zwei weitere Männer aus seinem Heimatdorf den Taliban die Erklärung unterzeichnet hatten, nach seiner Freilassung werde der Kläger nicht mehr für die amerikanischen Streitkräfte arbeiten, setzte dieser seine selbständige Tätigkeit für die Firma … und damit für die amerikanischen Streitkräfte fort. Erst als die Taliban den Kläger aus diesem Grund zuhause bei seiner Familie suchten und er ihrem Zugriff nur knapp entgangen war, erkannte er den Ernst der Lage und verließ Afghanistan.
Dieser Sachverhalt rechtfertigt nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, weil nicht ersichtlich ist, dass die Verfolgung des Klägers durch die Taliban an seine Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpft, auch wenn man § 3b Abs. 2 AsylG berücksichtigt, wonach es bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich ist, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemessen an diesen Kriterien lässt sich der Kreis der Personen, die für die in Afghanistan stationierten ausländischen Streitkräfte tätig sind, nicht im Sinne einer bestimmten sozialen Gruppe beschreiben und abgrenzen.
Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Allein der Umstand, dass der Kläger auch nach zwei Entführungen durch die Taliban seine Tätigkeit für die amerikanischen Streitkräfte nicht eingestellt hat, lässt noch nicht auf eine bestimmte (talibanfeindliche) politische Überzeugung schließen. Der Antwort des Klägers auf die Frage seines Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung, warum er trotz der Bedrohungen immer weiter gearbeitet habe, vermochte das erkennende Gericht nur zu entnehmen, dass der Kläger laufende Verträge erfüllen und seinen Geschäftspartner nicht im Stich lassen wollte. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Taliban den Kläger wegen einer zugeschriebenen politischen Überzeugung verfolgt haben. Vielmehr scheint es sich so zu verhalten, dass den Taliban jede Tätigkeit für die ausländischen Streitkräfte ein Dorn im Auge ist, unabhängig davon, aus welcher Motivation heraus sie ausgeübt wird.
Der festgestellte Sachverhalt rechtfertigt jedoch die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG unter anderem Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Gemäß § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c und § 3d AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgehen von dem Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG, d.h. insbesondere wirksam und nicht nur vorübergehend, Schutz vor einem ernsthaften Schaden zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3). Gemäß § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens nicht ausgesetzt ist oder Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (interner Schutz). Dieser Zumutbarkeitsmaßstab („vernünftigerweise erwartet werden kann“) geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, Rn. 20, juris). Gemäß § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG bzw. § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG sind bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU (EU-Qualifikations-RL) zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Es spricht einiges dafür, dass die danach zu berücksichtigenden allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftslandes – oberhalb der Schwelle des Existenzminimums – auch den Zumutbarkeitsmaßstab prägen (BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 – 10 C 11/07, Rn. 35, juris).
Gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Beweiserleichterung in Gestalt einer widerleglichen gesetzlichen Vermutung greift nur dann ein, wenn ein innerer Zusammenhang zwischen der Vorverfolgung bzw. Vorschädigung und der befürchteten künftigen Verfolgung bzw. dem befürchteten künftigen Schaden besteht (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 – 10 C 4/09, Rn. 27 und 31, juris; Urteil vom 17.11.2011 – 10 C 13/10, Rn. 21, juris).
Gemessen daran ist der Kläger subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Das Gericht hält es für beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger, nachdem er wiederholt die Warnungen der Taliban und auch die von den vier „Bürgen“ abgegebene Erklärung ignoriert hat, nunmehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht, wenn die Taliban seiner habhaft werden sollten. Ferner sieht es das Gericht aufgrund der aktuellen Auskunftslage als erwiesen an, dass der afghanische Staat nicht in der Lage ist, einer Person, die aufgrund ihrer Tätigkeit für die ausländischen Streitkräfte in den Fokus der Taliban geraten ist, effektiv und dauerhaft Schutz vor einem solchen ernsthaften Schaden zu bieten (§ 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3c Nr. 3 AsylG). Der Umstand, dass der Kläger zweimal von den Taliban entführt und zuletzt zuhause von ihnen gesucht wurde, rechtfertigt die Annahme, dass er bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz … tatsächlich Gefahr läuft, erneut in Gefangenschaft zu geraten und einer unmenschlichen Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt zu werden (Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU). Interner Schutz gemäß § 4 Abs. 3 in Verbindung mit § 3e Abs. 1 AsylG steht dem Kläger bei dieser Sachlage nicht zur Verfügung, auch nicht in der Provinz …, wo die Familie des Klägers jetzt lebt. Angesichts des besonderen Interesses, das die Taliban an dem Kläger gezeigt haben, muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass sie ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan, in welcher Provinz auch immer, aufspüren.
Wird dem Kläger subsidiärer Schutz zuerkannt, ist die Abschiebungsandrohung aufzuheben, weil ihr Erlass gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a AsylG voraussetzt, dass dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird. Damit erübrigt sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 ZPO.


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